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Deutschland: Stagnation schürt Deflationsgefahr. DIW Berlin stellt Sommer-Grundlinien 2003/2004 vor

Pressemitteilung vom 1. Juli 2003

Deutschland befindet sich in einer wirtschaftlichen Krise. In seinen Sommer-Grundlinien der wirtschaftlichen Entwicklung 2003/2004 geht das DIW Berlin für 2003 von einem leichten Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts (-0,1%) aus. Eine durchgreifende konjunkturelle Wende ist auch für das nächste Jahr nicht in Sicht. Das jahresdurchschnittliche Wachstum dürfte dann rechnerisch bei 1,3 % liegen, wobei 0,6 Prozentpunkte auf einen Arbeitstageeffekt zurückgehen. Die konjunkturelle Rate liegt somit bei 0,7 %. Eine tiefe Rezession wie zuletzt 1993 ist zwar nicht zu erkennen, doch ist im Laufe der vergangenen drei Jahre jegliche wirtschaftliche Dynamik erloschen: Es herrscht Stagnation. Die größte Gefahr, die von der lang anhaltenden Stagnation ausgeht, besteht in einer Deflation.
Siehe auch Wochenbericht 27/2003- 28/2003.
Die Weltwirtschaft überwindet die lange Schwächephase nur sehr zögerlich. Vorreiter der Belebung sind die USA. Hier wurde die gesamtwirtschaftliche Produktion bereits merklich ausgeweitet, auch wenn das Tempo noch erheblich unter dem des vergangenen Aufschwungs liegt und die Unsicherheiten nach wie vor hoch sind. Es ist vor allem die stark expansive Wirtschaftspolitik in den USA, die die wirtschaftliche Aktivität belebt hat. In den USA wird das Bruttoinlandsprodukt im Jahre 2003 um 2,3 % und im nächsten Jahr um 3,4 % zunehmen. Auch in Mittel- und Osteuropa ist eine konjunkturelle Beschleunigung angelegt, die jedoch durch die Stagnation, die nach und nach den Euroraum erfasst hat, belastet wird. In Asien setzt sich die insgesamt robuste Ausweitung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in leicht vermindertem Tempo fort. Zusammen mit Südamerika bildet damit die EU das Schlusslicht der weltwirtschaftlichen Entwicklung.
In Deutschland werden die verfügbaren Einkommen dieses Jahr real um 1 % wachsen. Bei kaum veränderter Sparquote dürften die realen Konsumausgaben um etwa 0,8 % ausgeweitet werden. Im nächsten Jahr steigen die verfügbaren Einkommen um 1,7 %. Bei nahezu unveränderter Sparquote wird der private Konsum im Jahre 2004 real um 1,2 % zulegen. Die Ausrüstungsinvestitionen (einschließlich der Investitionen in sonstige Anlagen) steigen in diesem Jahr um 1,6 % und im nächsten Jahr um 4,6 %. Die Bauinvestitionen nehmen im Jahresdurchschnitt um 3,6 % in diesem Jahr und um 0,3 % im nächsten Jahr ab; arbeitstäglich bereinigt beträgt der Rückgang 2004 rund 2 %.
Neben der inländischen Schwäche kommen nunmehr Belastungen im Exportgeschäft, dem bisher dynamischsten Bereich der deutschen Wirtschaft, hinzu. Die Aufwertung des Euro fiel stärker aus als erwartet und dämpfte die Exportleistungen, während die Importe kräftig zunahmen. Die Exporte werden in diesem Jahr um 1,9 % und im kommenden Jahr um 3,6 % zunehmen, die Importen wachsen um 4,7 % im Jahre 2003 und um 4,1 % im Jahre 2004.
Die Arbeitslosigkeit nimmt vorerst weiter zu; die Zahl der Arbeitslosen wird in diesem Jahr im Durchschnitt 4,5 Millionen Personen betragen. Zu Beginn des Jahres 2004 wird es zwar Ansätze zu einer positiven Entwicklung der Erwerbstätigkeit geben; aber erst in der zweiten Jahreshälfte wird die Zunahme deutlicher ausfallen und sich in einer Verminderung der Arbeitslosigkeit niederschlagen, so dass im Jahresdurchschnitt 2004 eine zusätzliche Erhöhung der Zahl der Arbeitslosen um etwa 250 000 Personen auf 4,75 Millionen zu erwarten ist.
In Ostdeutschland wird die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr nur um knapp ½ % wachsen. Das reicht längst nicht aus, um die schon stark angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt zu stabilisieren. Die registrierte Arbeitslosigkeit wird deshalb weiter zunehmen; hinzu kommt, dass mit dem weiteren Abbau arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen bisher verdeckte Arbeitslosigkeit noch mehr zutage tritt. Für das nächste Jahr ist mit einem stärkeren Produktionswachstum zu rechnen (1½ %), so dass sich erst zum Jahresende 2004 die Lage auf dem Arbeitsmarkt aufhellen wird.
Das Defizitziel des Vertrags von Maastricht wird in diesem Jahr erneut weit verfehlt. Der Fehlbetrag wird mit 80 Mrd. Euro sogar noch höher ausfallen als im Vorjahr; in Relation zum Bruttoinlandsprodukt ergibt sich ein Wert von 3,7 %. Für das nächste Jahr zeichnet sich ein Rückgang des Staatsdefizits auf 66 Mrd. Euro ab. Dennoch wird die Defizitquote bei 3 % liegen, weil die nur schleppende Konjunktur die öffentlichen Haushalte belastet.
In Deutschland sind alle Voraussetzungen für eine Deflation gegeben. Die Inflationsentwicklung ist unter die 1-Prozent-Marke gefallen und befindet sich damit in einem Bereich, der bereits als prädeflationär angesehen werden kann. Die lang anhaltende Stagnation in Deutschland hat zu erheblichen Überkapazitäten geführt, durch die ein fortwährender Druck auf die Preise ausgeübt wird. Zentrale Aufgabe der Wirtschaftspolitik muss es daher sein, die Stagnation und deflationäre Tendenzen zu bekämpfen. Primär ist hierzu die Geldpolitik aufgerufen. Nur sie kann über eine Zinspolitik, die im Vorfeld einer Deflation die Zinsen hinreichend stark senkt, um Preissteigerungserwartungen zu erzeugen, eine harte Barriere gegen die Entfaltung einer Deflation aufbauen. Da sich mittlerweile von Deutschland ausgehend die Stagnationstendenzen im gesamten Euroraum ausgebreitet haben und sich fast überall das Preisklima spürbar beruhigt, ist ein deutliches Zinssignal durchaus angebracht.
Auch die Finanzpolitik ist in dieser Situation gefordert, einen prononciert expansiven Kurs einzuschlagen. Die Bekämpfung der Stagnation und der Deflationsgefahren muss Vorrang vor kurzfristigen Konsolidierungsmaßnahmen haben, denn in einer Deflation wird, wie nicht zuletzt das Beispiel Japans zeigt, jeder Konsolidierungsversuch scheitern. Der Versuch, den öffentlichen Haushalt in Deutschland auf der Basis kurzfristiger Defizitziele zu konsolidieren, kann als gescheitert betrachtet werden. Aus diesem Grunde ist ein Strategiewechsel dringlich, der beiden Zielen – der mittelfristigen Konsolidierung und der konjunkturellen Flexibilität – gerecht wird. Das DIW Berlin hat schon seit längerem und immer wieder auf die diesbezüglichen Vorteile einer an einem fixierten Ausgabenpfad orientierten Konsolidierungsstrategie hingewiesen.
Berechnungen des DIW Berlin haben ergeben, dass ein Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform das Steueraufkommen im Jahre 2004 um insgesamt 16,3 Mrd. Euro vermindern würde. Infolge der Entlastung dürfte deshalb bereits im Jahre 2004 das Wirtschaftswachstum um 0,3 % Prozentpunkte höher ausfallen, insgesamt also 1,6 % anstatt der prognostizierten 1,3 % betragen. Wachstumseffekte werden vom Modell auch für das Folgejahr ausgewiesen. Der größte Einfluss geht dabei von der deutlich besseren Entwicklung des privaten Verbrauchs aus. Aber auch die privaten Investitionen werden angeregt. Durch das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform kann jedoch kein Aufschwung initiiert werden, selbst wenn die Gegenfinanzierung durch Subventionsabbau erst später wirksam wird.
Das DIW Berlin plädiert für einen konsequenten Subventionsabbau. Mit einem Volumen von reichlich 10 Mrd. Euro wird der Wohnungsbau am stärksten gefördert. Die Förderung erscheint aufgrund des aktuellen Überangebots am Wohnungsmarkt ökonomisch wenig sinnvoll. Die Eigenheimzulage ist auch deshalb problematisch, weil sie die Wanderung aus der Stadt ins Umland mit ihren nachteiligen Wirkungen begünstigt („Zersiedelungsprämie“). Ordnungspolitisch fragwürdig ist die Steuerbefreiung für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, die mit Steuerausfällen in Höhe von jährlich etwa 2 Mrd. Euro verbunden sein dürfte. Höhere Belastungen der Arbeitnehmer durch Schichtarbeit u.Ä. sollten sich in den Lohnzahlungen niederschlagen und nicht von der Allgemeinheit getragen werden. Die steuerliche Abzugsfähigkeit von Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz (Entfernungspauschale) schlägt mit schätzungsweise mit 6 Mrd. Euro zu Buche. Sie ist zumindest in dem Maße nicht gerechtfertigt, wie der Steuerpflichtige durch die Wohnsitzverlagerung in ballungsferne Räume deutlich niedrigere Grundstückspreise und Mieten zahlt; auch ökologische Gründe sprechen dagegen.
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