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Corona verringert die Ungleichheit – aber nur kurzfristig

Blog Marcel Fratzscher vom 7. Mai 2021

Eine neue Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Einkommensunterschiede durch die Krise kleiner wurden. Betrachtet man die Gründe, gibt es jedoch wenig Grund zur Freude.

Die Einkommensungleichheit in Deutschland verringert sich in der Corona-Pandemie – so lautet das für manche überraschende Resultat einer neuen Studie des DIW Berlin. Diese Entwicklung ist zum Teil dem starken deutschen Sozialstaat zu verdanken, der durch Kurzarbeitergeld eine Massenarbeitslosigkeit wie in den USA verhindern und durch Transfers und Steuerentlastungen die Einkommen für viele stabilisieren konnte. Dies ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Der andere zeigt, dass viele Menschen in den Jahren vor der Pandemie nicht am Wirtschaftsboom partizipieren konnten – und zeichnet ein besorgniserregendes Bild für die kommenden Jahre.

Dieser Text erschien erstmals am 7. Mai 2021 in der Zeit Online-Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen.

Zunächst ist es positiv, dass die verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland in der Pandemie nicht ungleicher geworden sind. Bei genauem Hinsehen gibt dies aber wenig Anlass zur Freude: Denn die sinkende Einkommensungleichheit in Deutschland ist der Tatsache geschuldet, dass die Einkommen der fast fünf Millionen – häufig überdurchschnittlich verdienenden – Selbstständigen in der Pandemie spürbar gesunken sind. Und nicht – wie zwischen 2015 und 2019 – das Resultat von stärker steigenden Haushaltseinkommen der einkommensschwächeren Menschen. Diese Menschen haben in der Pandemie lediglich finanziell weniger stark gelitten als die Gutverdienenden.

Ungleichheit immer noch auf dem Niveau von 2005

Besorgniserregend ist, dass die Ungleichheit der Einkommen nach der Pandemie wieder stark zunehmen könnte. Denn die Einkommen der Selbstständigen erholen sich meist kräftig und relativ schnell nach Krisen und Rezessionen, wenn die Wirtschaft wieder boomt. Aber für die fast eine Million Minijobber*innen, die ihre Arbeit in der Pandemie verloren haben, und die steigende Anzahl von Langzeitarbeitslosen wird es auch nach der Krise schwer sein, wieder Fuß zu fassen.

Weitere Differenzierungen sind wichtig: Es ist erst einmal positiv, dass die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen seit 2015 tendenziell leicht sinkt, da sich seitdem vor allem die Löhne und Einkommen der einkommensschwachen Haushalte erhöht haben – vor allem durch die Einführung und graduelle Erhöhung des Mindestlohns. Die andere Perspektive ist jedoch, dass die Einkommensungleichheit heute noch immer auf dem Niveau von 2005 liegt, also dem Jahr, als Deutschland als "kranker Mann Europas" mit mehr als fünf Millionen fast doppelt so viele Arbeitslose hatte wie heute. Dies bedeutet, dass trotz des Wirtschafts- und Beschäftigungsbooms der 2010er Jahre, der mehr als drei Millionen zusätzliche Jobs geschaffen hat, die materielle Ungleichheit nicht abgenommen hat. Mehr noch, das einkommensschwächste Fünftel der Menschen in Deutschland hat heute inflationsbereinigt nicht mehr, sondern zum Teil weniger Einkommen als vor zwanzig Jahren.

Eine weitere positive Botschaft ist, dass die sogenannte materielle Deprivation – also Menschen, die so wenig Einkommen haben, dass sie sich selbst oder ihren Kindern beispielsweise keine warme Mahlzeit, keine Reise oder kein Ausgehen leisten können – sich seit 2010 fast halbiert hat. Gleichzeitig verkleinert sich zwar auch der Niedriglohnsektor, aber immer noch arbeitet jede*r Fünfte für weniger als 11,40 Euro brutto pro Stunde – gerade auch im internationalen Vergleich ist das ein großer Anteil. Es stimmt, dass mehr Menschen heute Arbeit haben als noch vor zehn oder 15 Jahren. Aber es gibt eben auch viele Menschen, die trotz Arbeit auf staatliche Hilfen angewiesen sind und nicht ausreichend für sich und ihre Familien vorsorgen können. Die Anzahl von Minijobber*innen und solche mit prekärer Beschäftigung bleibt hoch.

Drohende Altersarmut und geringe Chancen

Eine der großen Schwächen der Betrachtung von verfügbaren Einkommen ist, dass sie wenig über die individuelle Entwicklung von Lebensstandards und von Chancen, von Zufriedenheit und Glück aussagt. Diese Bereiche haben sich in den vergangenen Jahren, und vor allem in der Pandemie, für viele schlecht entwickelt. So sind zwar die Löhne und Einkommen in den letzten Jahren ordentlich gestiegen, gleichzeitig sind aber die Mieten und die Wohnkosten in vielen Städten regelrecht explodiert, sodass dort zahlreiche Menschen mit geringem Einkommen heute weniger Geld für das tägliche Leben übrig haben als noch vor ein paar Jahren.

Häufig heißt es, dass es gar nicht schlimm sei, einige Jahre mit niedrigem Einkommen leben zu müssen, wenn man dann den Aufstieg schafft. Gerne wird dann auf Studentinnen und Studenten verwiesen, die zwar einen Minijob ausüben, um ihr Einkommen aufzubessern, aber gute Zukunftsperspektiven haben. Tatsache ist jedoch, dass die Mehrheit der Menschen mit geringen Einkommen langfristig wenig verdient und es eben kein Übergang ist. Sie verfügen weder über Erspartes noch haben sie durch eigene Arbeit ausreichend Rentenansprüche erworben. Ihnen droht die Altersarmut, selbst wenn sie lange in Vollzeit gearbeitet haben. In anderen Worten: Chancen und Aufstiegsversprechen haben sich für viele der heutigen Bezieher*innen niedriger Einkommen als Illusion erwiesen. 

Auch was Glück und Lebenszufriedenheit angeht, mussten viele, vor allem junge Menschen, in der Pandemie starke Abstriche machen. Dies spiegelt sich nicht in Zahlen zu Geld und Einkommen, könnte aber dauerhaft so bleiben. Vor allem die Lebenszufriedenheit von Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Haushalten hat in der Pandemie mit am stärksten gelitten. Sie laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren und keinen oder nur einen schlechteren Schul- oder Ausbildungsabschluss zu schaffen. Es sind die Minijobber*innen, Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen, für die der Einstieg in den Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren noch schwerer werden könnte.

Die größte Herausforderung der nächsten Jahre

Wir benötigen also eine differenzierte Analyse der Ungleichheit in der Pandemie. Die guten Nachrichten sind: Die Verteilung der Einkommen ist nicht nur in der Pandemie, sondern auch seit 2015 weniger ungleich geworden, auch wenn die Ungleichheit auf einem hohen Niveau verbleibt und heute etwa so hoch ist wie im wirtschaftlichen Krisenjahr 2005. Es sind heute weniger Menschen von erheblicher materieller Armut betroffen, der Anteil der Menschen im Niedriglohnbereich sinkt, bleibt jedoch auch im internationalen Vergleich hoch.

Doch trotz der erfreulichen Befunde bleibt die Sorge, dass die Schere in Bezug auf Lebensstandards und Chancen, auf Zufriedenheit und Glück durch die Pandemie stark auseinandergeht und sich auch nur noch schwer schließen lässt. Wir als Gesellschaft laufen Gefahr, nicht nur die soziale und wirtschaftliche Teilhabe vieler Erwachsener durch die Pandemie zu beschränken, sondern einen Teil der jungen Generation dauerhaft abzuhängen. Das zeigt sich (noch) nicht in Statistiken zu Einkommen und Arbeitsplätzen, es könnte sich jedoch zur schwierigsten und wichtigsten Herausforderung des kommenden Jahrzehnts auswachsen.

Themen: Ungleichheit

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