Direkt zum Inhalt

Wirtschaft und Arbeitsmarkt Berlins: Gelingt der Sprung von der Start-up-City zur Wachstumsmetropole?

Pressemitteilung vom 20. Juli 2016

Umfassende Berlin-Studie über Arbeitsmarkt, Gründungen und öffentliche Investitionen zeigt Chancen auf und gibt Handlungsempfehlungen – Ergebnis: Gutes Potential, aber Produktivitätsschwäche und geringe Innovationskraft – Berlin braucht schnell wachsende Unternehmen

Hat Berlin die Trendwende geschafft? Nach einer langen Phase der Stagnation liegt die Stadt auf einem stabilen Wachstumskurs. Wirtschaftsleistung, Beschäftigung und Bevölkerung steigen seit Jahren überdurchschnittlich, die Arbeitslosigkeit sinkt nach und nach. Allerdings liegt sie noch immer über dem Bundesdurchschnitt, zudem tritt die Stadt bei der Produktivität und damit verbunden bei den Einkommen auf der Stelle. „Berlin ist in Europa die einzige Hauptstadt, deren Produktivität und Pro-Kopf-Einkommen unter dem Landesdurchschnitt liegt“, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). „Berlin ist in den vergangenen Jahren aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Es könnten goldene Jahrzehnte vor Berlin liegen – die Politik muss die Weichen aber richtig stellen, um das enorme Potential der Stadt besser zu nutzen.“ Dafür sind eine ganze Reihe an Maßnahmen nötig, wie der DIW-Regionalökonom Martin Gornig betont: „Unter anderem müssen die Wachstumsbedingungen für junge Unternehmen verbessert, das Fachkräftepotential im mittleren Ausbildungsbereich gestärkt und vor allem die anstehenden Infrastrukturausbauten realisiert werden.“ Diese und weitere Handlungsempfehlungen gehen aus mehreren Studien des DIW Berlin zur Wirtschaft und zum Arbeitsmarkt Berlins hervor, in deren Rahmen DIW-Wissenschaftler insbesondere die Bereiche Arbeitsmarkt, Gründungen und öffentliche Investitionen unter die Lupe genommen haben.

Trotz Beschäftigungsaufbau hohe Arbeitslosigkeit

In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen in Berlin um 290.000 und damit stärker als im gesamten Bundesgebiet gestiegen. Der weit überwiegende Teil davon ging auf das Konto sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Obwohl die Arbeitslosigkeit von 19 auf knapp zehn Prozent gesunken ist, liegt sie noch weit über dem Bundesdurchschnitt. An Bedeutung gewonnen haben Tätigkeiten mit mittlerer Qualifikation, während sich die Arbeitslosigkeit mehr und mehr zu den Geringqualifizierten verschiebt, wie der Bericht des DIW-Arbeitsmarktexperten Karl Brenke zeigt.

Der starke Beschäftigungsaufbau ging jedoch mit einem besonders schwachen Produktivitätswachstum einher. Die Wirtschaftsleistung eines Erwerbstätigen ist in Berlin etwa fünf Prozent niedriger als im Bundesdurchschnitt. Dies dürfte auch eine der Ursachen dafür sein, dass Berlin bei den Löhnen hartnäckig zurückliegt. „Die schwache Produktivitätsentwicklung führt uns auch die unzureichende Innovationsfähigkeit in vielen, wenn auch nicht allen Wirtschaftsbereichen vor Augen“, sagt Brenke. „Diese Innovationsschwäche verhindert, dass Berlin bei der Wirtschaftskraft und bei den Erwerbseinkommen einen Platz einnimmt, der einer Hauptstadt angemessen wäre.“

Insgesamt weist Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern ein hohes Qualifikationsniveau auf. Schwachpunkte des Berliner Arbeitsmarktes sind dagegen die vielen Geringqualifizierten, der hohe Anteil von Jugendlichen ohne Schulabschluss und der gravierende Lehrstellenmangel. Erforderlich wäre demnach ein Bündnis für Bildung, in dessen Rahmen Unternehmen rascher als vorgesehen ein hinreichendes Angebot an Lehrstellen zusagen und der Senat sich im Gegenzug verpflichtet, die allgemeinbildenden Schulen sowohl leistungs- und berufsorientierter auszurichten als auch umgehend den dort herrschenden Investitionsstau aufzulösen.

Trotz Gründungsboom zu wenig schnell wachsende Unternehmen

Rund 16 Prozent der Erwerbstätigen in Berlin sind selbständig tätig – das sind deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt (zehn Prozent), wie die Analyse von DIW-Forschungsdirektor Alexander Kritikos zeigt. Darüber hinaus verzeichnet Berlin zwar überdurchschnittlich viele innovative Gründungen und liegt hier etwa gleichauf mit anderen Metropolen wie München und Hamburg. Es fehlen jedoch, so Kritikos, schnell wachsende Unternehmen, um die Produktivität und damit auch das Einkommensniveau zu steigern. Entscheidend dafür ist daher das Wachstum der bereits in Berlin ansässigen, jungen Unternehmen. Berlin hat durch seine Gründungdynamik eine hervorragende Ausgangssituation. Gerade der Übergang von der Gründung in die Wachstumsphase bedarf jedoch besserer Rahmenbedingungen. Berlin muss für junge, innovative Unternehmen durch ein aktives Standortmarketing attraktiver werden. So sollten hochwertige Gewerbe- und Industrieflächen bereitgestellt und administrative Verfahren serviceorientiert verbessert und beschleunigt werden. Gezielte Kooperationen etwa mit dem High-Tech-Gründerfonds könnten die Beschaffung von Risikokapital erleichtern, die sich vor allem für auf Vorleistungen spezialisierte Unternehmen (B2B) als schwierig erweist.

Daneben sollte der Forschungsstandort Berlin insbesondere im IT-Bereich weiter gestärkt werden, beispielsweise durch die Einrichtung zusätzlicher Professuren. Wichtig ist dabei auch eine bessere Vernetzung zwischen Forschung und schnell wachsenden Unternehmen außerhalb der Technologiezentren. Nicht zuletzt ist die Gewinnung von qualifiziertem Personal ein wichtiger Standortfaktor, der durch die Beschleunigung von Visa-Verfahren und regelmäßige Jobmessen deutlich verbessert werden könnte. „Gerade schnell wachsende Unternehmen bevorzugen außerdem Standorte mit schnellen, unbürokratischen Prozessen. Das Land Berlin sollte daher in Zukunft noch sehr viel mehr dafür tun, die Geschwindigkeit und die Form der Umsetzung aller unternehmensrelevanten administrativen Abläufe entscheidend zu verbessern“, so Kritikos. 

Trotz Haushaltsüberschüssen Investitionsstau

Die Investitionstätigkeit Berlins zeigt ein gemischtes Bild. Einerseits wurde über viele Jahre hinweg im Zuge der Haushaltskonsolidierung zu wenig in die Infrastruktur investiert. Andererseits ergaben sich erstmals finanzielle Spielräume durch Haushaltsüberschüsse der Jahre 2014 und 2015, die in das Sondervermögen Infrastruktur der Wachsenden Stadt (SIWA) geflossen sind. Insgesamt investieren Berlin und seine öffentlichen Unternehmen mit 807 Euro pro Einwohner (im Jahr 2014) zu wenig in die Infrastruktur (Hamburg: 1.220 Euro). Das zeigt der Beitrag von Felix Arnold, Johannes Brinkmann, Maximilian Brill und Ronny Freier.

Am dringlichsten ist der Investitionsbedarf in den Schulen, wo der Investitionsstau fast dreimal so hoch ist wie in den anderen Bundesländern. Wegen des Bevölkerungswachstums müsste zudem der ÖPNV stärker modernisiert und ausgebaut werden, auch Verhandlungen mit der Initiative für den Volksentscheid Fahrrad könnten bei einem zukunftsfähigen Verkehrskonzept helfen. Entscheidend ist außerdem, dass Berlin sich wieder stärker im Wohnungsbau engagiert, um den angespannten Wohnungsmarkt zu entlasten.

Viele dieser Handlungsfelder hat die Berliner Politik bereits erkannt und aufgegriffen, auch stehen über das SIWA-Programm sogar finanzielle Mittel bereit. Allerdings mangelt es nach Ansicht der DIW-Ökonomen an der Umsetzung der Investitionspläne. „Die Verwaltung sollte reorganisiert werden. Nicht nur mehr Personal, auch die Umstellung auf die doppelte Haushaltsführung könnte helfen, Investitionsbedarfe besser zu erkennen und konsequent abzuarbeiten“, so Freier. Zudem könnten einzelne Verwaltungsbereiche entwe­der als Sondervermögen oder öffentliche Unterneh­men jeweils mit eigenem Personal und weitreichenden Durchgriffsrechten neu aufgestellt werden. Die Erfahrungen aus dem Hamburger Sondervermögen „Schulimmobilien“ zeigten die Möglichkeiten eines solchen Modells.

Links

keyboard_arrow_up