Direkt zum Inhalt

Deutsche Wirtschaft schaltet vorübergehend einen Gang zurück

Pressemitteilung vom 8. September 2016

Konjunkturprognose des DIW Berlin: Bruttoinlandsprodukt in Deutschland steigt 2016 um 1,9 Prozent, 2017 um 1,0 Prozent und 2018 um 1,6 Prozent – Folgen des Brexit-Votums belasten das Wachstum vorübergehend – Arbeitslosigkeit geht weiter zurück, Lohnzuwächse schwächen sich aber ab – Öffentliche Kassen in allen drei Jahren mit Überschüssen

Der deutsche Konjunkturmotor dürfte vorübergehend etwas ins Stottern geraten: Laut der aktuellen Konjunkturprognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) wird das Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr nach einem unerwartet kräftigen Jahresauftakt zwar noch um voraussichtlich 1,9 Prozent zunehmen und damit sogar etwas stärker als im Juni vom DIW Berlin prognostiziert. Im Winterhalbjahr dürfte dann aber das Brexit-Votum seine Spuren hinterlassen und das deutsche Wirtschaftswachstum belasten. Auch deshalb wird die deutsche Wirtschaftsleistung im kommenden Jahr um lediglich 1,0 Prozent zunehmen. Außerdem macht sich bemerkbar, dass es im kommenden Jahr drei Arbeitstage weniger gibt als in diesem Jahr – dies allein dämpft das Wachstum um vier Zehntel-Prozentpunkte.

KURZ GESAGT

Marcel Fratzscher (Präsident des DIW Berlin): „Die deutsche Wirtschaft wird wohl im kommenden Jahr einen deutlichen Dämpfer erhalten. Das Brexit-Votum der britischen Bevölkerung schafft Unsicherheit und wird weltweit viele Unternehmen veranlassen, ihre Investitionen aufzuschieben. Das trifft Deutschland doppelt: Es dämpft die ohnehin schon schwachen Unternehmensinvestitionen und belastet die stark auf Investitionsgüter ausgerichteten deutschen Ausfuhren. Und die Befürchtung ist groß, dass die öffentliche Hand die hohen Überschüsse für Wahlgeschenke nutzt statt Investitionen in Infrastruktur und Bildung zu erhöhen.“

Ferdinand Fichtner (Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik): „Im Euroraum dürfte sich das Wachstum nur noch verhalten entwickeln. Zu schwer wiegen neben dem Brexit auch andere Baustellen, die Probleme schüren. Dazu zählt neben der Krise im italienischen Bankensektor und dem Wirrwarr bei der Regierungsbildung in Spanien auch die weltweite Tendenz zu immer mehr Protektionismus, die insbesondere die exportorientierte deutsche Industrie treffen könnte.“

Simon Junker (stellvertretender Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik): „Aufgrund des unerwartet kräftigen Jahresauftakts wird die Wirtschaftsleistung in Deutschland in diesem Jahr zwar noch um 1,9 Prozent steigen, zumindest für das nächste Jahr sieht es aber mau aus: Der Brexit belastet vor allem den Außenhandel, außerdem drücken nicht mehr so stark steigende Konsumausgaben – aber auch die geringere Zahl an Arbeitstagen – die Wachstumsrate. Die Beschäftigung steigt zwar weiter, verliert aber an Dynamik.“

Kristina van Deuverden (Finanzexpertin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Konjunkturpolitik): „Die öffentlichen Haushalte schließen insgesamt weiterhin mit deutlichen Überschüssen ab, allerdings wird der Finanzierungssaldo in den kommenden Jahren bei weitem nicht mehr so hoch sein wie in diesem. Das ist auch Konjunktur, es liegt aber auch daran, dass die Sozialversicherungen ins Minus rutschen. Dahinter steht auch die Alterung der Bevölkerung, dies wird sich in den kommenden Jahren zuspitzen.“

Der deutsche Außenhandel dürfte durch die Brexit-Entscheidung bis zur Jahresmitte 2017 gebremst werden. Zum einen importiert das Vereinigte Königreich weniger Produkte, zum anderen sorgt die Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen Großbritanniens mit der Europäischen Union auch in anderen Ländern für Ausgabenzurückhaltung und eine geringere Nachfrage nach Produkten „Made in Germany“. Nicht zuletzt deshalb schieben hiesige Unternehmen Investitionen weiter auf. Erst ab Mitte kommenden Jahres, wenn sich die Weltkonjunktur nach und nach erholt, dürfte die deutsche Wirtschaft wieder auf einen etwas steileren Wachstumspfad einschwenken. Im Jahr 2018 dürften im Durchschnitt 1,6 Prozent Wachstum erreicht werden.

Entwicklung im Euroraum verliert an Schwung

Für die Weltwirtschaft ist der DIW-Prognose zufolge mit 3,2 Prozent für dieses Jahr und 3,5 Prozent für das kommende Jahr nur ein verhaltenes Wachstum zu erwarten; die Prognose für das Jahr 2018 liegt bei knapp vier Prozent. Zwar stabilisiert sich das Wachstum in großen Schwellenländern wie China und auch in den USA nimmt die Konjunktur etwas Fahrt auf. Allerdings trüben die Brexit-Entscheidung und die mit ihr verbundene Unsicherheit die Stimmung. Das gilt vor allem für das Vereinigte Königreich, aber auch den Euroraum: In wichtigen Ländern wie Italien und Frankreich hat das Wachstum zuletzt ohnehin deutlich an Schwung verloren, die Produktion stagnierte nur noch. Schon zuvor bestehende Probleme wie die Krise im italienischen Bankensektor sind infolge des Brexit-Referendums wieder in den Fokus gerückt und beeinträchtigen vielerorts die Finanzierungsbedingungen und damit die Investitionstätigkeit.

Die Risiken für die Prognose sind beträchtlich: Neben den kaum absehbaren Folgen der Brexit-Entscheidung stellen auch das bevorstehende Verfassungsreferendum in Italien und die schwierige Regierungsbildung in Spanien eine Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung dar. Die Situation der öffentlichen Haushalte und im Bankensektor ist zudem vielerorts noch immer angespannt. Der Welthandel könnte durch zunehmenden Protektionismus, auch infolge der US-Präsidentschaftswahlen im November, eingeschränkt werden – was insbesondere die exportorientierte deutsche Industrie treffen würde.

Beschäftigungsaufbau in Deutschland geht weiter

Umso bedeutender ist es, dass die binnenwirtschaftliche Dynamik in Deutschland günstig ist und wohl auch bleibt. Die Arbeitslosenquote wird der DIW-Prognose zufolge von 6,1 Prozent im laufenden Jahr bis auf 5,8 Prozent im Jahr 2018 sinken. Der Beschäftigungsaufbau bleibt kräftig, wenngleich er etwas an Schwung verliert. In diesem Jahr dürften voraussichtlich eine halbe Million neue Jobs entstehen, in den kommenden beiden Jahren jeweils rund 350.000; die Erhöhung des Mindestlohns zum Jahresbeginn 2017 wird wohl – wie bereits die Einführung 2015  – keine maßgeblichen Beschäftigungswirkungen haben. Der private Verbrauch bleibt in diesem Umfeld ein wichtiger Wachstumstreiber, wenngleich nicht mehr in dem Ausmaß wie im vergangenen Jahr. Dies liegt auch daran, dass sich die Lohnsumme eher verhalten entwickelt und von den Ölpreisen keine Kaufkraftgewinne mehr zu erwarten sind: Annahmegemäß gehen diese im Prognosezeitraum nicht weiter zurück. Die Bauwirtschaft bleibt robust und wird ihren Aufwärtstrend auch aufgrund der niedrigen Zinsen und der starken Nachfrage nach Wohnimmobilien weiter fortsetzen. Die Investitionen der Unternehmen in Maschinen und Ausrüstungen dürften dagegen schwach bleiben und erst im späteren Verlauf – bei dann dynamischerer Weltkonjunktur – stärker ausgeweitet werden.

Überschüsse in den öffentlichen Haushalten gehen zurück

Der öffentliche Gesamthaushalt wird in diesem Jahr und auch in den kommenden beiden Jahren mit Überschüssen abschließen, die mit der Zeit aber merklich kleiner werden. Die Einnahmen expandieren in diesem Jahr zwar noch kräftig, um 4,1 Prozent, vor allem weil die Gewinnsteuern stark zulegen. Im kommenden Jahr – wenn die Gewinne nur wenig steigen – dürften die Gewinnsteuern hingegen rückläufig sein. Die Lohnsteuereinnahmen büßen im weiteren Verlauf an Dynamik ein, da die Lohnsumme eher verhalten zunimmt. Kräftig entwickeln sich dagegen die Sozialbeiträge, auch weil der kumulierte Beitragssatz in jedem Jahr des Prognosezeitraums steigen wird. Insgesamt dürften die Einnahmen in den kommenden beiden Jahren deutlich weniger zulegen als in diesem.

Dies gilt auch für die Ausgaben. Vor allem im laufenden Jahr ist die Dynamik hoch: Mehr Flüchtlinge werden anerkannt und diesen stehen höhere Leistungen zu als während des Asylverfahrens, die Renten sind Mitte des laufenden Jahres außergewöhnlich stark gestiegen und das Kindergeld wurde erhöht. Auch in den kommenden Jahren nehmen die Transferausgaben spürbar zu: Zu Beginn des Jahres 2017 werden die Regelsätze für Arbeitslosengeld II wohl deutlich angehoben, es werden Mittel für Eingliederungsmaßnahmen bereitgestellt, die Pensionszahlungen steigen weiter deutlich und die Rentenanpassungen dürften spürbar sein. Zusammengenommen werden die Sozialversicherungen ab dem kommenden Jahr ein Defizit erzielen, auch weil ihre Ausgaben aufgrund der Alterung der Bevölkerung immer schneller steigen. Unter dem Strich dürfte der Finanzierungssaldo des Staates mit 27 Milliarden Euro in diesem Jahr, 15 Milliarden Euro im nächsten und 16 Milliarden Euro im übernächsten Jahr aber deutlich positiv bleiben.

Links

Interview: "Brexit-Votum ist Gift für die Investitionstätigkeit in Deutschland" - Sieben Fragen an Ferdinand Fichtner (Print (PDF, 138.57 KB) und
O-Ton von Ferdinand Fichtner
Brexit-Votum ist Gift für die Investitionstätigkeit in Deutschland - Sieben Fragen an Ferdinand Fichtner
keyboard_arrow_up