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Kita- und Schulschließungen lassen Väter anders auf Erwerbstätigkeit von Müttern blicken

Pressemitteilung vom 25. August 2021

Gesellschaftliche Rolle rückwärts? ForscherInnen von DIW Berlin und Freier Universität Berlin nehmen Einstellungen zu Geschlechterrollen unter die Lupe – Insbesondere westdeutsche Väter mit jungen Kindern vertreten seit der Corona-Pandemie deutlich seltener sehr egalitäre Ansichten

Die coronabedingten Kita- und Schulschließungen haben bei einigen Eltern die Ansichten zu Geschlechterrollen verändert. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie von ForscherInnen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und der Freien Universität Berlin. Konkret wurde untersucht, wie Frauen und Männer zur Erwerbstätigkeit von Müttern stehen. Nachdem im Jahr 2016 diesbezüglich noch rund 60 Prozent der Väter mit jungen Kindern sehr egalitäre Einstellungen vertraten, waren es ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie nur noch rund 54 Prozent – und damit etwa zehn Prozent weniger. Zumindest für Väter in Westdeutschland können die ForscherInnen den Rückgang direkt und im statistisch signifikanten Sinne auf die vorübergehenden Kita- und Schulschließungen zurückführen. Für ostdeutsche Väter und für Mütter insgesamt lassen sich solche Effekte hingegen nicht nachweisen.

„Die Corona-Pandemie hat viele Familien vor enorme Herausforderungen gestellt – sie mussten von jetzt auf gleich viel mehr Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit leisten. Das hat die Arbeitsteilung in Familien verändert, oftmals zulasten der Erwerbstätigkeit von Müttern. Und wie sich nun zeigt, hat dies offenbar vor allem Väter in Westdeutschland veranlasst, zu einem traditionelleren Rollenverständnis zurückzukehren“, erklärt Mathias Huebener, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Familie am DIW Berlin. An der Studie haben zudem C. Katharina Spieß, Leiterin der Abteilung Bildung und Familie, Gert G. Wagner, Senior Research Fellow des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) im DIW Berlin, sowie Natalia Danzer und Astrid Pape von der Freien Universität Berlin mitgewirkt.

© DIW Berlin

Auswirkung auf Verständnis von Geschlechterrollen lässt sich direkt auf Pandemie zurückführen

Die Studie basiert auf Daten aus zwei repräsentativ durchgeführten Bevölkerungsbefragungen. Dabei handelt es sich zum einen um die COMPASS-Umfrage von infratest dimap, die seit Ausbruch der Corona-Pandemie unter anderem die Einstellungen von in Deutschland wahlberechtigten Frauen und Männern zur Erwerbstätigkeit von Müttern abfragt. Aus dem ALLBUS-Datensatz (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften) wurden entsprechende Vergleichsdaten für die Jahre 2008, 2012 und 2016 herangezogen.

In Westdeutschland ist der Anteil der Väter mit sehr egalitären Geschlechterrollenansichten demnach um sieben Prozentpunkte gesunken, von 56 Prozent im Jahr 2016 auf 49 Prozent im Jahr 2021. Berücksichtigt man, dass die Einstellungen zur Erwerbstätigkeit von Müttern ohne die Pandemie dem langjährigen Trend entsprechend wohl noch egalitärer geworden wären, liegt der Rückgang sogar bei zwölf Prozentpunkten. In Ostdeutschland haben solche Veränderungen offenbar nicht stattgefunden. Ein Grund dafür könnte sein, dass egalitäre Einstellungen zur mütterlichen Erwerbstätigkeit im Westen weniger gefestigt sind: Entwicklungen wie der Kita-Ausbau und deutlich mehr erwerbstätige Frauen waren dort verstärkt erst in den vergangenen Jahren zu beobachten.

„Erneute Kita- und Schulschließungen sollten soweit möglich vermieden werden. Das wäre nicht nur mit Blick auf die Bildung der Kinder wichtig, sondern unter anderem auch mit Blick auf die Einstellungen zu Geschlechterrollen.“ C. Katharina Spieß

In weitergehenden Analysen haben die ForscherInnen noch mögliche allgemeine Veränderungen in den Einstellungen zu Geschlechterrollen – die beispielsweise auch bei Männern und Frauen ohne Kinder zu beobachten sind – herausgerechnet. Doch auch dann bleiben die Effekte der Kita- und Schulschließungen auf die Geschlechterrollenansichten von Vätern in Westdeutschland bestehen.

Erneute Kita- und Schulschließungen sollten möglichst vermieden werden

Die Politik sollte die Erkenntnisse der Studie den AutorInnen zufolge zum Anlass nehmen, neben den direkten Folgen der Kita- und Schulschließungen auch Nebenwirkungen wie die möglichen langfristigen Einstellungsänderungen in den Blick zu nehmen. „Von einer gesellschaftlichen Rolle rückwärts zu sprechen, wäre derzeit sicherlich noch zu dramatisch“, erklärt C. Katharina Spieß. Dafür sei das Bild hinter den aggregierten Veränderungen vermutlich zu heterogen. So könnte es sein, dass in Familien, in denen die Mutter erwerbstätig ist und der Vater im Zuge der Corona-Pandemie aufgrund von Kurzarbeit die zusätzliche Sorgearbeit übernommen hat, die Einstellungen zu Geschlechterrollen sogar egalitärer geworden sind.

„Dennoch ist es möglich, dass politische Ziele wie mehr erwerbstätige Frauen durch ein Ereignis wie die Corona-Pandemie ins Wanken geraten – auch, weil sich das Verständnis von Geschlechterrollen zumindest im Mittel zurückentwickelt hat“, so Spieß. „Schon mit Blick auf die bevorstehende vierte Corona-Welle sollten daher – wie beispielsweise auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina mehrfach mit konkreten Vorschlägen gefordert hat – erneute Kita- und Schulschließungen soweit möglich vermieden werden. Das wäre nicht nur mit Blick auf die Bildung der Kinder wichtig, sondern unter anderem auch mit Blick auf die Einstellungen zu Geschlechterrollen.“

Links

O-Ton von Mathias Huebener
Kita- und Schulschließungen können längerfristige Effekte auf Gleichstellung von Frauen haben - Interview mit Mathias Huebener

Themen: Familie , Gender

Gert G. Wagner

Fellow in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

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