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Arbeitsprogramm der neuen Großen Koalition: DIW Berlin sieht in vielen Bereichen Nachbesserungsbedarf

Pressemitteilung vom 31. Januar 2018

In wichtigen Bereichen wie Steuerpolitik, Bildung und Energie muss die zukünftige Große Koalition deutlich ambitionierter sein – Reformbedarf in Deutschland wird unzureichend angepackt

Deutschlands nächste Regierung wird höchstwahrscheinlich erneut eine Große Koalition. Die Ergebnisse der Sondierungen zwischen Unionsparteien und SPD, die als Basis für die gegenwärtigen Verhandlungen dienen, adressieren den großen Reformbedarf in Deutschland aber nur unzureichend. Das ist das Fazit mehrerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). „Es gibt bei den Sondierungsergebnissen gute Ansätze, aber zu Europa, in der Steuerpolitik, in der Bildung, bei den Investitionen und auch in anderen Bereichen fehlt es an Visionen und Ambitionen“, fasst DIW-Präsident Marcel Fratzscher zusammen. „Die Koalitionsverhandlungen sollten mehr als nur ein Absegnen der erreichten Einigung bringen. Sie sollten dafür genutzt werden, an vielen Stellen nachzubessern. Deutschland mag es wirtschaftlich gut gehen, aber das Land braucht dringend Reformen. Gerade jetzt ist die Zeit, sie anzustoßen, um nicht weitere vier Jahre zu verschenken.“

Zu einzelnen Handlungsfeldern äußern sich DIW-Forscherinnen und -Forscher wie folgt:

Steuern: „Um geringe Einkommen zu entlasten, müssen indirekte Steuern gesenkt werden“

 „Die Steuerpolitik ist eines der wenigen Felder, in denen Union und SPD politisch weit auseinanderliegen. Dementsprechend wenig ambitioniert fallen in diesem Bereich die Sondierungsergebnisse aus. An Steuerentlastungen ist nur ein Abbau des Solidaritätszuschlags ab 2020/21 vorgesehen, was überwiegend Besserverdienenden zugutekommt. Für stärkere Entlastungen geringer und mittlerer Einkommen müsste man indirekte Steuern senken, beispielsweise die Mehrwertsteuer, oder die Sozialbeiträge gezielter reduzieren. Dazu fehlt das Geld, da man die Überschüsse vorrangig für Ausgabenprogramme verwenden will. Bei den Sozialbeiträgen werden die ArbeitnehmerInnen moderat entlastet, die Rückkehr zur Parität der Krankenversicherungsbeiträge belastet aber die Arbeitgeber. Der Groko 3.0 fehlt zudem eine klare Vision, die Staatsfinanzen langfristig zukunftsfähig zu machen. Sobald die Zinsen wieder steigen, werden sich die Überschüsse schnell zurückbilden“, sagt Steuerexperte Stefan Bach, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Staat.

Rente: „Ohne Stärkung der privaten Vorsorge kann das Rentenniveau nicht glaubwürdig garantiert werden“ 

„Im Rentenbereich sehe ich bei den Sondierungsergebnissen an mehreren Stellen Nachbesserungsbedarf. Die Rolle der privaten Vorsorge, vor allem für Menschen mit geringen Einkommen, muss präzisiert werden. Damit diese Säule ihre Rolle bei der Alterssicherung angemessen spielt, muss die aktuell freiwillige private Vorsorge gestärkt und vielleicht sogar Pflicht werden. Ohne eine Neudefinition dieser Säule kann das Rentenniveau nicht glaubwürdig garantiert werden. Die Vorschläge zur Bekämpfung von Altersarmut sind nicht ausreichend. Die vorgeschlagene Grundrente schafft mit viel bürokratischem Aufwand eine neue Form von Sozialhilfe für eine kleine Gruppe älterer Menschen: Die wenigsten dürften die notwendigen 35 Beitragsjahre vorweisen können und trotzdem bedürftig sein. Stattdessen kann man mit weniger Aufwand die Freibetragsregelungen bei der Grundsicherung erweitern und die GRV gezielt für Geringverdienende stärken. Um Altersarmut langfristig vorzubeugen, muss auch an anderer Stelle angesetzt werden: Bei besseren Chancen während der Erwerbszeit“, sagt Rentenexperte Johannes Geyer, stellvertretender Leiter der Abteilung Staat.

Gleichstellung von Frauen und Männern: „Ehegattensplitting schafft die falschen Anreize und muss reformiert werden“

 „Im Sondierungspapier wird das Ziel der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zwar erwähnt, aber ein zentraler Aspekt, das Steuersystem, bei dieser Frage außer Acht gelassen. Das Ehegattensplitting, vor allem in Kombination mit Mini-Job-Regelungen, schafft negative Anreize für Frauen, mehr und länger zu arbeiten, und sollte reformiert werden. Hier wäre eine Individualbesteuerung mit übertragbarem Grundfreibetrag ein vielversprechender Ansatz. Ein weiterer Ansatzpunkt für mehr Gleichstellung zwischen Frauen und Männern ist eine Verstärkung der Partnerschaftskomponenten bei Familienleistungen, beispielsweise eine Verlängerung der Partner-Monate beim Elterngeld“, äußert sich Katharina Wrohlich, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Gender Studies.

Bildung und Familie: „Bundesbeteiligung und Qualität der Bildungseinrichtungen müssen noch stärker in den Vordergrund rücken“

 „Begrüßenswert ist, dass die Koalitionäre Familien stärken und gleiche Bildungschancen für alle schaffen wollen. Die vereinbarte Kindergelderhöhung ist allerdings nicht zielführend: Sie ist teuer und bringt wenig. Die Beschlüsse enthalten auch gute Ansätze, zum Beispiel die Einführung eines Rechtanspruchs auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Aber hier, genau wie beim Ausbau der frühkindlichen Bildung, reicht Quantität nicht aus, sondern muss die Qualität der Angebote noch stärker in den Vordergrund rücken. Alles in allem ist in diesem Bereich ein größeres Engagement des Bundes gefragt, sowohl im Bereich der Qualitätsregulierung, damit Deutschland in dieser Hinsicht kein Flickenteppich mehr ist, als auch bei der Finanzierung. Ich rate dringend davon ab, Kitas für alle Kinder flächendeckend gebührenfrei zu machen. Vielmehr könnte der Bund verbindlich regeln, dass die Gebührenstaffelung überall progressiver wird. Auch sollte das Kooperationsverbot in diesen Bereichen zumindest gelockert werden“, sagt C. Katharina Spieß, Leiterin der Abteilung Bildung und Familie.

Energie: „Der Kohleausstieg muss jetzt eingeleitet werden und bis 2030 abgeschlossen sein“

 „Die Koalitionäre bekennen sich zwar zu den Klimazielen und zum Ausbau der erneuerbaren Energien und wollen schrittweise den Kohleausstieg einleiten, die Beschlüsse zur Energiepolitik sind aber insgesamt zu halbherzig. Ich vermisse Anreize für einen gezielten Ausbau der Erneuerbaren, also für einen lastnahen Zubau samt optimiertem Lastmanagement und dezentraler Smart Grids sowie für zusätzliche Speicher. Zudem sind mir die Absprachen in Sachen Kohleausstieg zu zaghaft: Der Kohleausstieg muss jetzt eingeleitet und bis 2030 abgeschlossen sein. Energiesparmaßnahmen sollen forciert und die nachhaltige Verkehrswende inklusive Elektromobilitätsquote und Erhöhung der Dieselsteuer durchgeführt werden“, kommentiert Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt. 

Digitalisierung: „Klug gestaltete regulatorische Rahmenbedingungen statt staatliche Finanzierung um jeden Preis“

„In Sachen Digitalisierung strotzen die Sondierungsergebnisse vor guten Absichten, vom Ausbau der Infrastruktur bis zur umfassenden Digitalisierung der Verwaltung. Das Ziel eines flächendeckenden Ausbaus von Gigabit-Netzen bis zum Jahr 2025 ist sicherlich wichtig, aber zu pauschal formuliert. Es sollte nur dort investiert werden, wo der künftige ökonomische Nutzen die Kosten übersteigt. Subventionen für den Netzausbau sollen zudem laut Sondierungspapier an die Glasfasertechnologie gebunden werden, womit das Prinzip der Technologieneutralität verletzt wird. So kann nicht sichergestellt werden, dass sich die beste Lösung durchsetzt. Staatliche Subventionen führen darüber hinaus in aller Regel zu Mitnahmeeffekten und damit zu Kosten, die bei klug gestalteten regulatorischen Rahmenbedingungen vermieden werden könnten. Die Vision eines Staates 4.0 ist ansprechend, leider fehlt aber ein konkreter Plan, wie man dahingelangen soll. Insbesondere sind die Kompetenzen zwischen Bund und Kommunen nicht klar definiert“, so Tomaso Duso, Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte.

Investitionen: „Investitionsschwäche in der Industrie und bei den Kommunen muss angegangen werden“

 „Deutschland leidet seit Jahren an einer ausgeprägten Investitionsschwäche. Um dies zu adressieren, ist den Koalitionären nicht viel eingefallen. Eine investitionsorientierte Unternehmenssteuerreform kann aber bei den privaten Investitionen einen wichtigen Impuls liefern: Unternehmen, die in Deutschland investieren, sollen weniger Steuern zahlen als solche, die nicht investieren. Umsetzen lässt sich das durch Änderungen bei den Abschreibungsregeln. Es können entweder die steuerlich anzusetzende Nutzungsdauer verringert oder degressive Abschreibungssätze eingeführt werden. So würden vor allem für die Industrie Anreize geschaffen, in die Zukunft des Produktionsstandortes Deutschland zu investieren. Der Investitionsschwäche bei den Kommunen ließe sich durch die Einführung einer Gemeinschaftsaufgabe ´Kommunale Investitionen´ entgegenwirken. Ähnlich der vorhandenen Gemeinschaftsaufgabe ´Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur´ könnten hier Bund und Ländern verfassungskonform gezielt Investitionsprojekte in klammen Gemeinden anstoßen“, sagt Martin Gornig, Forschungsdirektor Industriepolitik.

Wohnen: „Reform der Grundsteuer könnte mehr Bauland verfügbar machen und Not auf dem Wohnungsmarkt lindern“

 „Die Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt werden für die nächste Bundesregierung nicht kleiner werden – ganz im Gegenteil: Nach wie vor steigen die Mieten in Ballungszentren und vielen großen Städten kräftig, weil Wohnraum immer knapper wird. Unsere jüngste Prognose zeigt, dass der Neubauboom auf dem Wohnungsmarkt in den nächsten Jahren zu Ende gehen wird, was die Lage noch verschärfen dürfte. Es greift viel zu kurz, den daraus resultierenden steigenden Mieten nur mit einer Mietpreisbremse begegnen zu wollen. Bestenfalls kann die Politik damit Zeit erkaufen, um das Problem endlich an der Wurzel zu packen. Dazu zählt, die Rahmenbedingungen für einen verstärkten Neubau von Wohnungen zu verbessern. Vor allem die Kommunen sind gefragt, mehr Flächen als Bauland auszuweisen und Brachen zu aktivieren. Ein möglicher Hebel dafür wäre eine durchdachte Reform der Grundsteuer: Würde statt des Gebäudewerts ein hypothetischer Bodenwert besteuert, errechnet aus den möglichen Nutzungserträgen einer Bebauung, entstünden daraus sehr wahrscheinlich Anreize für Investorinnen und Investoren, Grundstücke nicht mehr ungenutzt liegen zu lassen, sondern mehr Wohnungen zu bauen. Zudem muss der Fokus verstärkt auf bereits erschlossene Grundstücke gerichtet werden, wo man bestehende Gebäude aufstocken oder Hinterhöfe bebauen könnte. Dies könnte eine neue Bundesregierung mit einem Zuschussprogramm zur Stärkung des Eigenkapitals der Investorinnen und Investoren unterstützen“, so Immobilienökonom Claus Michelsen, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Konjunkturpolitik.

Europa: „Die neue Bundesregierung muss schnell die Initiative ergreifen für eine umfassende Reform Europas“ 

„Die Sondierungsergebnisse räumen Europa einen großen Stellenwert ein. Das ist ein erfreuliches Zeichen, muss aber mehr als ein Lippenbekenntnis sein. Unmittelbar nach der Regierungsbildung muss Berlin die ausgestreckte Hand aus Paris ergreifen und sich aktiv und konstruktiv in einen Reformprozess des Euroraums und der EU einbringen, der sowohl dem Wunsch vieler Mitgliedsländer nach mehr Risikoteilung als auch den deutschen Bestrebungen nach mehr Marktdisziplin gerecht wird. Dafür ist es höchste Zeit, denn Europas Wirtschaft ist noch fragil und die Währungsunion anfällig für Krisen. Für eine umfassende Reform liegen Vorschläge auf dem Tisch, unter anderem für eine neue Ausgabenregel, die das Maastricht-Defizitkriterium ersetzen würde. Wichtig ist bei dem Reformprozess, dass die Bundesregierung anderen gegenüber nicht belehrend auftritt, anders als es in der Vergangenheit oft der Fall war“, sagt DIW-Präsident Marcel Fratzscher.

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