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Europäische Arbeitslosenversicherung macht Währungsunion stabiler - ist aber mit Risiken verbunden

Pressemitteilung vom 31. Oktober 2012

DIW Berlin untersucht Mechanismen zur Angleichung von Konjunkturverläufen in der Eurozone

Transfersysteme innerhalb der Eurozone können einen Beitrag dazu leisten, konjunkturelle Schwankungen und das wirtschaftliche Auseinanderdriften einzelner Staaten zu verhindern. Allerdings wären solche Ausgleichsmechanismen mit erheblichen Risiken verbunden. Das geht aus aktuellen Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hervor. „Automatische Finanzflüsse zwischen Boomländern und Staaten, die sich in einer Rezession befinden, können ein wichtiger Baustein der Bemühungen sein, die Währungsunion auf lange Sicht krisenfester zu machen“, sagt DIW-Konjunkturchef Ferdinand Fichtner. Konkret haben die DIW-Forscher die Möglichkeit einer europäischen Arbeitslosenversicherung untersucht. Den Berechnungen zufolge hätte die Versicherung in den Jahren von 1999 bis 2011 über jährlich durchschnittlich 55 Milliarden Euro verfügen müssen, was etwa 0,75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone entsprochen hätte.

Hintergrund der Überlegungen ist das Ziel, der Europäischen Zentralbank (EZB) wieder eine für alle Länder angemessene gemeinsame Geldpolitik zu ermöglichen. Der Leitzins der Notenbank orientiert sich an der durchschnittlichen Inflations- und Konjunkturentwicklung im Währungsraum. Bei unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklungen, denen die Länder nicht mehr wie früher durch Wechselkursanpassungen begegnen können, ist der Zinssatz für derzeit wirtschaftsstarke Staaten wie Deutschland zu niedrig und für schwache Länder wie Griechenland zu hoch, weshalb sich die gegensätzlichen Konjunkturverläufe sogar noch verstärken. „Eine Harmonisierung der Konjunkturverläufe wäre daher wünschenswert, damit der einheitliche Zinssatz für möglichst viele Länder passend ist“, sagt DIW-Forscherin Kerstin Bernoth.

Konjunkturschwankungen könnten erheblich abgemildert werden

Die europäische Versicherung könnte Arbeitslosen in einem Modell des DIW Berlin eine 50-prozentige Lohnersatzleistung für längstens ein Jahr zahlen, eine darüber hinausgehende Absicherung bliebe in der Verantwortung der einzelnen Länder. Somit zielt das Instrument ausschließlich auf Kurzzeitarbeitslosigkeit ab. „Das hat den Vorteil, dass die Regierungen keinen Anreiz haben, notwendige Maßnahmen zum Abbau struktureller und somit langfristiger Arbeitslosigkeit zu unterlassen“, sagt Sebastian Dullien, Wirtschaftsprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin und Mitautor der Studie. Hätte es eine solche Versicherung bereits in der Vergangenheit gegeben, wären Konjunkturschwankungen in Ländern der Eurozone deutlich abgemildert worden: In Spanien wäre der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in der Finanzkrise um nahezu ein Viertel geringer ausgefallen, in Irland und Griechenland hätten zehn Prozent des Verlusts an Wirtschaftskraft vermieden werden können. Auch Deutschland hätte profitiert: Von 2003 bis 2005, als sich die deutsche Konjunktur schwächer als im Rest der Eurozone entwickelte, wäre Deutschland Nettoempfänger gewesen und hätte mit Hilfe der zu diesem Zeitpunkt höheren Einzahlungen wirtschaftsstärkerer Länder seine ökonomische Situation verbessert.

Die Entlastung konjunkturell angeschlagener Staaten und die Belastung von Ländern mit gut laufender Konjunktur würden weitgehend automatisch erfolgen, die Zahlungen wären also nur geringen politischen Einflüssen unterworfen. Zudem wäre die europäische Arbeitslosenversicherung sehr zielgenau: Da Arbeitslose ihr Einkommen nahezu vollständig für Konsumzwecke ausgeben, dürften die Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt schnell eintreten und hoch sein. Nach Vorstellung des DIW Berlin müssten die Lohnnebenkosten dabei kaum steigen: „Die europäische Arbeitslosenversicherung übernimmt einfach Teile der Aufgaben der nationalen Versicherungen“, erläutert Dullien. Entsprechend könnten die Beiträge hierfür gesenkt werden. Allerdings: „Strukturelle Ungleichgewichte etwa in der Wettbewerbsfähigkeit, die mitverantwortlich für die aktuelle Krise im Euroraum sind, können durch die europäische Arbeitslosenversicherung nicht behoben werden“, sagt Philipp Engler, Professor an der Freien Universität Berlin.

Zusätzliche Institutionen nicht unbedingt erforderlich und mit hohen Bürokratiekosten verbunden

Es gibt allerdings auch gravierende Einwände gegen die Einführung von Mechanismen zur Harmonisierung der Konjunkturverläufe in der Eurozone. „Eine verantwortliche Politik reicht völlig aus, um Fehlentwicklungen gegenzusteuern. Durch eine solche Politik wäre auch die Krise zu vermeiden gewesen“, sagt der DIW-Arbeitsmarktexperte Karl Brenke. Eine europäische Arbeitslosenentwicklung sei verzichtbar, weil die bestehenden nationalen Versicherungen bereits zur Konjunkturstabilisierung beitragen. Sie müssten nur ausreichend finanziert sein. Bei einer europäischen Arbeitslosenversicherung käme es lediglich zur Einrichtung zusätzlicher Kompetenzen auf EU-Ebene, zu einem erheblichen Aufwand bei der Vereinheitlichung der nationalen Versicherungssysteme und zu mehr Bürokratie bei der Kontrolle der Mittelverwendung. Überdies wäre zumindest in der Startphase mit einer erheblichen Umverteilung von Mitteln zu rechnen, was Verteilungsfragen in den Geberländern aufwerfen könnte.

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