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Der blinde Glaube an das Primat des Marktes hat katastrophale Folgen

Blog Marcel Fratzscher vom 29. Dezember 2021

Wer die Schuld an der derzeitigen Schieflage dem Staat anlastet, liegt falsch. Deregulierung ist nicht die Lösung. Aber auch Rufe nach mehr Umverteilung sind fehlgeleitet. Corona zeigt, dass wir die Aufgaben des Staates und sein Verhältnis zum Markt neu regeln müssen.

”Die meist verhassten Worte sind: ’Wir sind von der Regierung und hier, um zu helfen’”, so beschrieb US-Präsident Ronald Reagan Anfang der 1980er-Jahre die Skepsis vieler gegenüber dem Staat. Fast 40 Jahre später entzündet sich eine hitzige Debatte an der Frage, ob es ein Staatsversagen oder nicht doch ein Marktversagen war, das den Schaden der Pandemie nicht hat abwenden können oder gar vergrößert hat. Gerade in der Eskalation der Pandemie in der vierten Welle werden schnell Staat und Politik als Schuldige ausgemacht.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 29. Dezember 2021 in Die Welt.

Gibt es mittlerweile eine zu starke Rolle des Staates oder Neodirigismus, mit schädlichen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft? Oder gibt es eine schädliche Dominanz von Märkten über den Staat in einer Weltordnung geprägt von Neoliberalismus? Diese Gegenüberstellung von Neoliberalismus und Neodirigismus ist ein falscher Widerspruch.

Denn in unserer Demokratie bedingen Markt und Staat einander. Und in einer sich rapide wandelnden Wirtschaft, die zunehmend von einzelnen Unternehmen in digitalen, globalen Märkten dominiert wird, nimmt das Marktversagen zu. Dies erfordert keine Beschneidung des Marktes und per se keinen größeren Staat mit mehr Umverteilung, sondern einen besseren Staat und eine neue Balance zwischen Staat und Markt als Teil eines Gesellschaftsvertrags, der die Werte einer progressiven und inklusiven sozialen Marktwirtschaft stärkt.

Denn nur einem wandlungsfähigen und flexiblen Staat kann es gelingen, die existenziellen Herausforderungen von Klimawandel, künstlicher Intelligenz und Globalisierung zu meistern.

Für einige in Deutschland haben die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der vergangenen beiden Jahrzehnte - und auch jetzt in der Pandemie - vor allem einen Grund: Staatsversagen. Sie monieren, der Staat würde über immer stärkere Regulierung, Bürokratisierung und immer höhere Abgaben und Steuern die Freiheit für Unternehmen zu stark beschneiden und somit der Marktwirtschaft schaden. Der Staat solle weniger interventionistisch sein und dem Markt mehr vertrauen, die richtigen Lösungen zu finden.

Der Missbrauch der Sprache der Freiheit

Diese Kritikerinnen und Kritiker haben in vielerlei Hinsicht recht, denn Regulierung und Bürokratie sind so übermächtig geworden, dass sie unternehmerische Freiheit begrenzen. Der blinde Fleck dieser Kritikerinnen und Kritiker ist, dass es in unserer sozialen Marktwirtschaft nicht nur um die Freiheit des Einzelnen geht, sondern auch um den Universalismus der Freiheit, sodass Freiheit nicht nur für einige wenige gelten darf, sondern für alle gewährleistet sein muss.

Der britische Philosoph Isaiah Berlin beschrieb dies als positive Freiheit und negative Freiheit: Freiheit bedeutet nicht nur, etwas tun zu dürfen, sondern auch frei von Beschränkungen und Restriktionen zu sein. Die Pandemie illustriert die Widersprüche zwischen beidem: Einige empfinden Maskenpflicht, Abstandhalten oder Versammlungsverbot als große Beschränkungen und ungerechtfertigte Einschränkungen ihrer Freiheit.

Andere Menschen dagegen sehen genau diese Restriktionen als essenziell an, um ihre eigenen Freiheiten schützen zu können, die durch Gesundheit und Unversehrtheit entstehen.

Ein zentrales Problem unserer sozialen Marktwirtschaft heute ist: Der Begriff der Freiheit wird von einigen missbraucht, um ihre eigenen Privilegien zu sichern. Es geht vielen derer, die über Beschränkungen ihrer Freiheit klagen, nicht wirklich um die Freiheit aller, sondern um individuelle Besitzstandswahrung, um die Bewahrung ihrer Vorteile im Wettbewerb des Marktes oder der Politik. Es ist dieser fehlende Universalismus der Freiheit und vor allem eine fehlende Chancengleichheit der Menschen, die unsere Gesellschaft vor die Zerreißprobe stellt.

Die Hälfte der Menschen hat schlechtere Chancen

Die Bildungschancen hängen in Deutschland ungewöhnlich stark vom Einkommen und der Bildung der Eltern ab. In kaum einem Land sind die Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Stundenlöhne, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen, Wertschätzung, Absicherung, Karrieremöglichkeiten und Zukunftschancen so groß wie in Deutschland.

Bei beiden kann keine Rede von einem funktionierenden Markt oder universeller Freiheit sein, wenn die eine Hälfte der Menschen deutlich schlechtere Chancen hat. Das Steuersystem und die Sozialsysteme vergrößern diese Ungleichheit von Chancen und Freiheiten in zahlreichen Fällen. Es gibt kaum ein Land, das Einkommen aus Arbeit stärker und Einkommen aus Vermögen geringer besteuert als Deutschland.

Die politische Linke und Unterstützer eines Neodirigismus fordern mehr finanzielle Umverteilung, um die wirtschaftliche und soziale Polarisierung zu stoppen. Die politische Rechte und die Verfechter des Neoliberalismus verlangen eine Deregulierung und einen kleineren Staat, mit niedrigeren Steuern für vermeintliche Leistungsträgerinnen und -träger und weniger Umverteilung.

Beide Seiten liegen falsch. Mehr Geld allein wird das Problem nicht richten. Die Umverteilung von Ressourcen durch das Steuersystem allein schafft keine Chancengleichheit und keinen Universalismus von Freiheiten. Einer 35-jährigen alleinerziehenden Mutter, die von Hartz IV lebt, wäre sehr viel mehr durch eine gute Qualifizierung, einen Arbeitsplatz, gute Löhne und ein exzellentes Bildungs- und Betreuungssystem für ihre Kinder geholfen als lediglich durch eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes.

Eine Umverteilung von Ressourcen ist, in Grenzen, richtig und notwendig. Aber kein noch so starkes und großzügiges Sozialsystem kann fehlende Chancen und Freiheiten kompensieren.

Der Sozialstaat ist in den vergangenen 50 Jahren stark angewachsen - der Staat verteilt heute deutlich mehr der Wirtschaftsleitung über Steuern, Abgaben und Leistungen um. Und trotzdem hat gleichzeitig die Polarisierung zugenommen. Viele Verfechter des Neoliberalismus - des Primats von Markt über Staat - sehen darin den Beleg eines wachsenden Neodirigismus, also eines Staates, der zulasten einer intakten Marktwirtschaft geht und somit schadet statt zu helfen.

Dies ist falsch, denn vielmehr ist, wie oben beschrieben, das Auseinanderdriften von Arm und Reich Resultat eines immer größer werdenden Marktversagens. Denn wenn der Staat immer mehr der Wirtschaftsleistung umverteilt, die Ungleichheit von Vermögen, Einkommen und Chancen jedoch immer größer wird, dann stimmt etwas nicht.

Das Versprechen des Neoliberalismus, mehr Wohlstand für alle zu schaffen, wurde nicht eingehalten. Oder wie der US-Investor und Milliardär Warren Buffett diesen Konflikt beschreibt: ”Es gibt Krieg, der von den Reichen angezettelt wurde, und von den Reichen gewonnen wird.”

Der blinde Glaube an das Primat des Marktes über den Staat hat katastrophale wirtschaftliche, soziale und politische Konsequenzen. Das Scheitern des Neoliberalismus und die damit einhergehende soziale Polarisierung ist durch Nationalismus und Populismus ersetzt worden. Gerade in Deutschland beklagen mehr als 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, der soziale Ausgleich in der sozialen Marktwirtschaft funktioniere nicht mehr. 77 Prozent glauben nicht, dass die nächsten fünf Jahre für sie besser werden, und eine Mehrheit klagt über fehlende Gerechtigkeit.

Eine bessere Balance zwischen Staat und Markt

Klimaschutzes zeigt dies: Märkte und Preise für CO2 sowie klare, verbindliche und verlässliche Regeln für alle sind unerlässlich, um Wettbewerb und damit Innovation zu schaffen
und die von Staat und Gesellschaft vorgegebenen Ziele zu erreichen.

Dabei muss der Staat nicht selten selbst durch massive Investitionen in Infrastruktur oder Grundlagenforschung solche Innovationen möglich machen. Ob Biontech oder Tesla, kaum eines der erfolgreichen Unternehmen heute hätte ohne massive direkte oder indirekte staatliche Bereitstellung von Patenten, Grundlagenforschung oder finanzieller Förderung so große Erfolge erzielen können.

Damit der Wohlstand gewahrt und wir die wichtigen Herausforderungen unserer Zeit bestehen, brauchen wir eine neue Balance zwischen Staat und Markt. Der Staat muss mehr als bisher tun, um ein zunehmendes Marktversagen durch technologischen Wandel und Globalisierung zu adressieren, um wirkliche Chancengleichheit im Wettbewerb zwischen Unternehmen, in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Er muss sich modernisieren und digitaler werden, um Unternehmen und Menschen die richtigen Voraussetzungen bieten zu können, damit diese ihre Freiheiten nutzen können.

Er muss den Sozialstaat grundlegend reformieren, damit Freiheit nicht nur ein Privileg von wenigen Menschen bleibt, sondern für alle gilt. Und er muss den Menschen einen Gesellschaftsvertrag anbieten, der von allen akzeptiert wird und nicht nur Wert auf die Freiheit für den Einzelnen legt, sondern auf die Freiheit für alle Menschen.

Themen: Märkte , Ungleichheit

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