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Schule in der Pandemie: Lernzeiten der Kinder hängen auch von der Bildung der Eltern ab

DIW aktuell ; 63, 7 S.

Sabine Zinn, Michael Bayer

2021

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11. Mai 2021 – Die Schulschließungen in der Corona-Pandemie haben Ängste geweckt, dass gerade lernschwache Kinder oder Kinder von weniger gebildeten Eltern durch das Homeschooling abgehängt werden. Aktuelle Auswertung der SOEP-CoV-Studie zeigen nun, dass die Bildung der Eltern zwar kaum Auswirkung auf die Lernzeiten der SchülerInnen hatte, solange die Schulen geschlossen waren. Aber das änderte sich in der Zeit unmittelbar nach dem ersten Lockdown, als die Schulen teilweise wieder öffneten. Kinder von weniger gebildeten Eltern verbrachten damals zu Hause wesentlich weniger Zeit mit Schulaufgaben als ihre MitschülerInnen. Eine ähnliche Entwicklung ist auch aktuell zu erwarten, wenn an immer mehr Schulen wieder Präsenzunterricht stattfindet. Um die unterschiedlichen Leistungsrückstände der SchülerInnen aufzufangen, plant das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) groß angelegte Förderprogramme. Damit diese erfolgreich sind, muss der Leistungsstand der Kinder und Jugendlichen zeitnah, überall zur gleichen Zeit und konsistent zueinander erfasst werden.

Auch während der Corona-Pandemie ist es erklärtes politisches Ziel, dass alle Kinder den gleichen Zugang zu Bildung haben. Bereits im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 zeigte sich jedoch, dass dies nur bedingt der Fall ist. Damals erhielten Kinder, die auf private Schulen gingen, ihr Lern- und Schulmaterial eher über digitale Kanäle als Kinder, die öffentliche Schulen besuchten.infoMathias Huebener, Katharina Spieß und Sabine Zinn (2020) SchülerInnen in Corona-Zeiten: Teils deutliche Unterschiede im Zugang zu Lernmaterial nach Schultypen und -trägern. DIW Wochenbericht Nr. 47, 853–860. Die SOEP-CoV-StudieinfoDie SOEP-CoV-Studie ist eine telefonische Befragung an TeilnehmerInnen des Sozio-Ökonomischen Panels, einer repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 durchgeführt wird (vgl. Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). besteht aus zwei Wellen. Die erste Welle umfasst den Zeitraum von 1.4. bis 4.7.2020 und besteht aus neun querschnittlichen (zufälligen) Tranchen, wovon die ersten vier Tranchen direkt in die Zeit des ersten Lockdowns fielen (1.4. bis 30.5.2020) und die nachfolgenden fünf Tranchen die fünf Wochen danach abdecken. Fragen zu den Lernzeiten von Schulkindern wurden ab der zweiten Tranche gestellt. Insgesamt haben an der Befragung zum ersten Lockdown N=723 Eltern von Kindern auf weiterführenden Schulen teilgenommen und N=305 Eltern in den fünf Wochen danach.Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 239(2), 345–360. 2019). Die SOEP-CoV-Studie zeigt, dass Kinder auf weiterführenden Schulen, die Lern- und Schulmaterial über digitale Kanäle erhielten, während der Schulschließungen im ersten Lockdown im Schnitt 70 Minuten länger pro Tag zu Hause lernten als andere. Außerdem verbrachten GymnasiastInnen im Schnitt eine knappe halbe Stunde mehr mit Lernen als Kinder auf anderen Schulen. Dieser Unterschied erklärt sich vermutlich aus den höheren Anforderungen der gymnasialen Schulform.

Während der Schulschließungen hatte die Bildung der Eltern keinen Einfluss auf die Lernzeiten der Kinder

Frühere Studien kamen immer wieder zum Ergebnis, dass die Bildung der Eltern einen Einfluss darauf hat, wie viel Zeit Kinder zu Hause mit Schulaufgaben und Lernen verbringen. Während der coronabedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 war das jedoch kaum der Fall, wie die SOEP-CoV-Studie zeigt (Abbildung 1).infoer elterliche Bildungsabschluss wird durch den formalen Bildungsabschluss operationalisiert. Hierfür nutzen wir die CASMIN- Klassifikation in der folgenden Art: niedriges Bildungsniveau entspricht den CASMIN-Klassen 0, 1a, 1b, 2b, ein mittleres Bildungsniveau den CASMIN-Klassen 1c, 2a, 2c und ein hohes Bildungsniveau den CASMIN-Klassen 3a, 3b. Zur CASMIN Klassifikation siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Casmin-Klassifikation. Auch die Beschäftigungssituation der Eltern hatte keinen messbaren Einfluss auf die Lernzeiten der Kinder. Ob SchülerInnen vor der Corona-Pandemie eher gut (durchschnittliche Mathematik- und Deutschnote 1 oder 2) oder mittelmäßig bis schlecht (durchschnittliche Mathematik- und Deutschnote 3, 4, 5, oder 6) in der Schule waren, wirkte sich ebenfalls kaum auf die Schularbeits- und Lernzeiten aus. Nur in Bezug auf das Alter wird deutlich, dass ältere Kinder und Jugendliche (15-18 Jahre) etwas weniger Zeit für das Lernen und Schularbeiten zu Hause verwandten als jüngere Kinder (10-14 Jahre), im Schnitt 20 Minuten pro Tag.

Ein ähnliches Bild findet sich in der Zeit des zweiten Lockdowns im Winter 2021.infoDie zweite SOEP-CoV-Welle fand in der Zeit des zeiten Lockdowns statt (von 18.1. bis 16.2.2021). Insgesamt nahmen N=1134 Eltern mit Kindern auf weiterführenden Schulen an der Befragung teil. Auch in dieser Zeit bestanden keine Zusammenhänge zwischen den Lern- und Schularbeitszeiten von Kindern und dem Bildungsgrad ihrer Eltern.infoDamit steht der Befund in Widerspruch zu den Erkenntnissen des ifo Instituts, die sowohl für die Zeit des ersten als auch für die Zeit des zweiten Lockdowns herausgefunden haben, dass sich Kinder aus Akademikerfamilien im Schnitt mehr mit Lernen und Schulaufgaben beschäftigen als Kinder aus Nichtakademikerfamilien. Vgl. Pressemitteilung des ifo Instituts vom 20.4.2021: Auch im zweiten Lockdown lernen Kinder weniger (online verfügbar). Die Daten, die in der ifo Studie zur Auswertung genutzt werden, entstammen jedoch einem Online-Access-Panel, bei dem sich Personen selbst in die Stichprobe rekrutieren und für ihre Teilnahme bezahlt werden. Um dadurch entstehende Selektionseffekte auszugleichen, werden einfache Randanpassungen in Bezug auf die Verteilung des Alters, Geschlechts, Bundeslands und Schulabschlusses der Eltern, die in der Bevölkerung vorherrscht, vorgenommen. Diese Art von Vorgehen erzeugt jedoch keine bevölkerungsrepräsentative Stichprobe und kann zum Beispiel Selektionseffekte in Bezug auf die Schulformen, die die Kinder besuchen, nicht ausgleichen. Derartige Probleme treten bei der Stichprobe der SOEP-CoV-Studie nicht auf. Die SOEP-CoV-Studie basiert auf einer Zufallsstichprobe aller in Deutschland ansässigen Privathaushalte und ist somit (nach Designgewichtung und Gewichtung von Ausfällen) bevölkerungsrepräsentativ. Gleiches gilt für die Erwerbssituation der Eltern und das Notenniveau der Kinder. Wie schon beim ersten Lockdown verbrachten die GymnasiastInnen zu Hause etwas mehr Zeit mit Lernen als andere, im Schnitt arbeiteten sie täglich aber nur 15 Minuten länger. Auch verbrachten wiederum jüngere Kinder (10-14 Jahre) durchschnittlich etwas mehr Zeit zu Hause mit Lernen als ältere Kinder beziehungsweise Jugendliche (15-18 Jahre), im Schnitt ebenfalls 15 Minuten pro Tag.

Abbildung 1

Tägliche Zeit für Lernen und Schularbeiten während der Schulschließungen (Frühjahr 2020 und Winter 2021) nach Bildung der Eltern
Durchschnitt in Stunden

Quelle SOEP-CoV, Wellen1 und 2, Tranchen 2-9. Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren.
© DIW Berlin

Während der Schulschließungen im zweiten Lockdown lernten die SchülerInnen täglich länger als im ersten Lockdown

Während des zweiten Lockdowns im Winter 2021 arbeiteten die SchülerInnen durchschnittlich 25 Minuten länger für die Schule als während des ersten Lockdowns. Das lässt sich vermutlich darauf zurückführen, dass ab dem zweiten Lockdown die Schulmaterialien häufiger über digitale Kanäle übermittelt wurden und die SchülerInnen digitale Beschulungsplattformen nutzten. Auch die direkt vorangegangenen WeihnachtsferieninfoD.h. zum Zeitpunkt der Datenerhebung der zweiten SOEP-CoV Welle. dürften eine Rolle gespielt haben. So waren Kinder, Eltern und Lehrkräfte während der zweiten Schulschließungen direkt nach den FerieninfoD.h. zum Zeitpunkt der Datenerhebung der zweiten SOEP-CoV Welle. nicht nur erholter, sondern die Schulen hatten auch mehr Zeit, um sich auf den Distanzunterricht vorzubereiten.

Nach Ende der Schulschließungen verbrachten Kinder weniger gebildeter Eltern viel weniger Zeit mit Lernen und Schularbeiten als andere

Für die Zeit unmittelbar nach dem ersten Lockdown ergibt sich ein anderes Bild als während der beiden Lockdowns: Kinder auf weiterführenden Schulen mit weniger gebildeten Eltern lernten zu Hause dann wesentlich weniger als andere: Im Schnitt verbrachten sie 50 Minuten weniger Zeit pro Tag mit Lernen und Schularbeiten als Kinder von höher gebildeten Eltern (Abbildung 2). Ob die Kinder in dieser Zeit regulären Unterricht oder Wechselunterricht hatten, spielte dabei keine Rolle.

Der Grund dafür könnte darin liegen, dass die Eltern sich in ihrer Beziehung zu den Schulen unterscheiden. Möglicherweise haben weniger gebildete Eltern die Aufgabe der Beschulung ihrer Kinder zum Zeitpunkt der Schulöffnungen sofort wieder an die Schule überantwortet, was sich auf die Lern- und Schularbeitszeiten der Kinder zu Hause ausgewirkt hat. Dabei können auch Gefühle von Überforderung und Erschöpfung eine Rolle gespielt haben.

Derzeit findet in Deutschland in fast allen Jahrgangsstufen Distanz- und Wechselunterricht statt. Nun stellt sich die Frage, ob auch jetzt die Kinder weniger gebildeter Eltern von zu Hause aus weniger für die Schule arbeiten als andere. Denkbar wäre eher, dass – wenn die aktuelle Situation weiter anhält – auch andere Kinder und ihre Eltern die zusätzliche Belastung nicht mehr erschöpfungsfrei auffangen können und die Kinder zu Hause entsprechend weniger Zeit mit Lernen verbringen.

Abbildung 2

Tägliche Zeit für Lernen und Schularbeiten während der Schulschließungen im Frühjahr 2020 (erster Lockdown) und in den ersten Wochen danach, nach Bildungsniveau der Eltern
Durchschnitt in Stunden

Quelle SOEP-CoV, Wellen 1 und 2, Tranchen 2-9 Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren.
© DIW Berlin

Das Engagement einzelner Lehrkräfte und Schulen spielt vermutlich eine entscheidende Rolle

Auch unabhängig von der Schulart und vom Bildungshintergrund der Eltern bestehen große Unterschiede in den Zeiten, die Kinder zu Hause mit Lern- und Schulaufgaben verbringen (Abbildung 3). Da hierzu bisher keine Daten vorliegen, bleibt nur zu vermuten, dass hier die Arbeit der einzelnen Lehrkräfte und Schulen und deren Umgang mit der Pandemie eine entscheidende Rolle spielen.

Abbildung 3

Tägliche Zeit für Lernen und Schularbeiten während der Schulschließungen im Frühjahr 2020 (erster Lockdown), in den ersten Wochen danach und im Winter 2021 (zweiter Lockdown)
Durchschnitt in Stunden

Quelle SOEP-CoV, Welle 1 und 2, Tranchen 2-9 Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren.
© DIW Berlin

Fazit: Damit Lernrückstände aufgeholt werden, braucht die Regierung eine einheitliche Strategie, die gleichzeitig jede einzelne Schule im Blick behält

Die Ergebnisse machen klar, dass auch nach dem zweiten Lockdown kein Grund zur Entwarnung besteht. Denn es ist zu vermuten, dass die Lernzeiten von Kindern in Familien mit niedrigem Bildungsniveau auch dann wieder ihre Lernzeiten reduzieren. Es sollten also dringend Vorkehrungen für diese Zeit getroffen werden, um Kinder davor zu bewahren, abgehängt zu werden.

Im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bestehen Pläne, große Summen für Förderprogramme für Kinder mit Leistungsrückstand auszuschütten.infoLernrückstände durch Corona-Pandemie: Eine Milliarde Euro für Nachhilfe. Tagesschau.de vom 27.3.2021 (online verfügbar). Um den Nachhilfe- beziehungsweise Förderbedarf bemessen zu können, sollen Lernstandserhebungen in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und möglicherweise einer ersten Fremdsprache erfolgen. Doch bisher ist weitgehend unklar, wie solche Lernstandserhebungen durchzuführen sind. Ebenfalls nicht geklärt ist, wie die Nachhilfe und Förderung in den einzelnen Bundesländern aussehen wird und welche Institutionen genau sie umsetzen sollen. Das heißt: Bisher fehlt eine ausgereifte und nachhaltige Strategie, die von allen Bundesländern mitgetragen werden muss.

Vor allem müssten die Kompetenzmessungen zeitnah, überall zur gleichen Zeit und konsistent zueinander erfolgen, um valide Ergebnisse daraus ableiten zu können. Ob eine solche gemeinsame und abgestimmte Strategie überhaupt und zudem noch rechtzeitig entwickelt wird, um möglicherweise irreversible Rückstände benachteiligter SchülerInnen eingefangen zu könneninfoWenn dies zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt noch möglich ist., ist in Anbetracht der Erfahrungen mit dem „Digitalpakt Schule“ eher zu bezweifeln. Eine solche Förderung müsste jedoch in jedem Fall auf der Ebene der Einzelschule ansetzen, da hier die stärksten Benachteiligungen der Kinder und Jugendlichen zu entstehen scheinen. Darüber hinaus sollte die Belastung der Lehrkräfte stärker als bisher in den Blick genommen werden und Bestandteil der anvisierten Förderungsstrategie werden.

Sabine Zinn

Vize-Direktorin SOEP und Leitung des Bereichs Surveymethodik und -management in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel


Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/235916

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