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Das Rentensystem verteilt von Arm nach Reich

Blog Marcel Fratzscher vom 23. August 2021

Die Politik verschleppt seit Langem eine dringende, umfassende Reform des gesetzlichen Rentensystems. Heute profitieren davon die Gutverdienenden – das muss sich ändern.

Während der Wahlkampf in seine heiße Phase geht und immer noch hauptsächlich von persönlichen Angriffen dominiert wird, gehen wichtige und dringende Probleme unter. Die Rente ist zum Beispiel so ein Thema.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 20. August 2021 bei Zeit Online als Teil der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Nicht nur, dass die Altersarmut in Deutschland im kommenden Jahrzehnt massiv ansteigen wird. Unser Rentensystem entwickelt sich immer stärker zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben, von Arm zu Reich. Einer der wichtigsten Treiber dieser Ungleichheit liegt in den unterschiedlichen Lebenserwartungen je nach Stellung im Beruf oder Bildungsniveau. Dies erfordert grundlegende Veränderungen der gesetzlichen Rente, damit diese nicht nur auskömmlich für alle ist, sondern die Gesellschaft nicht noch stärker spaltet.

Äquivalenzprinzip ist Augenwischerei

Ein Grundpfeiler der gesetzlichen Rente in Deutschland ist das sogenannte Äquivalenzprinzip: Jeder Euro, der von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in die Rentenkasse eingezahlt wird, erzielt den gleichen Anspruch an monatlichen Rentenzahlungen im Alter. Das klingt erst einmal fair, ist es aber nicht. Denn wie eine neue Studie des DIW Berlin im Auftrag des Sozialverbands VdK zeigt, haben Menschen mit physisch und psychisch anspruchsvoller Arbeit nicht nur eine höhere Wahrscheinlichkeit berufsunfähig zu werden, sondern sie haben vor allem eine deutlich geringere Lebenserwartung. So ist die Lebenserwartung eines Arbeiters beim regulären Renteneintritt mehr als fünf Jahre geringer als diejenige eines Beamten. Der Unterschied bei Frauen ist geringer, aber mit drei Jahren immer noch deutlich.

Dies bedeutet ganz konkret, dass das Äquivalenzprinzip eigentlich Augenwischerei ist, denn Menschen mit einer physisch wie psychisch anspruchsvollen Arbeit werden mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Rente für einen deutlich kürzeren Zeitraum beziehen als Beamte und Beamtinnen, die in den allermeisten Fällen Bürojobs machen. Hinzu kommt, dass eine starke Korrelation zum Einkommen besteht: Arbeiterinnen und Arbeiter haben nicht nur eine deutlich kürzere Lebenserwartung, sondern beziehen geringere Löhne und Einkommen und somit auch niedrigere monatliche Renten.

All dies bedeutet, dass die gesetzliche Rentenversicherung Deutschlands eine Umverteilung von unten nach oben, von Arm zu Reich ist. Dies geht so weit, dass einzelne Einkommens- und Berufsgruppen bei der gesetzlichen Rentenversicherung eine "negative Rendite" erzielen: Sie zahlen während ihrer Erwerbstätigkeit mehr Euro in die gesetzliche Rente ein, als sie im Alter an Rente insgesamt ausgezahlt bekommen. Zudem geht es dabei nicht nur um die Beitragszahlungen, sondern auch um die riesigen steuerlichen Zuschüsse für die gesetzliche Rente. Dies bedeutet konkret, dass ein überproportional großer Teil der rund 100 Milliarden Euro der steuerlichen Zuschüsse der Bundesregierung – das sind knapp drei Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung – denjenigen zugutekommt, die gut bezahlte Jobs hatten und eine lange Lebenserwartung haben.

Reform tut not

Nun lässt sich kritisch einwenden, dass es nicht zwingend eine Kausalität zwischen geringen Löhnen, der Beschäftigung in bestimmten Berufen und einer geringeren Lebenserwartung gäbe. Denn die Lebenserwartung hängt auch vom eigenen Verhalten ab, wie der Ernährung und dem Konsum von Tabak und Alkohol. Dieser Einwand ist sicherlich richtig. Richtig ist aber auch, dass ein erheblicher Teil der Lebenserwartung von der Art der Arbeit abhängt. Zudem ist es recht zynisch, Menschen mit geringen Einkommen vorzuhalten, dass sie sich nicht gesünder ernähren oder häufiger in den Urlaub fahren.

Richtig ist auch, dass die gesetzliche Rente durch die demografische Alterung über das kommende Jahrzehnt immer weniger leistungsfähig wird und somit auch eine immer schlechtere Absicherung im Alter sicherstellen kann. Daher muss die nächste Bundesregierung dringend die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland reformieren und auf eine nachhaltige Basis stellen. Dazu gehört auch die Erhöhung des Renteneintrittsalters, wie im Gutachten des Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums dargestellt. (Zur Transparenz: Ich bin Mitglied in diesem Beirat.) Ein zentrales Problem dabei ist jedoch, dass viele Menschen mit physisch wie psychisch anspruchsvollen Jobs schon heute häufig nicht bis zum Renteneintrittsalter durchhalten und dies noch weniger werden tun können, wenn das Eintrittsalter für die Rente weiter ansteigt.

Eine naheliegende Lösung könnte es sein, das Renteneintrittsalter unterschiedlich für verschiedene Berufe festzulegen, also einen früheren Renteneintritts für Berufszweige mit körperlich wie psychisch anspruchsvoller Arbeit zu ermöglichen, gleichzeitig aber einen deutlich späteren Renteneintritt für andere festzulegen. Dies wäre aber nach Ansicht der DIW-Studienautoren Peter Haan und Maximilian Schaller sehr kompliziert, sodass es sich kaum umsetzen ließe.

Denkbar ist aber eine Flexibilisierung, sodass in Zukunft Menschen sehr viel freier und autonomer für sich selbst entscheiden können, wann sie in Rente gehen wollen. Dabei ist es wichtig, das Recht für diese Entscheidung stärker von den Arbeitgebern hin zu den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verschieben. Auch die Einbeziehung von Beamten in die gesetzliche Rente ist sinnvoll, auch wenn dies wenig an der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung verändern kann.

Doch weder eine Differenzierung des Renteneintrittsalters noch eine Flexibilisierung werden das Problem einer unzureichenden gesetzlichen Rente, die von Arm zu Reich umverteilt, lösen. Notwendig ist es, das Äquivalenzprinzip neu zu definieren. In anderen Worten, Menschen in bestimmten Berufszweigen, die psychisch und physisch hart belastet werden, sollten für ihre Beiträge in die gesetzliche Rente einen höheren Anspruch an monatlichen Rentenzahlungen erwerben – mit dem Ziel, sowohl die Unterschiede in der Lebenserwartung auszugleichen als auch eine drohende Altersarmut zu vermeiden. Die allermeisten Industrieländer setzen dies bereits um: Sie berücksichtigen die Art der Arbeit und die Höhe der Einkommen bei den gesetzlichen Rentenansprüchen. Deutschland gehört zu einem der wenigen Länder, die sich bisher geweigert haben, eine solche Korrektur vorzunehmen.

Als wichtigstes Instrument, um Altersarmut zu verhindern und den Menschen wirklichen Respekt für ihre Lebensleistungen zu zollen, schlagen die DIW-Autoren eine Mindestrente vor. Andere Länder wie Österreich und die Niederlande machen uns das schon vor. Menschen mit geringeren Einkommen und Rentenanwartschaften würden auf diese Weise eine finanzielle Absicherung bekommen. So könnte den regressiven Wirkungen des derzeitigen Systems, die sich bei einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters verschärfen würden, entgegengewirkt werden. Die Bundesregierung hat mit ihrer Grundrente einen kleinen Schritt in eine solche Richtung getan. Diese ist jedoch bisher viel zu restriktiv und zu viele Menschen (man denke an diejenigen, die nicht auf 35 Beitragsjahre kommen) werden dabei ignoriert.

Schon vor Rentenbeginn an der Stellschraube drehen

Die andere und wichtigste Stellschraube für eine auskömmliche und faire Rente in Deutschland sind angemessene Löhne und Arbeitseinkommen. Die wichtigste Ursache für Altersarmut und eine massive Beschränkung der Lebensqualität im Alter sind geringe Löhne und Einkommen während des Erwerbslebens. Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Immer mehr Menschen in Deutschland haben heutzutage unterbrochene Erwerbsbiografien, können nur Teilzeit arbeiten oder arbeiten zu schlechten Löhnen. Das Resultat sind geringe Rentenansprüche, die auch durch eine Veränderung des Äquivalenzprinzips alleine nicht gelöst werden können. Reformen im Arbeitsmarkt, wie eine Stärkung der Sozialpartnerschaften, sind also genauso dringend notwendig, um Altersarmut und die Ungleichheit bei den Rentenansprüchen entgegenzuwirken.

Die Politik verschleppt eine dringend notwendige Rentenreform seit geraumer Zeit. Sie hat versucht, dieses Problem in den vergangenen Jahren mit punktuellen Hilfen zu kaschieren, wie der Rente mit 63 oder der Grundrente. Die Reform der gesetzlichen Rente beinhaltet enormen politischen und sozialen Sprengstoff. Daher ist es verständlich, dass die Politik dieses Thema meidet, vor allem im Bundestagswahlkampf. Aber mit jedem Jahr, das die Politik dieses Thema weiter vor sich herschiebt, wird das Problem größer und schwieriger zu korrigieren. Daher muss die neue Bundesregierung dieser Herausforderung eine hohe Priorität geben.

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