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Die unterschätzte soziale Polarisierung

Blog Marcel Fratzscher vom 20. Dezember 2021

Unsere Gesellschaft könnte nach der Pandemie gespaltener sein als jemals zuvor in den vergangenen 70 Jahren. Die Regierung sollte alles daran setzten, dies zu verhindern.

Mitten in der vierten Welle der Corona-Pandemie fokussiert sich die Debatte darauf, wie möglichst viele Menschen geimpft, die Pandemie möglichst schnell begrenzt und Unternehmen und Wirtschaft stabilisiert werden können. Stabilisierung und Sicherheit in Zeiten dieser enormen Unsicherheit werden sicherlich die zentralen Herausforderungen im Jahr 2022 sein. Meine Befürchtung ist, dass die zunehmende soziale Polarisierung unserer Gesellschaft ein blinder Fleck in dieser Debatte ist. Es besteht die Gefahr, dass unsere Gesellschaft nach der Pandemie gespaltener und polarisierter sein wird als jemals zuvor in den vergangenen 70 Jahren. Und es besteht die Gefahr, dass diese gesellschaftliche Spaltung die wichtigen Reformen bei Klimaschutz und digitaler Transformation noch deutlich erschweren werden.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 17. Dezember bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Der deprimierende Befund, dass fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung ungeimpft ist, wird vielerorts mit Unverständnis aufgenommen. Er wird von einigen als Resultat von Egoismus, Ignoranz und Dummheit verstanden. Das mag ein Teil der Wahrheit sein. Aber damit machen wir es uns zu leicht. Die vielleicht größte Herausforderung durch die Pandemie ist die starke Zunahme der gesellschaftlichen Spaltung, die sich in vielen Facetten unseres täglichen Lebens widerspiegelt – eben auch in der Weigerung vieler Menschen, sich impfen zu lassen. Diese Verweigerung sollte ein dringender Weckruf sein.

Viele Kinder werden nie wieder aufholen

Die Pandemie hat vor allem in vier Bereichen die harte Realität der sozialen Polarisierung nicht nur offengelegt, sondern noch weiter verschärft. Da ist zum einen die mangelnde Chancengleichheit. Auch wenn viele es nicht glauben oder wahrhaben wollen: Deutschland hat eine ungewöhnlich geringe Chancengleichheit, auch im internationalen Vergleich. In kaum einem Industrieland sind die Aufstiegschancen für junge Menschen aus einkommensschwachen Familien so gering. Umgekehrt werden in kaum einem Land die Privilegien der Familie so stark an die Kinder und Enkelkinder weitergegeben wie in Deutschland. Die soziale Mobilität in Bezug auf Einkommen und Bildung ist in Deutschland etwa so gering wie in den USA.

Besonders schädlich ist die fehlende Chancengleichheit in der Bildung. Von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten gehen 74 später zur Universität, jedoch nur 21 von 100 Kindern aus Nichtakademikerhaushalten. Diese Zahlen beziehen sich auf die Zeit vor der Pandemie. Es gibt viele Anzeichen, dass sich dieses Problem durch die Pandemie noch verschärfen wird.

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinder aus einkommens- und bildungsstärkeren Familien nur wenig Einbußen beim Lernen in dieser Pandemie erfahren mussten – weil sich die Eltern im Homeoffice und mit guter technischer Ausstattung um ihre Kinder kümmern konnten. Im Gegensatz dazu gibt es eine große Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die in den vergangenen zwei Jahren kaum lernen und sich kaum weiterentwickeln konnte. Viele von ihnen sind noch weiter zurückgefallen als ohnehin schon. Zwei Jahre sind eine ewig lange Zeit für junge Menschen. Viele werden diesen Rückstand nie wieder aufholen. Die Bildungsschere wird weiter aufgehen. Der Anteil der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher wird – ausgehend von rund zehn Prozent – wohl unweigerlich weiter zunehmen. Damit ist für noch mehr junge Menschen schon heute ihr wirtschaftlicher, sozialer und gesundheitlicher Lebensweg vorgezeichnet.

Dazu kommt die zunehmende Polarisierung im Bereich Gesundheit. Noch ist schwer einzuschätzen, wie dramatisch sich die Pandemie vor allem auf die psychische Gesundheit auswirken wird. Die ersten Anzeichen sind, dass vor allem junge und alleinstehende Menschen, Frauen, Menschen mit geringen Einkommen und solche mit einer ohnehin schon angeschlagenen Gesundheit besonders unter dieser Pandemie leiden. Die Gefahr ist groß, dass die permanenten Spätfolgen der Pandemie gerade bei der psychischen Gesundheit enorm sein werden und unsere Gesellschaft weiter spalten. Eine Strategie, wie man dieses Problem adressieren will, ist nicht in Sicht.

Auch im Bereich Arbeit und Beschäftigung nimmt die Polarisierung zu. Zwar konnte ein Anstieg der Arbeitslosigkeit durch das Kurzarbeitergeld beschränkt werden. Aber auch hier gilt, dass die vulnerabelsten Gruppen besonders leiden. Denn von den mehr als fünf Millionen Minijobbern hat niemand einen Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Fast eine Million Minijobber haben allein 2020 ihre Arbeit verloren, ohne Schutz und ohne Kompensation. Ähnliches gilt für viele Soloselbstständige, die wenig Schutz haben und denen lediglich angedeutet wurde, dass sie Grundsicherung und Hartz IV beantragen können, was für viele einem Schlag ins Gesicht gleichkommt.

Zwei riesige Generationenaufgaben

Den vielen Beschäftigten in systemrelevanten Berufen – im Gesundheitssektor, in der Pflege, in den Supermärkten, der Gebäudereinigung, Logistik und im öffentlichen Verkehrssektor – wurde zwar viel Applaus gespendet. Aber nur wenige haben bisher eine nachhaltige Verbesserung mit Blick auf Wertschätzung, Arbeitsbedingungen oder Löhne erfahren. Vieles deutet darauf hin, dass es bei Versprechungen bleiben wird und der Fachkräftemangel in kritischen Bereichen wie der Pflege weiter zunehmen wird.

Der vierte Bereich der Polarisierung ist das Wohnen. Trotz Wirtschaftskrise sind Immobilienpreise und Mieten in den meisten Regionen weiter gestiegen. Dies ist nicht überraschend, denn viele Wirtschaftshilfen für Geschäfte und in der Gastronomie kamen letztlich den Eigentümerinnen und Eigentümern von Immobilien zugute; die Knappheit an Wohnungen in den Städten hat sich kaum verringert. Vielen Städten und Regionen mangelt es nach wie vor an einer Strategie, wie die steigenden Wohnkosten begrenzt oder wieder abgesenkt werden können. Erwartungen an Enteignungen oder Mietendeckel werden unweigerlich enttäuscht werden. Die Unzufriedenheit und soziale Polarisierung in den Städten werden somit weiter zunehmen.

Die Politik darf diesen Trend der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung nicht unterschätzen. Wir als Gesellschaft stehen heute vor zwei riesigen Generationenaufgaben: Klimaschutz und digitale Transformation. Die Bewältigung beider Aufgaben bedeutet riesige Umwälzungen von Wirtschaft und Gesellschaft und wird nur mit einer hohen gesellschaftlichen Akzeptanz erfolgreich sein können. Die große Zahl an Impfverweigererinnen und Impfverweigerern sollte ein klares Signal auch an die neue Bundesregierung sein, der Verhinderung einer dauerhaften gesellschaftlichen Spaltung oberste Priorität einzuräumen.

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