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Produktivität: Unterschiede zwischen Stadt und Land wichtiger als zwischen Ost und West

DIW Wochenbericht 43 / 2019, S. 793-799

Heike Belitz, Martin Gornig, Alexander Schiersch

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  • Osten hat große Teile seines Produktivitätsrückstands gegenüber dem Westen aufgeholt, Aufholprozess ist allerdings zuletzt ins Stocken geraten
  • In der Industrie beträgt der Rückstand bei der Totalen Faktorproduktivität rund 20 Prozent
  • Ländliche Prägung Ostdeutschlands ist eine wesentliche Ursache für verbleibendes Produktivitätsgefälle zwischen Ost und West
  • Stadt-Land-Gefälle erfordert deutschlandweite Investitionen in Infrastruktur der ländlichen Räume
  • Westdeutsche Industrie ist in verstädterten Regionen wesentlich produktiver, Clusterförderung könnte Potentiale in Ostdeutschland freisetzen

„Es gibt nach wie vor einen deutlichen Unterschied beim Produktivitätsniveau zwischen Ost und West. Allerdings ist dieser auch darauf zurückzuführen, dass der Osten ländlicher geprägt ist als der Westen. Dementsprechend sollten wir beim Thema Produktivität nicht nur über den Ost-West-Unterschied sprechen, sondern uns verstärkt dem Stadt-Land-Gefälle widmen.“ Alexander Schiersch, Studienautor

In Ostdeutschland ist die Produktivität nach der Vereinigung rasant gestiegen. In dem für die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zentralen Bereich der Industrie jedoch ist der Annäherungsprozess zu Westdeutschland seit der Finanz- und Wirtschaftskrise zum Erliegen gekommen. Die Lücke im Produktivitätsniveau zwischen Ost und West ist dabei immer noch beachtlich. Vergleicht man allerdings gleichartige Regionen in West und Ost, schmilzt diese Produktivitätslücke. Sowohl in ostdeutschen Großstädten als auch in ländlichen Regionen setzen Industrieunternehmen Arbeit und Kapital ähnlich effizient ein wie ihre Konkurrenten in vergleichbaren Westregionen. Deutlich zurück liegt das ostdeutsche Produktivitätsniveau jedoch im Vergleich von verstädterten Regionen. Deshalb sollten gerade diese Regionen im Osten durch eine Strategie des Ausbaus von Forschung und Infrastruktur gepaart mit Clusterbildungen gestärkt werden. Fortschritte in der Angleichung der Produktivität zwischen Ost- und Westdeutschland können zudem durch eine nachhaltige deutschlandweite Infrastrukturoffensive zur Erhöhung der Attraktivität und der Wachstumschancen des ländlichen Raumes erreicht werden. Weil der Osten stark ländlich strukturiert ist, würde er davon besonders profitieren.

Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer liegen rund 30 Jahre zurück. Dies wird zum Anlass genommen, in gesellschaftspolitischen Bereichen Bilanz zu ziehen. In der Diskussion um den Angleichungsprozess zwischen Ost- und Westdeutschland spielen ökonomische Faktoren eine große Rolle. Im Fokus stehen zumeist die wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen. Viele Studien beziehen sich daher insbesondere auf das Pro-Kopf-EinkommeninfoVgl. Martin T. Braml und Gabriel J. Felbermayr (2018): Regionale Ungleichheit in Deutschland und der EU: Was sagen die Daten? ifo Schnelldienst, 7, 36–49. oder die verfügbaren EinkommeninfoVgl. Clemens Fuest und Lea Immel (2019): Ein zunehmend gespaltenes Land? Regionale Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land sowie West- und Ostdeutschland. Ifo Schnelldienst, 16, 19–28..

Der vorliegende Beitrag stellt hingegen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen in den Vordergrund.infoDer vorliegende Beitrag stützt sich auf ein von der Bertelsmann Stiftung gefördertes Forschungsprojekt. Die Ergebnisse sind publiziert in Heike Belitz, Martin Gornig und Alexander Schiersch (2019): Produktivitätsentwicklung in Deutschland – Regionale und sektorale Heterogenität. Serie Produktivität für Inklusives Wachstum, Band 2, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. Unberücksichtigt bleiben also direkte staatliche Transfer- und Ausgleichszahlungen. Der zentrale Indikator für die ökonomische Leistungsfähigkeit ist die Produktivität.

Ausgangspunkt ist die Arbeitsproduktivität – das Verhältnis von Wertschöpfung zum Arbeitseinsatz. Darüber hinaus werden in der vorliegenden Studie regionale Unterschiede in der Totalen Faktorproduktivität (TFP) analysiert. Diese misst die Produktivität des gesamten Faktoreinsatzes (von Arbeit und Kapital).

Räumliche Entwicklungsprozesse verlaufen zunehmend heterogen. Ländliche Regionen drohen vielfach abgehängt zu werden, während städtische Räume oftmals als Innovationszentren gelten. Wenn also die Unterschiede in der ökonomischen Leistungsfähigkeit zwischen Ost- und Westdeutschland bewertet werden sollen, sind dabei vor allem siedlungsstrukturelle Unterschiede zu berücksichtigen.infoVgl. Michael Hüther, Jens Südekum und Michael Voigtländer (2019): Die Zukunft der Regionen in Deutschland – Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit. IW-Studien – Schriften zur Wirtschaftspolitik aus dem Institut der deutschen Wirtschaft, Köln. Entsprechend werden im Folgenden auch die räumlichen Differenzierungen innerhalb Ost- und Westdeutschlands betrachtet. Die Zuordnung zu städtischen, verstädterten und ländlichen Regionen erfolgt dabei auf der Basis der Systematisierungen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) nach Raumordnungsregionen.infoLaufende Raumbeobachtung des BBSR. Raumabgrenzungen, siedlungsstrukturelle Regionstypen. Für die genauen Definitionskriterien der im vorliegenden Bericht verglichenen Raumtypen vgl. Informationen auf der Website des BBSR (online verfügbar, abgerufen am 21. Oktober 2019. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt).

Aufholprozess bei der Arbeitsproduktivität ins Stocken geraten

Unmittelbar nach der Vereinigung kam es in Ostdeutschland zu einem starken Produktivitätssprung.infoVgl. Reint E. Gropp und Gerhard Heimpold (2019): Ostdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall. Erreichtes und wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf. Wirtschaftsdienst Nr. 7/2019, 471–482. Etwa ab der Jahrtausendwende setzte sich dann der Anpassungsprozess deutlich langsamer fort. Einen ersten Überblick zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität in den neuen und alten Bundesländern nach dem Jahr 2000 bieten die amtlichen Zahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Länder (VGRL).infoHier wird die Entwicklung der Arbeitsproduktivität im Zeitraum 2000 bis 2017 für Raumordnungsregionen unter Verwendung von Kreisdaten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Länder (VGRL) analysiert. Die Arbeitsproduktivität wird als Relation der realen Bruttowertschöpfung zu Preisen von 2010 zum Standard-Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen in Stunden berechnet. Ausgewiesen werden die ungewichteten Durchschnitte der Niveaus der Arbeitsproduktivität der Raumordnungsregionen in Ost- und Westdeutschland.

Die Arbeitsproduktivität in der gewerblichen WirtschaftinfoDie gewerbliche Wirtschaft umfasst die Bereiche Industrie, Bau sowie Handel und Dienstleistungen, hier auf Grund der statistischen Datengrundlage einschließlich der Finanz- und Versicherungsleistungen. in Ostdeutschland stieg, gemessen in Preisen von 2010, seit der Jahrtausendwende von knapp 26 auf 37 Euro pro Stunde im Jahr 2017. Die Produktivität wuchs fast kontinuierlich. Diese Entwicklung wurde nur durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise unterbrochen (Abbildung 1). Aber auch in Westdeutschland stieg die Produktivität, so dass die Lücke zwischen Ost und West nur langsam kleiner wurde. Die Stundenproduktivität lag im Jahr 2000 noch 35 Prozent unter dem westdeutschen Niveau, im Jahr 2017 waren es nur noch 25 Prozent. Dieser Aufholprozess verlief nicht kontinuierlich: Bereits zwischen 2002 und 2011 geriet er ins Stocken und ist seit 2015 erneut mehr oder weniger zum Stillstand gekommen. Seitdem verharrt die Relation von Ost zu West bei 75 Prozent. Somit hat die Produktivität im Osten drei Viertel des westdeutschen Niveaus erreicht.

Ähnlich entwickelte sich die Arbeitsproduktivität im industriellen Sektor. Dieser gilt sowohl im Osten als auch im Westen traditionell als Motor des Wachstums und der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. In diesem Teilbereich legte die Stundenproduktivität in Ostdeutschland etwas stärker zu als in der gewerblichen Wirtschaft insgesamt. Allerdings verzeichnete auch die westdeutsche Industrie starke Zuwächse, so dass sich die Lücke zwischen Ost und West im Zeitraum 2000 bis 2017 von 35 auf 29 Prozent um nur sechs Prozentpunkte verringerte (Abbildung 2). Dabei fällt auf, dass nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Produktivitätsrückstand der ostdeutschen Industrie größer wurde, bevor er ab 2013 wieder schrumpfte. Zuletzt kam der Aufholprozess jedoch wieder zum Stillstand.

Der genauere Blick auf die regionale Produktivitätsentwicklung in der Industrie offenbart, dass einige Regionen in der Lage waren, sich deutlich von den anderen abzusetzen (Abbildung 3). Im Jahre 2017 gab es bereits acht solcher Regionen mit außergewöhnlich hoher Arbeitsproduktivität, im Jahr 2000 war es lediglich eine. Sie können in Anlehnung an die aktuelle Diskussion um die Polarisierung der Firmenproduktivität als „Superstar-Regionen“ bezeichnet werden.infoIhre Arbeitsproduktivität liegt mehr als das 1,5-fache des Interquartilsabstands über dem dritten Quartil. Alle diese besonders produktiven Regionen befinden sich in Westdeutschland und sind zentrale Standorte industrieller Großunternehmen. Sechs „Superstar-Regionen“ sind großstädtische Regionen, an der Spitze stehen mit den Automobilstandorten Ingolstadt und Braunschweig allerdings auch zwei Raumordnungsregionen, die zu den verstädterten Regionen zählen.

Starke Stadt-Land-Unterschiede bei der Totalen Faktorproduktivität

Die Arbeitsproduktivität wird wesentlich durch die Kapitalintensität der Produktion bestimmt. Zudem werden Arbeits- und Kapitalproduktivität durch das generelle technologische Effizienzniveau beeinflusst (Kasten). Dieser auf beide Produktionsfaktoren wirkende Einfluss drückt sich in der Totalen Faktorproduktivität (TFP) aus, die keine unmittelbar beobachtbare Größe darstellt, sondern nur mithilfe ökonometrischer Verfahren geschätzt werden kann.infoIn der vorliegenden Untersuchung wurde hierfür ein struktureller Schätzansatz verwendet. Vgl. Daniel A. Ackerberg, Kevin Caves und Garth Frazer (2015): Identification properties of recent production function estimators. Econometrica, 83(6), 2411–2451. Als Datenbasis für die Berechnungen dienen die Unternehmensdaten der amtlichen Statistik, welche für den Zeitraum 2003 bis 2014 für Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes mit mehr als 20 Beschäftigten vorliegen.infoStatistische Ämter des Bundes und der Länder (2015): Metdatenreport AFiD-Panel Industrieunternehmen. Diese wurden um die auf Kreisebene vorliegenden Kennzahlen der BBSR zu den Raumtypen erweitert (Abbildung 4). Somit ist es möglich, die Produktivität der Industrieunternehmen in den städtischen, den verstädterten und den ländlichen Räumen Ost- und Westdeutschlands zu vergleichen.

Im Rahmen der mikroökonometrischen Untersuchungen wird eine Cobb-Douglas Produktionsfunktion geschätzt.

(1)

wobei Yit die Bruttowertschöpfung, Kit den physischen Kapitalstock, Lit den Arbeitseinsatz, Ωit die Totale Faktorproduktivität (TFP) sowie βl bzw. βk die Produktionselastizitäten der Faktoren Arbeit und Kapital bezeichnen. Die Indizes definieren das Unternehmen  i und den Beobachtungszeitpunkt t. Die TFP wird in der ökonomischen Literatur als Indikator für die technologische Leistungsfähigkeit bzw. die Gesamteffizienz des Faktoreinsatzes in der Produktion verwendet.

Unter der Annahme konstanter Skalenerträge summieren sich βl und βk zu 1 auf und Formel (1) kann wie folgt umgestellt werden:

(2)

wobei Yit/Lit die Arbeitsproduktivität und Kit/Lit die Kapitalintensität bezeichnen.

Während die TFP eine dimensionslose Kennzahl ist, misst die Arbeitsproduktivität den Ausstoß in Euro pro Kopf oder Euro je Arbeitsstunde. Aus diesem Grunde sind direkte Vergleiche zwischen beiden Kennzahlen nicht möglich. Die Formel (2) verdeutlicht den Zusammenhang zwischen beiden Produktivitätskennzahlen. Wenn die TFP um ein Prozent steigt, steigt auch die Arbeitsproduktivität um ein Prozent. Zugleich steigt die Arbeitsproduktivität aber auch, wenn die Kapitalintensität sich erhöht. Die Arbeitsproduktivität steigt daher durch eine Kapitalintensivierung der Produktion, ohne dass dafür die Gesamteffizienz der Produktion – die TFP – zunehmen muss.

Die Entwicklung der TFP in der Industrie unterscheidet sich in Ost und West ab dem Jahr 2003 (Abbildung 5) nur wenig von der zuvor dargestellten Entwicklung der Arbeitsproduktivität (Abbildung 2). Bis ins Jahr 2008 hinein ist die TFP sowohl im Osten als auch im Westen deutlich gestiegen. Dabei konnten ostdeutsche Unternehmen gegenüber dem Westen aufholen. Im Jahr 2008 erreichten sie etwa 79 Prozent des westdeutschen Niveaus. Seitdem stagniert der Aufholprozess jedoch.

Ein Grund für die noch immer deutlichen Produktivitätsdifferenzen sind die siedlungsstrukturellen Unterschiede zwischen beiden Landesteilen. Während die Hälfte der industriellen Bruttowertschöpfung in Westdeutschland in städtischen Regionen erzeugt wird und ländliche Regionen mit 15 Prozent nur einen sehr geringen Anteil daran haben, liegt der Schwerpunkt der industriellen Produktion in Ostdeutschland in ländlichen Regionen. Auf sie entfallen gut 40 Prozent der ostdeutschen Bruttowertschöpfung der Industrieunternehmen (Tabelle). Die ostdeutsche Industrie ist somit sehr stark durch den ländlichen Raum geprägt.

Tabelle: Bruttowertschöpfung der Industrie in Ost- und Westdeutschland 2017 nach Raumtypen

Anteile in Prozent

Städtische Räume Verstädterte Räume Ländliche Räume Insgesamt
Anteile der Regionstypen an der Bruttowertschöpfung der Industrie
Ostdeutschland 29,8 28,9 41,3 100,0
Westdeutschland 49,0 36,0 15,0 100,0
Anteil der Industrie an der regionalen Bruttowertschöpfung
Ostdeutschland 11,7 22,7 17,5 16,2
Westdeutschland 21,8 30,0 26,9 25,0

Quellen: VGRL; eigene Berechnungen.

Auch Agglomerationseffekte wirken auf die Produktivität der Unternehmen.infoVgl. Walter Isard (1956): Location and Space-Economy – A general Thoery Relating to Industrial Location, Market Areas, Land Use, Trade and Urban Structure. New York: John Wiley & Sons. sowie Edward L. Glaeser et al. (1992): Growth in Cities. Journal of Political Economy, 100(6), 1126–1152. Hierbei nennt die regionalökonomische Forschung zum einen den Urbanisationseffekt, der den positiven Einfluss von verdichteten Räumen auf die Produktivität beschreibt. Dieser ergibt sich unter anderem daraus, dass es in eng besiedelten Gegenden einen größeren und ausdifferenzierteren Arbeitsmarkt gibt, wodurch offene Stellen leichter mit den dafür geeigneten Fachkräften besetzt werden können. Darüber hinaus sind Agglomerationen häufig Ort der Wissensbildung und auch der Wissensweitergabe. Zum anderen beschreibt der Lokalisationseffekt Standortvorteile, die sich durch die Konzentration von Unternehmen ähnlicher Branchen und ihrer Zulieferer in einem Raum ergeben. Infolgedessen profitieren Unternehmen vom großen Arbeitskräftepotential mit den für die entsprechenden Industrien notwendigen Qualifikationen. Die große Konkurrenz auf engem Raum sorgt für höheren Innovationsdruck bei den einzelnen Unternehmen. Die räumliche Nähe sorgt aber auch dafür, dass Neuerungen schneller von den übrigen Unternehmen adaptiert werden können (Spillover-Effekt). Die empirische Forschung hat gezeigt, dass derartige Agglomerationseffekte die TFP positiv beeinflussen.infoVgl. Martin Gornig und Alexander Schiersch (2019): Agglomeration economies and firm TFP: different effects across industries. DIW Discussion Paper 1788 sowie Richard Harris und John Moffat (2015): Total Factor Productivity Growth in Local Enterprise Partnership Regions in Britain, 1997–2008. Regional Studies, 96(6), 1019–1041.

Entsprechend kann das Produktivitätsgefälle zwischen Ost und West differenzierter betrachtet werden, wenn nach siedlungsstrukturellen Charakteristika unterschieden wird. Im Jahre 2014 lag die durchschnittliche TFP der in den städtischen Regionen angesiedelten Industrieunternehmen rund 28 Prozent über dem Niveau der in den verstädterten Regio-nen beheimateten Unternehmen. Die mittlere Produktivität der Unternehmen mit Sitz im ländlichen Raum lag dagegen 18 Prozent unter dem Vergleichswert in den verstädterten Regionen.infoVgl. Belitz, Gornig und Schiersch (2019), a. a. O.

Deshalb wird hier ein Ost-West-Vergleich innerhalb derselben siedlungsstrukturellen Raumtypen durchgeführt. Damit werden sowohl die Unterschiede berücksichtigt, die sich aufgrund von Agglomerationseffekten ergeben, als auch die Unterschiede, die sich aus den abweichenden Wirtschaftsstrukturen in den Räumen ergeben.infoHierfür nehmen wir an, dass die Wirtschaftsstrukturen in den drei Raumkategorien Stadt, Verstädtert und Land in Ost- und West nicht fundamental voneinander abweichen.

Die Produktivität ostdeutscher Industrieunternehmen in städtischen Räumen liegt im Durchschnitt unter der in den westdeutschen städtischen Räumen (Abbildung 6). Allerdings ist der Abstand gering. Für den ländlich Raum findet sich, obschon auf niedrigerem Niveau, ein sehr ähnliches Bild: Die TFP der ostdeutschen Unternehmen liegt nur leicht unter dem westdeutschen Mittelwert.

Anders stellt sich die Situation in den verstädterten Räumen dar. Zwar gab es auch hier einen Aufholprozess bis etwa 2008. Doch die Unterschiede sind im Jahr 2014 noch erheblich und wesentlich größer als in den beiden übrigen Raumtypen. Beispiele für solche verstädterten Räume in Ostdeutschland sind die Raumordnungsregionen Halle/Saale, Mittelthüringen (Weimar) und Südsachsen (Chemnitz). In Westdeutschland zählen hierzu Braunschweig, Oldenburg, Ingolstadt oder der südliche Oberrhein (Freiburg). Der deutliche West-Ost-Unterschied in dieser Raumkategorie kann zumindest teilweise darauf zurückgeführt werden, dass westdeutsche verstädterte Räume häufiger starke Industriezentren beherbergen. Lokalisationsvorteile könnten hierdurch besser zum Tragen kommen.

Fazit: Industrie- und Infrastrukturpolitik gefordert

Die Produktivität ist nach der Vereinigung in Ostdeutschland rasant gestiegen, insbesondere die der Arbeitskräfte. Dies gelang auch, weil ein – in der Geschichte nahezu einmaliger – Kapitalzufluss stattfand.infoVgl. Michael Burda and Jenniffer Hunt (2001): From Reunification to Economic Integration: Productivity and the Labor Market in Eastern Germany. Brookings Papers on Economic Activity, 2. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 ist der Aufholprozess in der Industrie jedoch ins Stocken geraten. Zwar ist die Lücke im Produktivitätsniveau zwischen Ost und West immer noch beachtlich, allerdings relativiert die Einbeziehung regionalspezifischer Merkmale diese Feststellung stark. Es wird deutlich, dass das bestehende Gefälle unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass der Osten stärker ländlich geprägt ist als der Westen. Weiterhin fällt ins Auge, dass verstädterte Gebiete im Osten ihr wirtschaftliches Potential nicht im selben Maße ausnutzen, wie dies im Westen der Fall ist.

In Anbetracht dieser Erkenntnisse ergeben sich zwei konkrete Handlungsfelder. Ein Ansatzpunkt ist die Förderung der industriellen Entwicklung insbesondere in verstädterten Regionen Ostdeutschlands. Gefragt ist hier ein industriepolitischer Mix aus Innovations-, Investitions- und Gründungsförderung. In den verstädterten Regionen sollten die industriellen Potentiale möglichst gebündelt werden, um Lokalisationsvorteile zu nutzen. Strategien der dezentralen Konzentration von Forschung und Infrastruktur gepaart mit Clusterbildungen scheinen hier angebracht.infoVgl. Erik E Lehmann und Matthias Menter (2018): Public cluster policy and performance. Journal of Technology Transfer. Juni, 43(3), 558–592 sowie Uwe Cantner, Holger Graf und Susanne Hinzmann (2013): Policy Induced Innovation Networks: The Case of the German “Leading-Edge Cluster Competition”. In Thomas Scherngell (Hrsg.): The Geography of Networks and R&D Collaborations, 335–352.

An der grundlegenden Tatsache, dass es weniger große Städte und mehr ländliche Regionen in Ostdeutschland gibt, wird man nichts ändern können. 70 Jahre relativer Bevölkerungsverlust gegenüber Westdeutschland sind nicht einfach umkehrbar. Auch scheint es wenig erfolgversprechend, wenn Deutschland im internationalen Wettbewerb auf die Produktivitätsvorteile durch die räumliche Ballung wirtschaftlicher Aktivitäten verzichtet. Vielmehr gilt es, deutschlandweit dauerhaft einen besseren Ausgleich zwischen Stadt und Land zu organisieren und so die Entwicklungschancen des ländlichen Raumes zu verbessern. Dies wiederum schafft Potential, auch die Produktivität Ostdeutschlands insgesamt näher an den Westen heranzuführen.

Angesichts des verschärften Stadt-Land-Gegensatzes kann der traditionelle Finanzausgleich zwischen den Gebietskörperschaften allein jedoch die Ausgleichsaufgabe nicht schultern.infoVgl. Martin Junkernheinrich (2019): Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und Kommunalfinanzen. Wirtschaftsdienst (Jg. 99), Sonderheft Regionalpolitik neu denken, 36–43. Gefordert ist hier im Besonderen der Bund, um durch eine nachhaltige Infrastrukturoffensive die Attraktivität und Wachstumschancen des ländlichen Raumes zu stärken.infoVgl. Martin Gornig (2019): Infrastrukturinvestitionen statt Subventionen. Wirtschaftsdienst (Jahrgang 99), Sonderheft Regionalpolitik neu denken, 44–48 sowie Alexander Eck et al. (2015): Öffentliche Infrastrukturinvestitionen: Entwicklung, Bestimmungsfaktoren und Wachstumswirkungen. Ifo Dresden Studien 72, Dresden. Dabei geht es weniger darum, noch den letzten Feldweg zu asphaltieren, wie es in der Vergangenheit zu oft geschehen ist. Vielmehr muss vor allem eine moderne Kommunikationsinfrastruktur aufgebaut werden. Eine Industrie, die im digitalen Zeitalter wettbewerbsfähig ist, braucht eine leistungsfähige Breitbandinfrastruktur. Andernfalls werden Unternehmen nicht nur die Neuansiedlung im ländlichen Raum ausschließen. Auch bestehende Unternehmen sind benachteiligt und wandern irgendwann ab.

Alexander Schiersch

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Unternehmen und Märkte

Martin Gornig

Forschungsdirektor für Industriepolitik in der Abteilung Unternehmen und Märkte



JEL-Classification: D24;L60;R12
Keywords: Productivity, manufacturing, spatial analysis
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-43-3

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/206664

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