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Der Sozialstaat muss jetzt stark sein

Blog Marcel Fratzscher vom 5. Mai 2020

Die Lehre vergangener Krisen ist: Die Sicherung von Beschäftigung und ein starker Sozialstaat sind essenziell, damit die Einkommensungleichheit nicht wächst.

Wird die Corona-Krise die Einkommensungleichheit in Deutschland erhöhen? Diese Sorge treibt zurzeit viele um. Besonders Menschen mit geringen Einkommen und prekären Jobs leiden unter den einschränkenden Maßnahmen und der Unsicherheit. Nehmen die Einkommen in diesen Haushalten ab, könnte dies die Ungleichheit der Einkommen erhöhen. Mehrere Millionen Beschäftigte in Deutschland nehmen schon jetzt durch Kurzarbeit Einkommenseinbußen in Kauf. Es ist ungewiss, wie viele ihre Arbeit in den kommenden Monaten komplett verlieren werden. Andere werden durch die Krise Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz oder einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen. Die Sorge, dass die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen wieder aufgeht, ist daher berechtigt. Ein Blick auf die Entwicklung der Ungleichheit in vergangenen Krisenzeiten könnte uns eine Lehre für diese Krise sein.

Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin zeigt, dass die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen und der Markteinkommen mehr oder weniger stagniert und in den vergangenen Jahren sogar leicht zurückgeht. Grund für diese erfreuliche Entwicklung ist, dass die Realeinkommen auch der unteren Einkommensschichten seit 2013 steigen. Zudem hat die deutsche Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren mehrere Millionen neue Jobs geschaffen, was vor allem vielen Frauen und Zugewanderten den Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht hat

Dieser Beitrag ist am 1. Mai 2020 in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.

Ungleichheit in globaler Finanzkrise gesunken

Ermutigend ist auch die Entwicklung der Einkommensungleichheit während der globalen Finanzkrise von 2008/2009. Auch damals wurden Befürchtungen laut, die Krise könnte die Einkommensungleichheit verstärken. Tatsächlich ist sie in dieser Phase nicht nur nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Der zentrale Grund hierfür liegt vor allem darin, dass damals ein Anstieg der Arbeitslosigkeit größtenteils erfolgreich verhindert wurde. Über flexible Arbeitsmarktkonten und Kurzarbeitergeld konnte in den meisten Unternehmen eine Entlassungswelle vermieden werden. Zudem hat die Lohnzurückhaltung in diesen Jahren nicht nur Menschen mit geringen, sondern auch mit hohen Einkommen getroffen.

Anders sieht das Bild in der Krise der deutschen Wirtschaft von Ende der Neunzigerjahre bis 2005 aus, als Deutschland der kranke Mann Europas war und die Wirtschaft kaum wuchs. In dieser Zeit stieg die Arbeitslosigkeit stark und gipfelte im Jahr 2005 bei mehr als fünf Millionen Arbeitslosen. Diese Arbeitslosigkeit hat überproportional Menschen mit geringen Einkommen getroffen, zudem drückten Kürzungen bei Sozialleistungen die verfügbaren Einkommen. Das Resultat war eine sehr stark steigende Ungleichheit – sowohl der Markteinkommen als auch der verfügbaren Einkommen, also nach Transferleistungen und Steuern. Alarmierend ist, dass dieser Anstieg der Einkommensungleichheit nie wieder systematisch zurückgeführt wurde – trotz des Beschäftigungs- und Wirtschaftsbooms der 2010er-Jahre.

Viele Zugewanderte mit geringem Einkommen

Die aktuelle Studie des DIW hat einen Fokus insbesondere auf die Einkommensentwicklung von Migrantinnen und Migranten seit 2010 gelegt, also eine Phase, in der Deutschland in vielen Jahren netto eine Zuwanderung von 300.000 bis 400.000 Menschen hatte, viele davon sehr gut qualifiziert und mit guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Vor allem seit 2015 sind jedoch auch viele Geflüchtete mit geringen Qualifikationen nach Deutschland gekommen, deren Integration einige Zeit in Anspruch nimmt. Viele dieser Migrantinnen und Migranten haben sehr geringe Einkommen, auch wenn sie Arbeit finden. Somit ist die Entwicklung der Einkommen, wenn man nur autochthone Beschäftigte, also diejenigen ohne Migrationshintergrund, betrachtet, in den vergangenen Jahren nochmals positiver gewesen als ohnehin schon. Trotzdem ist große Vorsicht geboten, diese positive Entwicklung unabhängig von der starken Zuwanderung nach Deutschland zu sehen, da viele Unternehmen und auch Beschäftigte von der Zuwanderung profitiert haben.

Auch für das Armutsrisiko oder, neutraler formuliert, die Niedrigeinkommensquote – also den Anteil derer, die weniger als 60 Prozent des mittleren monatlichen Einkommens erhalten – ist das Bild der vergangenen 20 Jahre gemischt: Die besorgniserregende Entwicklung ist, dass seit dem Jahr 2000 diese Quote von damals gut 11 auf heute 16 Prozent gestiegen ist. Oder in anderen Worten: Mehr Menschen müssen monatlich mit sehr geringen Einkommen auskommen. Vor allem Migrantinnen und Migranten sind davon doppelt so häufig betroffen: Unter ihnen ist der Anteil mit niedrigen Einkommen seit 2010 von 25 auf 30 Prozent gestiegen. Erfreulich ist dagegen, dass das Armutsrisiko für einige andere Gruppen nicht gestiegen, sondern sogar gesunken ist – in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund insbesondere für Kinder und junge Erwachsene.

Altersarmut wird zum Problem

Es ist wichtig, die Debatte um die Entwicklung der Ungleichheit von Einkommen differenziert und ausgewogen zu führen. Es wäre vereinfacht und falsch, die starke Zuwanderung als den Hauptgrund dafür zu sehen, dass die Einkommensungleichheit nicht stärker sinkt. Viele andere Gruppen in Deutschland sind stark und zunehmend von niedrigen Einkommen betroffen. Dazu gehören die vielen Alleinerziehenden, meist Mütter und deren Kinder, für die das Armutsrisiko ebenfalls bei über 25 Prozent liegt, und die stetig steigende Anzahl von Rentnerinnen und Rentnern, für die die Altersarmut zunehmend zum Problem wird. Die Lehre aus den vergangenen Krisen, so schwer diese auch mit der jetzigen Pandemie vergleichbar sein mögen, ist, dass die Sicherung von Beschäftigung, die Vermeidung von Arbeitslosigkeit und ein starker Sozialstaat essenziell sind, um einen Anstieg von Einkommensungleichheit und Armutsrisiko zu verhindern.

Themen: Familie , Ungleichheit

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