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Wer auf die Jugend zeigt, drückt sich vor der Verantwortung

Blog Marcel Fratzscher vom 31. März 2023

Fast überall in Deutschland fehlt Personal. Junge Menschen müssten mehr arbeiten, heißt es deshalb oft. Doch die Forderung verdeckt das eigentliche Problem.

"Mehr Bock auf Arbeit" forderte zuletzt Arbeitgeberpräsident Steffen Kampeter, eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Zu verweichlicht, zu wenig anpassungsfähig, zu wenig motiviert und zu antiautoritär seien viele junge Menschen heute im Arbeitsleben, sagen andere.

Dieser Text erschien am 31. März 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Die Debatte ist unter anderem auf den riesigen Fachkräftemangel in Deutschland zurückzuführen. In fast allen Branchen fehlt Personal. Es gibt fast zwei Millionen offene Stellen. In den nächsten zehn Jahren werden fünf Millionen weitere hinzukommen. Manche Arbeitgebervertreterinnen und -vertreter fordern daher nicht nur eine höhere Wochenarbeitszeit, sondern auch bessere finanzielle Anreize und weniger Hürden für Überstunden. Sie wünschen sich von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Einsatz und Flexibilität und verweisen auf Studien, nach denen sogenanntes Quiet Quitting zunimmt und immer mehr Beschäftigte lediglich Dienst nach Vorschrift machen. Und sie klagen über vermeintlich überzogene Ansprüche der Beschäftigten an hohe Löhne, flexible Arbeitszeiten und viele Urlaubstage. Kurzum lautet der Vorwurf: Vielen in der jungen Generation mangele es an Arbeitsmoral. Sie stellten Forderungen, ohne Rücksicht auf die Erwartungen ihrer Arbeitgeber zu nehmen. Aber stimmt das?

Manche Studien und Tatsachen stützen diese Behauptungen durchaus. Viele junge Menschen in Vollzeitbeschäftigung wünschen sich eine kürzere Wochenarbeitszeit und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch junge Väter wollen mehr Zeit für ihre Familie. Nie hat ein so hoher Anteil junger Menschen ein Studium begonnen, statt einen Ausbildungsplatz anzunehmen. Viele junge Beschäftigte sind heute deutlich mobiler als früher und gewillt, ihren Arbeitgeber zu wechseln. Und in der Tat haben junge Beschäftigte heute sehr viel höhere Ansprüche an ihre Arbeit und ihre Arbeitgeber als früher. Sie wünschen sich häufiger, die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeitzu verstehen, und sind seltener gewillt, den Anordnungen ihrer Vorgesetzten blind zu folgen.

Aber sind die oben genannten Schlüsse mancher Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber deshalb richtig? Drei große, grundlegende Veränderungen der Arbeit – das Was, das Wie und das Warum – sind wichtig, um die Antwort auf diese Frage zu finden.

Arbeit hat sich grundlegend verändert

Zum einen wird Arbeit heute grundlegend anders definiert als noch vor 25 oder 50 Jahren. Durch Automatisierung und Digitalisierung gibt es weniger mechanische, körperliche Arbeit und deutlich mehr Aufgaben, die das fordern, was uns als Mensch ausmacht: Kreativität, Zusammenarbeit und Empathie. Dies wird von den meisten Menschen begrüßt. Zudem ist die Unterscheidung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit fließender geworden. Unbezahlte Tätigkeiten haben für viele einen genauso hohen Stellenwert wie bezahlte Arbeit. Ein Beispiel ist die Pflege von Angehörigen, die auch durch die demografische Veränderung in Deutschland stark zugenommen hat und weiter zunehmen wird.

Aus dieser Perspektive lässt sich die Behauptung, dass junge Menschen heute nicht mehr hart genug arbeiteten, widerlegen: Wir haben mit fast 45,6 Millionen Beschäftigten in Deutschland eine Rekordbeschäftigung, mehr Menschen leisten unbezahlte Arbeit und auch die Freizeit vieler, vor allem von Frauen, hat tendenziell eher abgenommen. Menschen arbeiten nicht weniger hart, sondern sie arbeiten anders  – und sie arbeiten nicht weniger sinnstiftend für den Einzelnen und nicht weniger wertvoll für die Gesellschaft als Ganzes.

Hinzu kommt, dass vor allem sehr viele Frauen in Teilzeit angeben, mehr Stunden arbeiten zu wollen – wenn die Bezahlung besser wäre, es eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gäbe, mehr Flexibilität des Arbeitgebers und vor allem mehr Wertschätzung und Karrieremöglichkeiten. Es ist nicht ohne Ironie, dass jene Arbeitgeber, die heute eine fehlende Arbeitsmoral junger Menschen beklagen, auch häufig die sind, die sich am stärksten gegen eine Abschaffung dieser Hürden wehren – von Ehegattensplitting über Minijobs bis hin zu einer besseren Bezahlung und Karrieremöglichkeiten für Frauen.

Entgrenzung der Arbeit

Die zweite große Veränderung ist die Entgrenzung der Arbeit. Durch Digitalisierung und Globalisierung wird erwartet, dass Beschäftigte ständig erreichbar sind und sie schnell und flexibel reagieren. Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen, dass eine solche Flexibilisierung die Produktivität der Beschäftigten – wenn klug und in gesundem Maße genutzt – deutlich erhöhen kann. Gleichzeitig zeigen sich jedoch auch große Risiken, vor allem die Tendenz zur Selbstausbeutung oder die Überforderung durch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, mit erheblichen gesundheitlichen Schäden. Daher ist das erwähnte Quiet Quitting nicht primär das Resultat einer mangelnden Arbeitsmoral, sondern eines gesunden Selbstschutzes.

Der dritte große Wandel besteht in der Veränderung der Inhalte der Arbeit. Die Abnahme von körperlicher Arbeit und die zunehmende Bedeutung von Kreativität, Teamarbeit und Empathie erfordern mehr individuelle Entscheidungen und Eigenverantwortung für den Einzelnen. Das logische Resultat ist, dass viele – dies gilt für junge wie für ältere Beschäftigte – heute häufiger die Frage nach dem Sinn ihrer Tätigkeit stellen. Und auch hier zeigt sich in Bezug auf die Arbeitsmoral: Arbeit ist für die junge Generation heute nicht weniger, sondern vielleicht noch stärker identitäts- und sinnstiftend, als dies für die Generationen ihrer Eltern oder Großeltern der Fall war.

Junge Menschen fragen nach der Sinnhaftigkeit

Dass immer mehr junge Menschen nach der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit fragen und von ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern mehr Rechtfertigung und mehr Wertschätzung einfordern, ist lediglich die logische Konsequenz dieses Wandels. Junge Menschen haben heute im Arbeitsleben mehr Verantwortung für sich und für zukünftige Generationen, als dies jemals zuvor der Fall war. Viele junge Menschen nehmen diese Verantwortung ernst und fordern von ihren Arbeitgebern nicht nur eine gute Bezahlung, sondern einen Beitrag zur Nachhaltigkeit, Wertschätzung für Vielfalt und Diversität, Offenheit für neue Ideen und mehr Flexibilität. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Arbeit und Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen sind daher nicht Ausdruck einer fehlenden Arbeitsmoral, sondern, ganz im Gegenteil, sie sind vor allem Ausdruck eines hohen Verantwortungsbewusstseins junger Menschen für sich selbst, für ihre Familien und für die Gesellschaft.

Forderungen nach "mehr Bock auf Arbeit" und mehr Verantwortung der jungen Generation zeigen, wo das wirkliche Problem in unserer Gesellschaft liegt: Manche Entscheiderinnen und Entscheider der älteren Generation heute wollen ihre Privilegien genießen und die Verantwortung für die Probleme unserer Zeit, die sie mit verursacht haben – von geopolitischen Konflikten hin bis zu Finanzkrisen und einer drohenden Klimakatastrophe –, auf künftige Generationen schieben. Es ist höchste Zeit, aber nicht für eine andere Arbeitsmoral der jungen Generation, sondern für eine andere Moral der verantwortlichen Personen der älteren Generation: Sie sollten mehr Verantwortung für die von ihnen mit verursachten Probleme übernehmen und von sich selbst eine andere Arbeitsmoral verlangen. 

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