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Man muss nicht nehmen, um zu geben

Medienbeitrag vom 3. April 2017

Die politischen Lager geraten immer tiefer in den Streit um Verteilungsfragen. Darum sollte es in der Debatte um soziale Ungleichheit nicht gehen, es zählt etwas anderes.

Soziale Ungleichheit ist zur zentralen Frage des politischen Wettstreits geworden. Zu kaum einem anderen Thema gehen die Meinungen momentan so weit auseinander: Der Kampf um Verteilungsfragen wird wieder intensiv geführt. Das eine Lager will die sozial Schwächsten stärken, das andere die Leistungsträger belohnen. Die Zerwürfnisse verlaufen dabei auch innerhalb der Parteien und scheinen unüberbrückbar. Beide Seiten sind jedoch auf dem Irrweg. Und das, obwohl gemeinsame Lösungen leicht erreichbar wären.

Vor allen an den politischen Rändern, also links, aber auch rechts vertritt man die Auffassung, dass die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zutiefst ungerecht ist. Hier fordert man mehr Umverteilung, vor allem durch höhere Steuern und mehr Transferleistungen für einkommensschwache Menschen. Die andere Seite – eher in der Mitte des politischen Spektrums angesiedelt – hält dagegen die Ungleichheit in Deutschland für nicht zu hoch oder für zu ungerecht. Sie will daher nicht mehr Umverteilung, sondern versteht den deutschen Sozialstaat als stark und leistungsfähig genug, um eine soziale Absicherung zu gewährleisten. 

Beide Seiten liegen falsch. Die soziale Ungleichheit in Deutschland ist in der Tat zu hoch. Jedoch nicht, weil es zwingend ungerecht zugeht. Über Gerechtigkeit lässt sich ohnehin trefflich streiten. Nicht aber darüber, dass Ungleichheit einen signifikanten wirtschaftlichen und sozialen Schaden verursacht, da viele Menschen sich nicht ausreichend in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft einbringen können.

Gleichzeitig liegt die Lösung des Problems nicht in mehr Umverteilung über Steuern und Transfers. Denn der wichtigste Grund für die auch im internationalen Vergleich hohe Ungleichheit der Vermögen und Markteinkommen in Deutschland besteht eben nicht darin, dass der Sozialstaat zu klein oder ineffizient wäre. Die zentrale Ursache ist die geringe Chancengleichheit und soziale Mobilität in Deutschland. In kaum einem Land sind die Bildungs-, Arbeits- und Einkommenschancen so stark von der sozialen Herkunft abhängig.

Dies bedeutet, dass zu wenige Menschen die Möglichkeit erhalten, ihre Talente und Fähigkeiten durch eine gute Bildung und Ausbildung im Arbeitsmarkt ausreichend zu nutzen. Dadurch werden nicht nur diesen Menschen viele Chancen genommen, es entsteht auch ein Schaden für die gesamte Gesellschaft. Die Ursachen sind vielfältig und komplex, hängen aber vor allem mit einem Bildungssystem zusammen, das zu undurchlässig ist und diejenigen Kinder und Jugendliche zu wenig fördert, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind.

Deshalb kann (mehr) Umverteilung über Steuern und Transfers nie die Lösung des Ungleichheitsproblems in Deutschland sein: (mehr) Verteilungsgerechtigkeit wird nie die fehlende Chancengleichheit kompensieren können. Einem 35-jährigem Hartz-IV-Empfänger ist nicht in erster Linie durch einen Anstieg der Bezüge geholfen. Vielmehr bräuchte er reale Integrationschancen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel über eine passende und zielgerichtete Weiterbildung. Er wird in den meisten Fällen zu Recht mehr Chancen und nicht mehr Transferleistungen einfordern. Auch einer alleinerziehenden Mutter oder einem Vater ist nicht alleine durch mehr Geld geholfen, sondern vor allem durch eine deutlich bessere Qualität der Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur.

Der Sozialstaat kommt zunehmend an seine Grenzen, wenn viele Menschen immer stärker auf seine Leistungen angewiesen sind. In vielen Teilen Deutschlands besteht bei jedem dritten Haushalt  mindestens die Hälfte des Einkommens aus staatlichen Leistungen. Es steigt die Gefahr, in einen Teufelskreis zu geraten, wenn der Sozialstaat diese Bedürfnisse immer schlechter befriedigen kann. Oder anders ausgedrückt: Ist die Chancengleichheit zu gering, wird der Sozialstaat geschwächst, was wiederum die Verteilungsgerechtigkeit weiter sinken lässt. Ein starker und leistungsfähiger Sozialstaat hingegen ist einer, von denen nicht allzu viele Menschen abhängig sind, so dass er diejenigen besser erreichen kann, die auf seine Leistungen angewiesen sind.

Die soziale Ungleichheit in Deutschland ist ein ernstes wirtschaftliches, soziales und politisches Problem. Die Lösung liegt jedoch nicht in einem Verteilungskampf über Steuern und Transfers. Sondern die Politik sollte ihre Priorität und Anstrengungen auf mehr Chancengleichheit konzentrieren. Und die notwendigen Maßnahmen dazu sind nicht schwer zu begreifen: Eine massive Investitionsoffensive in ein leistungsfähigeres, inklusiveres und durchlässigeres Bildungssystem ist ein zentrales Element einer klugen Strategie, die mit allen politischen Interessen vereinbar sein sollte.

Dieser Beitrag ist am 31. März in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.

Themen: Verteilung

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