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Es könnte doch ein gutes Jahr werden

Blog Marcel Fratzscher vom 3. Januar 2022

Selten war ein Jahresausblick mit so viel Unsicherheit behaftet wie jetzt. Selten standen aber die Chancen für einen politischen und wirtschaftlichen Neustart so gut.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 1. Januar 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Mitten in der vierten Welle der Pandemie und mit dem Anstieg der Omikron-Variante schauen viele mit Sorge und Angst auf das neue Jahr. Es gibt zu viele ökonomische, politische und vor allem gesundheitliche Unwägbarkeiten, die das Jahr 2022 wieder einmal zur Enttäuschung machen könnten – so wie in den vergangenen beiden Jahren. Das muss aber nicht der Fall sein, wenn Politik und Gesellschaft sich die Kontrolle zurückholen und die Zukunft in die Hand nehmen. Und es gibt durchaus viele Gründe für Optimismus und Zuversicht für das neue Jahr.

Nicht nur Deutschland hat zwei dunkle Jahre durchlebt. Weltweit hat wohl niemand zum Jahreswechsel 2019/2020 auch nur annähernd eine solch langwierige Pandemie erahnt. Und trotz der in kürzester Zeit erfolgreich entwickelten Impfstoffe scheint diese Pandemie immer noch kein Ende zu nehmen. Nach Schätzungen der Zeitung The Economist sind schon heute mehr als 17 Millionen Menschen weltweit an COVID-19 gestorben, mehr als 100.000 allein in Deutschland. Wirtschaftlich durchleben die Menschen eine Zeit größter Unsicherheit und Frustration. Auf Zeiten der Hoffnung und des wirtschaftlichen Neustarts folgen immer wieder neue Wellen der Pandemie.

Vom Treiben lassen zum Handeln

In der Tat könnte uns ein weiteres Auf und Ab für Gesundheit und Wirtschaft im neuen Jahr bevorstehen. Das muss aber nicht so sein. Die vielleicht größte Schwäche in Deutschland und Europa im Jahr 2021 war, dass die Politik sich in ihr vermeintliches Schicksal ergeben und von der Pandemie hat treiben lassen. Sie hat nach dem Prinzip Hoffnung gehandelt – dass eine dritte, vierte oder fünfte Welle uns verschont, genug Menschen sich impfen lassen, wirtschaftliche Probleme sich von alleine lösen und geopolitische Konflikte an uns vorbeigehen. Kurzum, die Politik hat ihre Souveränität aufgegeben.

Es ist höchste Zeit, dass die Politik die Initiative ergreift. Wenn ihr dies gelingt, könnte 2022 positiv überraschen und als ein wirklicher Neustart in die Geschichte eingehen. Zum einen muss die Politik dringend eine klare und vor allem aktive, gestaltende Strategie zur Bekämpfung der Corona-Krise umsetzen. Der Start der Ampel-Koalition diesbezüglich ist besser, als manche es wahrhaben möchten. Die Schaffung eines Krisenstabs im Kanzleramt, der Fokus auf eine Erhöhung der Impfquote und eine klare Verpflichtung, essenzielle öffentliche Leistungen, wie Schulen, weiterhin zu gewährleisten, sind gute und richtige Signale.

Investitionen und sozialpolitische Reformen

Der zweite Hoffnungsschimmer für das Jahr 2022 ist der ambitionierte Koalitionsvertrag. Wenn es der Koalition gelingt, auch nur die Hälfte ihrer großen Projekte vielversprechend auf den Weg zu bringen, dann könnte die Politik damit einen Mentalitätswandel anstoßen.

Viele Unternehmen warten auf klare Signale der Politik, um Investitionen für die ökologische und digitale Transformation zu tätigen. Der Nachtragshaushalt mit 60 Milliarden Euro für den Klimafonds als eine der ersten Amtshandlungen der neuen Bundesregierung ist ein solches Signal. Weitere große öffentliche Investitionsprojekte werden folgen und dürften auch Unternehmen dazu bringen, wieder mehr in die Transformation und Innovation zu investieren.

Es gibt viele positive Signale

Die vielleicht wichtigsten Reformen finden im sozialpolitischen Bereich statt, indem sie die Solidarität und die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland stärken. Ein neues Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen. Trotz Unsicherheit über die Inhalte hat dieses Bürgergeld viel Potenzial. Wenn es richtig ausgestaltet wird, kann es wegführen von einem sanktionierenden, passiven Sozialstaat hin zu einem unterstützenden System. Auch das Versprechen der Koalition, mehr für Bildung und Innovation zu tun, vor allem die in der Pandemie entstandenen Ungleichheiten wieder zu revidieren, wäre eine wichtige Unterstützung.

Hinzu kommt der Anstieg des Mindestlohns auf zwölf Euro. Er wird gerade jenem Viertel der Menschen in Deutschland mit den geringsten Einkommen den größten Schub ihrer Einkommen der letzten Jahrzehnte verschaffen. Der Anstieg von 9,60 auf zwölf Euro bedeutet Lohnerhöhungen von über 20 Prozent für viele Beschäftigte in Deutschland. Damit startet ein wichtiges Konjunkturprogramm, das aber nicht durch den Staat, sondern vor allem durch die Wirtschaft finanziert wird.

Auch für die Wirtschaft gibt es Gründe, im kommenden Jahr optimistisch zu sein. Zwar bremst die vierte Welle der Pandemie die wirtschaftliche Erholung, aber die meisten Prognosen sehen noch immer die Möglichkeit von einem Wachstum von bis zu vier Prozent für die deutsche Wirtschaft. Es wäre das stärkste Wachstum seit dem Jahr 2010. Die Auftragsbücher der Unternehmen sind voll, die Energiepreise fangen an zu sinken, und bei den Lieferketten gibt es in vielen Bereichen deutliche Verbesserungen. Niemand kann eine auch nur annähernd genaue Wirtschaftsprognose für das neue Jahr treffen, aber bei allen Sorgen gibt es eben auch viele positive Signale.

Vielversprechendes Dreigestirn für Europa

Für Europa könnte das Jahr 2022 eines mit den größten Fortschritten der vergangenen Jahrzehnte werden. Die politische Konstellation war selten besser. Mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Premier Mario Draghi und Bundeskanzler Olaf Scholz führen drei stark pro-europäische Politiker die drei größten Länder der EU. Unter der EU-Präsidentschaft Frankreichs im ersten Halbjahr 2022 könnten sie gemeinsam viele wichtige Reformen auf den Weg bringen und Europa im Systemwettbewerb mit China und den USA neu aufstellen.

Selten war ein Jahresausblick mit so viel Unsicherheit behaftet. Selten waren aber auch die Chancen für einen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neustart so gut. Die deutsche Politik sollte diese Chance mit beiden Händen ergreifen und mit Mut für Reformen, einem Sinn für Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie einer europäischen Perspektive ausgestalten. Dann ist es denkbar, dass wir in einem Jahr zurückschauen und überrascht sind, wie viel Politik und Gesellschaft erreicht haben.

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