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Die deutsche Wiedervereinigung ist auch ein wirtschaftlicher Erfolg

Pressemitteilung vom 2. Oktober 2014

Trotz aller Fehler, Rückstände und Kosten – die deutsche Wiedervereinigung ist nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich ein Erfolg. „Zwar liegt Ostdeutschland in vielen Bereichen wie Wirtschaftsleistung, Produktivität, Einkommen und insbesondere Vermögen auch 25 Jahre nach dem Mauerfall deutlich hinter Westdeutschland zurück. Problematisch sind und waren aber vorrangig nicht die tatsächlichen Entwicklungen, sondern die von Beginn an unrealistischen Hoffnungen auf schnell blühende Landschaften“, urteilen die DIW-Forscher auf Grundlage einer umfassenden Studie. „Die erreichte Annäherung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse ist eine große ökonomische Leistung. Dass es nach 40 Jahren Planwirtschaft gelang, die ostdeutsche Wirtschaft neu zu erfinden und in relativ kurzer Zeit zu re-industrialisieren, ist in vielerlei Hinsicht erstaunlich.“ In einigen Bereichen, wie bei der Kinderbetreuung, den Renten oder der Erwerbsbeteiligung von Frauen, liegt der Osten vor dem Westen. Doch die übertriebenen Erwartungen wirken nach: Im Osten sind deutlich mehr Menschen unzufrieden mit ihrem Einkommen und ihrem Leben insgesamt. Die durchschnittliche Zufriedenheit in Ostdeutschland ist allerdings so hoch wie nie zuvor seit der Wende.

KURZ GESAGT

Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin: „Eine völlige Gleichheit von Wirtschafts- und Lebensverhältnissen aller Regionen eines Landes wird es nie geben. Unterschiede bestehen zwischen Nord- und Süddeutschland wie zwischen dem Westen und Osten des Landes, ebenso wie in anderen Ländern, etwa Italien, Spanien oder Frankreich. Die Wiedervereinigung und der Einfluss Ostdeutschlands haben der gesamten deutschen Wirtschaft zu mehr Dynamik verholfen.“

Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte: „Die Angleichung der wirtschaftlichen Entwicklung kommt nur langsam voran, in einigen Bereichen steht sie nach einer starken Anfangsphase seit Jahren still. Trotzdem ist die Entwicklung in vielen Bereichen beeindruckend. Dass etwa die Re-Industrialisierung des Ostens in relativ kurzer Zeit gelingen würde, war keineswegs wahrscheinlich.“

Markus Grabka, Verteilungsexperte: „Bei den Vermögen liegt der Osten noch deutlich hinter dem Westen. Aufgrund des insgesamt niedrigeren Lohn- und Einkommensniveaus und einer höheren Arbeitslosigkeit dürften die Möglichkeiten zur Vermögensbildung im Osten auch weiterhin schlechter sein als im Westen.“

Elke Holst, Gender-Expertin: „Die Befürchtungen, dass ostdeutsche Frauen ihre Erwerbstätigkeit auf das Niveau der westdeutschen Frauen reduzieren würden, haben sich nicht realisiert. Heute liegt die Erwerbsquote der ostdeutschen Frauen bei gut 75 Prozent, die der westdeutschen ist auf mehr als 70 Prozent gestiegen.“

Anika Rasner, Renten-Expertin: „Westdeutsche Frauen sind zwar häufiger erwerbstätig als früher, allerdings weiterhin in Beschäftigungsverhältnissen, die vergleichsweise geringe Rentenanwartschaften begründen. Vor allem lange Phasen in Teilzeitbeschäftigung oder Minijobs lassen die Renten auch in Zukunft nicht substantiell wachsen.“

Pia Schober, Familien- und Bildungsexpertin: „25 Jahre nach der Wiedervereinigung werden Kinder unter drei Jahren in Ostdeutschland immer noch deutlich häufiger in Kitas betreut als in Westdeutschland. Im Zuge des Kita-Ausbaus der letzten Jahre nahmen die sozioökonomischen Unterschiede in der Nutzung innerhalb beider Landesteile jedoch in ähnlicher Weise zu. Dies ist bemerkenswert, da man in einem deutlich stärker ausgebauten System mit längerer Tradition der Müttererwerbstätigkeit geringere sozioökonomische Unterschiede erwarten könnte."

Jürgen Schupp, Direktor des Sozio-oekonomischen Panels: „Die deutsche Wiedervereinigung ist nicht nur ein wirtschaftlicher Erfolg. Nachdem die großen Hoffnungen auf rasch blühende Landschaften zunächst stark getrübt wurden, sind die Menschen in den neuen Bundesländern heutzutage so zufrieden wie noch nie. Der Unterschied der Lebenszufriedenheit zwischen West- und Ostdeutschland ist kontinuierlich geschrumpft und beträgt heute nur noch einen Bruchteil des Wertes nach der Wiedervereinigung. Kurzum: Mehr Lebensqualität in ganz Deutschland.“

Gert Wagner, Vorstandsmitglied des DIW Berlin: „Die deutsche Vereinigung war auch eine wissenschaftlich aufregende Sache. Es ist weltweit einmalig, dass ein Transformationsprozess wie der in Ostdeutschland mit Hilfe einer Wiederholungsbefragung bei immer wieder denselben Menschen – dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) –  im Detail beobachtet werden konnte. Uns gelang es mit Hilfe unseres Partners TNS Infratest Sozialforschung bereits im Juni 1990 – unmittelbar vor der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion – die erste Erhebung bei über 4 000 Personen in Ostdeutschland durchzuführen.“

Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls hat das DIW Berlin den Wandel der Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen in Ost- und Westdeutschland seit der Wende umfassend analysiert und die Entwicklung der Wirtschaft, Einkommens- und Vermögensverhältnisse, der Erwerbsbeteiligung und Renten, Kinderbetreuung und Zufriedenheit nachgezeichnet.

Dabei zeigt sich: In vielen Bereichen kommt der Aufholprozess Ostdeutschlands nur noch langsam voran. Zwar wuchs die Wirtschaftsleistung pro Kopf lange Zeit im Osten schneller als im Westen. Immer noch liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Westen jedoch deutlich höher. Der Osten erreicht 71 Prozent des westdeutschen Niveaus. Die Produktivität pro Erwerbstätigen beträgt im Osten etwa 79 Prozent des Westniveaus. Überraschend gut gelungen ist hingegen die Re-Industrialisierung des Ostens: Beim Anteil der Industrie an der gesamten Bruttowertschöpfung liegt Ostdeutschland heute zwar hinter dem Westen, aber mittlerweile im Durchschnitt der Europäischen Union, vor Frankreich, Spanien und Großbritannien.

Die Arbeitslosigkeit bleibt in Ostdeutschland weiter höher als im Westen. Zwar sinkt sie, zum Teil jedoch aufgrund der Bevölkerungsentwicklung. Im Schnitt erzielen Ostdeutsche etwa 83 Prozent des durchschnittlichen verfügbaren Einkommens der Westdeutschen. Bei den Vermögen ist der Abstand deutlich größer: Das durchschnittliche Nettovermögen in Ostdeutschland stieg zwar seit 1993 um drei Viertel und damit deutlich stärker als im Westen, wo der Zuwachs rund ein Fünftel betrug. Nach neuesten Zahlen von 2013 erreichen die ostdeutschen Haushalte aber nur etwa 44 Prozent des Vermögens der Westdeutschen. Während ein westdeutscher Haushalt im Durchschnitt etwa 153 200 Euro Vermögen besitzt, können ostdeutsche Haushalte nur auf 67 400 Euro zurückgreifen.

Bei der Erwerbsquote von Frauen liegt der Osten auch heute mit rund 75 Prozent vor dem Westen, wo sie auf mehr als 70 Prozent gestiegen ist. Ostdeutsche Frauen in Teilzeit arbeiten mit durchschnittlich fast 28 Wochenstunden jedoch deutlich mehr als westdeutsche (etwa 22 Stunden). Weil immer mehr Frauen in Ost und West in Teilzeit arbeiten, gewinnt in beiden Teilen das sogenannte modernisierte Ernährermodell (Mann Vollzeit/Frau Teilzeit) an Bedeutung. In Westdeutschland verdrängt es das Alleinernährermodell (Vater Alleinverdiener), im Osten das Egalitätsmodell mit zwei Vollzeitbeschäftigten.

Durch die höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen werden die Rentenanwartschaften der ostdeutschen Frauen auch in Zukunft höher ausfallen als die der westdeutschen. Sie liegen allerdings deutlich unter denen der ostdeutschen Männer. Dieser geschlechtsspezifische Abstand verringert sich in Ostdeutschland – allerdings nicht, weil die Rentenanwartschaften der Frauen steigen, sondern weil die der Männer sinken. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen war in der DDR auch höher, weil viele Plätze in der Kindertagesbetreuung verfügbar waren. Auch heute nutzen immer noch mehr Mütter im Osten Kitas für ihre Kinder unter drei Jahren als im Westen, während informelle Betreuung innerhalb beider Landesteile etwa gleich häufig ist. Im Rahmen des Kita-Ausbaus der letzten Jahre haben insbesondere hochqualifizierte und alleinerziehende Mütter diese Betreuungsform verstärkt genutzt, was zu einem Anstieg der sozioökonomischen Unterschiede innerhalb beider Landesteile geführt hat.

Deutliche Unterschiede zwischen Ost und West zeigen sich bei der Zufriedenheit der Menschen. So sind etwa im Osten deutlich mehr Menschen unzufrieden mit ihrem Lohn (44 Prozent) als im Westen (rund jeder Dritte). Auch mit ihrem Leben insgesamt sind die Menschen im Osten weniger zufrieden als im Westen. Allerdings gibt es Lebensbereiche, wo die Zufriedenheit in Ost- und Westdeutschland inzwischen im Durchschnitt gleich ist: so die Zufriedenheit mit der Wohnung, mit der Freizeit und bei den Erwerbstätigen mit ihrer Arbeit.

Die Grundlage für viele dieser Analysen ist die Längsschnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), die das DIW Berlin bereits vor der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion im Juni 1990 auf die DDR ausweitete.

Links

DIW-Wochenbericht 40/2014 (PDF, 2.46 MB)

DIW-Wochenbericht 40/2014 als E-Book (EPUB, 5.91 MB)

Interview mit Karl Brenke (Print (PDF, 123.07 KB) und

O-Ton von Karl Brenke
Ostdeutschland muss auf Bildung und Innovation setzen - Sechs Fragen an Karl Brenke

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