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Deutschland muss weg vom Primat der Wirtschaft

Blog Marcel Fratzscher vom 28. Februar 2023

Wenn es in Deutschland etwas zu entscheiden gibt, sprechen die Unternehmen stets mit. Die Politik muss sich davon befreien und an einem neuen Modell für das Land arbeiten.

Die Sorge um eine Deindustrialisierung Deutschlands wächst. Die Bedrohung für den Wirtschaftsstandort besteht aber im Primat der Wirtschaft über Politik und Gesellschaft, das Kern des deutschen Wirtschaftsmodells ist. Dieses Primat ist ungeeignet für eine Welt, die zunehmend von Krisen und Veränderung geprägt wird.

Der Gastbeitrag erschien zuerst am 28.2. 2023 im Der Spiegel.

Anstatt am alten Modell festzuhalten, muss Deutschland sich wirtschaftlich und politisch neu erfinden. Dies erfordert zuallererst, dass sich die Politik – über Parteigrenzen hinweg – vom Einfluss der Unternehmen emanzipiert und unabhängig macht.

Die Welt von morgen wird deutlich komplexer und globaler werden – nicht nur wirtschaftlich. Die größten Herausforderungen werden nicht national gelöst werden können. Klima- und Umweltkatastrophen, die Dominanz künstlicher Intelligenz und der zunehmende Wettbewerb um knappe Ressourcen können nur als globale Gemeinschaft gelöst werden.

Krisen werden zur Norm werden, was ein Umdenken mit Fokus auf Resilienz und Flexibilität erfordert. Mit Klimakatastrophen, globaler Finanzkrise, europäischer Schuldenkrise, Pandemie und nun Krieg und Energiekrise haben wir in den vergangenen 15 Jahren bereits einen bitteren Vorgeschmack darauf erhalten, was uns bevorsteht. Und die Geschwindigkeit von Veränderungen wird stark zunehmen – seien es der exponentielle technologische Wandel, gerade in Bezug auf künstliche Intelligenz, oder die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels, wenn Kipppunkte erreicht sind.

»Deutschland AG« scheitert in Krisenzeiten

Der Kern des deutschen korporativen Wirtschaftsmodells der »Deutschland AG« ist das Primat der Wirtschaft über Staat und Gesellschaft, das den Merkantilismus und Protektionismus erklärt. Seit 70 Jahren gilt als zentrales wirtschaftliches Ziel, Exporte und globale Marktanteile zu maximieren und Importe möglichst gering zu halten. Das Modell funktioniert in guten Zeiten, wenn ein starkes Exportwachstum viele gute Arbeitsplätze sichert und Steuereinnahmen generiert. Die Begriffe Export- und Sparweltmeister werden in Deutschland als Erfolge verstanden, ohne die Kehrseiten zu sehen: den Mangel an Investitionen und die Einbußen beim Wohlstand.

Das Modell scheitert aber in Krisenzeiten, wenn globale Verflechtungen stärker zum Tragen kommen. Die Asymmetrie dieser Abhängigkeit bedeutet, dass viele deutsche Unternehmen sich erpressbar gemacht haben – und damit auch Staat und Gesellschaft in Mithaftung nehmen. Die hohe Abhängigkeit von fossilen Energieträgern aus Russland oder dem Nahen Osten ist nur ein Beispiel.

Damit macht sich Deutschland immer mehr zu einem Spielball von China , den USA und rohstoffreichen Staaten, die politisch wenig verlässlich sind. Eine werteorientierte Außenpolitik wurde über Jahrzehnte mit Unverständnis betrachtet. Es war wichtiger, China als Exportmarkt für deutsche Unternehmen zu öffnen als den Schutz der Menschenrechte anzumahnen, auf symmetrische Spielregeln zu pochen oder die gefährliche Abhängigkeit von China zu begrenzen. Investitionen in Klimaschutz oder in eine leistungsfähige Infrastruktur erhielten wenig Aufmerksamkeit, da sie kurzfristig teuer sind und sich lediglich langfristig rechnen. Als logische Konsequenz dieser Kurzsichtigkeit verschärfen sich die asymmetrischen Abhängigkeiten und scheitern Projekte für den Klimaschutz und viele andere Prioritäten.

Staat hat sich erpressbar gemacht

Dieser Merkantilismus und das Primat der Unternehmen machen den deutschen Staat zunehmend erpressbar. Denn für deutsche Unternehmen ist es rational, enorme langfristige Risiken einzugehen – wohl wissend, dass bei einem Scheitern der deutsche Staat gezwungen sein wird, als Versicherung zu fungieren und ihnen den wirtschaftlichen Schaden zu ersetzen. Dies passiert immer wieder und in kaum einem Land in einem so enorm hohen Ausmaß wie in Deutschland. So gab fast kein Staat in Europa so viel Geld nach der globalen Finanzkrise 2008 an seine Banken, die sich im Ausland verzockt hatten, obwohl dies in vielen Fällen für die Finanzstabilität gar nicht notwendig gewesen wäre. Und auch die Autokonzerne haben dem deutschen Staat damals eine ökonomisch völlig unsinnige Abwrackprämie abgerungen.

Auch in der Pandemie und jetzt in der Energiekrise gab es kaum einen Staat der Welt, der an seine Unternehmen mehr Subventionen und Hilfen ausschüttete. So große Summen, dass die europäischen Nachbarn nicht zu Unrecht den unfairen Wettbewerbsvorteil für deutsche Firmen monieren. Die deutsche Wirtschaft klagt heute bitterlich über die 370 Milliarden Dollar, die die US-Regierung Unternehmen, Haushalten und Kommunen für die Stärkung von Klimaschutz und nachhaltigen Technologien zur Verfügung stellt. Kaum erwähnt wird dagegen, dass Deutschland – mit einem Fünftel der Wirtschaftskraft der USA – fast die gleiche Summe primär für die Subvention von fossilen Energieträgern im Jahr 2022 bereitgestellt hat.

Viele verweisen bei ihrer Sorge um eine Deindustrialisierung auf das Beispiel von BASF , das nun manche energieintensive Produktion ins Ausland verlagert. Die Androhung deutscher Unternehmen, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, funktioniert meist hervorragend, um dem deutschen Staat weitere Gelder und Zugeständnisse abzupressen. Aber kaum jemand fragt, wie es dazu kommen konnte, dass BASF so abhängig von vermeintlich günstigem russischem Gas geworden war. Das Unternehmen war einer der Treiber hinter Nordstream 1 und 2 und hat sich bewusst in diese Abhängigkeit begeben. Wie viele deutsche Unternehmen verfolgt BASF offenbar die Strategie, in guten Zeiten die Erträge einzufahren, um in Krisenzeiten den Staat zu zwingen, sie zu retten.

Weniger Bürokratie und Lobbyismus

Die Erpressbarkeit des Staates reicht aber weiter, da der Staat nicht selten erhebliche Anteile an den Unternehmen hält. Dies erwies sich in der globalen Finanzkrise durch die staatlich garantierten Landesbanken als fatal. Bei Volkswagen hält Niedersachsen 20 Prozent der Stimmrechte. Ein solcher Konzern wird kaum jemals existenzielle Nöte erfahren, weil dies staatlichen Interessen zuwiderläuft.

Unternehmen und ihre Verbände klagen über die überbordende Bürokratie, die in kaum einem anderen Land größere Hürden schafft. Aber wer ist dafür verantwortlich? Das übliche Narrativ ist: Der Staat ist inkompetent, zu groß und zu ineffizient. Dies mag teilweise stimmen, aber der deutsche Staat ist sicherlich nicht weniger kompetent oder effizient als in Frankreich , Großbritannien oder die USA. Die Wahrheit ist auch, dass viele der Regeln auf Drängen der Unternehmen selbst entstehen, zum Teil motiviert durch den Wunsch, eigene Interessen zu schützen und sich Vorteile gegenüber Wettbewerbern zu verschaffen. Und Infrastrukturprojekte – etwa der Ausbau erneuerbarer Energien, eine leistungsfähige Schieneninfrastruktur oder ein besseres Bildungssystem – scheitern nicht selten an den Interessen einiger weniger.

Auch die vielen Gesetzgebungsverfahren, bei denen Unternehmen und Interessenverbände die Gesetzentwürfe in ihrem Sinne umschreiben dürfen, zeichnen ein Bild, bei dem die Politik bewusst der Wirtschaft das Steuerrad überlässt. Wie sollen so Veränderung und Erneuerung möglich sein?

Der Staat muss sich emanzipieren

Deutschland steht heute an einem wirtschaftspolitischen Wendepunkt. Die Politik muss das Wirtschaftsmodell grundlegend verändern und sich aus der Umklammerung der Wirtschaft lösen. Anstatt Unternehmen zu subventionieren und alte Strukturen zu zementieren, muss sie den Wettbewerbsdruck durch bessere Regulierung erhöhen, finanzielle Leistungen kürzen und im Gegenzug exzellente Rahmenbedingungen – von Infrastruktur, über Klimaschutz bis hin zu Fachkräften und einem hervorragenden Bildungssystem – bereitstellen.

Der Staat muss die überbordende Bürokratie massiv abbauen und Gesetze so gestalten, dass Entscheidungen schnell und transparent getroffen und umgesetzt werden können. Und die Politik muss ihre Prioritäten neu justieren und langfristiges Denken und Handeln in den Mittelpunkt stellen.

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