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Ein fiskalischer Versicherungsmechanismus für Europa

DIW Roundup 12, 4 S.

Malte Rieth

2014

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4. April 2014, Malte Rieth mrieth@diw.de

Während die europäische Bankenunion seit dem Finanzministertreffen im Dezember 2013 konkrete Züge annimmt, bleiben die Vorschläge der Politik zur Gestaltung einer Fiskalunion vage. Hingegen werden in der Wissenschaft und politischen Beratung mittlerweile mehrere Modelle eines finanzpolitischen Transfersystems für die Europäische Union oder die Eurozone diskutiert. Diese Zusammenfassung erklärt, warum eine solches System sinnvoll sein kann und stellt die alternativen Modelle vor.

Warum ein fiskalischer Versicherungsmechanismus? Die Ausgangslage

Das Mandat der Europäischen Zentralbank ist die Stabilisierung der mittelfristigen Preisentwicklung im gesamten Euroraum. Ihre Leitzinspolitik ist daher nicht an dem Konjunkturverlauf einzelner Mitgliedsländer ausgerichtet, sondern an der durchschnittlichen Wachstumsrate aller Mitgliedsländer. Da die Wirtschaftszyklen der Länder nicht vollständig synchron verlaufen, kann der einheitliche Leitzins für ein Land, das sich gerade in einem Aufschwung befindet, zu niedrig sein, während er für ein Land, das einen Abschwung durchläuft, zu hoch ist. Es wäre daher aus geldpolitischer Sicht wünschenswert, wenn die zyklische Finanzpolitik so ausgestaltet würde, dass die länderspezifischen Konjunkturschwankungen stärker parallel verliefen.

Bisher wurde kontrazyklische Finanzpolitik - also etwa die Stimulierung der Nachfrage durch staatliche Ausgabenprogramme in einer Rezession - überwiegend auf Ebene der Mitgliedsländer durchgeführt. Zwei Entwicklungen haben jedoch dazu beigetragen, dass diese Aufgabe von einzelnen Ländern kaum mehr erfüllt werden kann. Erstens führten einige Länder die finanzpolitische Konjunktursteuerung asymmetrisch durch. Zwar erhöhten sie die Defizite im Abschwung, um die Wirtschaftsentwicklung zu stimulieren. Aber sie erwirtschafteten in Aufschwungsphasen kaum Überschüsse. Über die Jahre stiegen dadurch die staatlichen Schuldenstände stark an. Zweitens retteten viele Mitgliedsländer in Folge der globalen Finanzkrise ihre Bankensysteme mit riesigen Summen. Auch dies ließ die staatliche Verschuldung nach oben schnellen. Beide Entwicklungen führten dazu, dass viele Staaten sich nur noch zu sehr hohen Kosten am Kapitalmarkt verschulden konnten. Da es zudem Jahrzehnte dauern dürfte, bis die öffentlichen Schuldenstände zurück geführt sind, wird der finanzpolitische Spielraum vieler Mitgliedsländer weiterhin stark eingeschränkt bleiben. Damit fehlt diesen Ländern die Möglichkeit zur Konjunkturglättung und -synchronisierung, da sie sich etwa in einer Rezession kaum noch verschulden können, um durch zusätzliche staatliche Ausgaben die Nachfrage zu erhöhen.

In Wissenschaft und Politik wird daher über verschieden Alternativen nachgedacht, die Finanzpolitik innerhalb der EU so auszugestalten, dass die Zyklen der Mitgliedsländer stärker synchron verlaufen. Die Modelle basieren auf der Grundidee eines fiskalischen Versicherungsmechanismus zwischen den Mitgliedsländern, bei dem ein Land etwa im Konjunkturabschwung Transfers erhält, um die Nachfrage zu stimulieren. Eine exzellente Übersicht über den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse bis zum Jahr 2008 bietet die Studie von von Hagen und Wyplosz (2008).

Die verschiedenen Modelle

In Analogie zur Funktionsweise auf Ebene der Mitgliedsländer schlagen Bernoth und Engler (2012) sowie die EU-Kommission (2012) vor, kontrazyklische Finanzpolitik auf EU-Ebene durchzuführen. Aufschwungsländer würden fiskalische Transfers in das EU-Budget einzahlen, Abschwungsländer würden sie zur Stimulierung der Binnenkonjunktur erhalten. Zu beachten ist hierbei, dass es sich ausschließlich um konjunkturbezogene Transfers handeln soll, nicht hingegen um permanente Transfers zur Angleichung der Einkommensniveaus innerhalb der EU. Trotzdem wäre eine notwendige Voraussetzung für dieses System eine Ausweitung des EU-Budgets, verbunden mit der Befugnis Schulden aufzunehmen. Die Schuldenaufnahme wäre notwendig, wenn sich die Mehrzahl der Mitgliedsländer in einem Abschwung befindet und Transfers erhalten soll. Zwar ist dieses Modell bei optimaler Ausgestaltung sehr effektiv zur Synchronisierung der länderspezifischen Zyklen geeignet. Aber es birgt die Gefahr der Schuldenakkumulation auf EU-Ebene, sollte die Finanzpolitik - analog zur Problematik auf Länderebene - asymmetrisch durchgeführt werden.

Um dieser Problematik zu begegnen, wird von Autoren der Tommaso Padoa-Schioppa Group (2012) ein produktionslückenbasiertes Transfersystem vorgeschlagen (siehe auch Enderlein et al., 2013). Es würde außerhalb des EU-Budgets angesiedelt sein. Ein- und Auszahlungen werden an die Relation zwischen länderspezifischer und EU-durchschnittlicher Produktionslücke geknüpft. Wäre etwa in Deutschland die Unterauslastung noch ausgeprägter als in der gesamten EU, würde es Transfers erhalten; andernfalls würde es einzahlen. Per Konstruktion gleichen sich Ein- und Auszahlungen immer genau aus, so dass keine Schuldenaufnahme nötig ist. Aber auch dieses Modell weist einige Schwächen auf. So bestehen erhebliche methodische Unsicherheiten bei der Bestimmung der Produktionslücke, die zudem häufigen Revisionen unterliegt. Auch besteht die Gefahr, dass Transfers in den nationalen staatlichen Haushalten versickern und kaum nachfragewirksam eingesetzt werden.

Daher wird von der Stiftung Wissenschaft und Politik (2008) oder dem DIW (2012) eine europäische Arbeitslosenversicherung als alternatives Modell diskutiert. Diese funktioniert nach demselben Prinzip wie die entsprechenden nationalen Arbeitslosenversicherungen und würde diese teilweise ersetzen. Jeder Beschäftigte zahlt einen Teil seiner Beiträge in die europäische Versicherung ein und erhält im Fall von Arbeitslosigkeit Transfers aus dem gemeinsamen Topf. Es wird nur kurzfristige Arbeitslosigkeit abgedeckt, um die Anreize der Mitgliedsländer nicht zu untergraben, Maßnahmen gegen langfristige Arbeitslosigkeit zu ergreifen. Den Mitgliedsländern bliebe es darüber hinaus freigestellt, den Sockelbetrag, den jeder Arbeitslose aus dem gemeinsamen Topf erhält, um Zuzahlungen aus den nationalen Versicherungen aufzustocken, um das bisherige Niveau der Absicherung aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zum produktionslückenbasierten Modell bestehen bei der Bestimmung der Bezugsgröße der Transfers, der kurzfristigen Arbeitslosigkeit, sehr viel geringere statistische Probleme. Außerdem hätte das Modell den Vorteil, dass Transfers nicht in den nationalen Staatshaushalt fließen, sondern zielgenau jenen Personen zugute kommen, die im Durchschnitt auch eine relativ hohe Konsumquote haben, so dass die Nachfrage stimuliert wird. Ein Nachteil des Systems besteht hingegen darin, dass nur Arbeitseinkommen einbezogen werden. Brenke (2012) weist zudem darauf hin, dass die sehr unterschiedlichen nationalen Systeme zunächst harmonisiert werden müssten, um die Effizienz und Effektivität einer europäischen Versicherung zu gewährleisten.

Aus dieser Sicht stehen BIP-indizierten Anleihen, die von Autoren der Bank of England und Bank of Canada (2013) vorgeschlagen werden, am anderen Ende des Spektrums der Modelle, da es sich um ein ausschließlich finanzmarkt-, also kapitalbasiertes Modell handelt. Hierbei emittieren die Mitgliedstaaten Anleihen, deren Kupons positiv an das nominale BIP-Wachstums gekoppelt sind. In einer Rezession fallen daher weniger Zinszahlungen an, so dass im nationalen Haushalt Spielraum für Konjunktursteuerung geschaffen wird. Im Allgemeineren Sinne wird dem Privatsektor damit zudem die Möglichkeit eingeräumt, am Wirtschaftlichen Wachstum eines Landes teilzuhaben. Besonders effektiv wird dieses Instrument, wenn die Anleihen von ausländischen Investoren gehalten werden, da es dann zu einer noch stärkeren zyklischen Umverteilung von Ressourcen kommt. Allerdings müsste auch dieses Modell zunächst relativ hohe Einführungshürden überwinden. So bedarf es etwa einer Marktplattform und ausreichend Liquidität der gehandelten Anleihen. Zudem dürfte am Anfang für Investoren erhebliche Unsicherheit über die faire Bewertung des Finanzinstruments bestehen.

Fazit

Ob und welches der vorgestellten Modelle sich in der Praxis durchsetzen wird, dürfte nicht nur von ihrer ökonomischen, sondern auch von ihrer politischen Beurteilung abhängen. Während die Ausweitung des EU-Budgets und das produktionslückenbasierte System bei optimaler Ausgestaltung und aus gesamteuropäischer Sicht ökonomisch am effektivsten erscheinen, dürften sie gerade in der hiesigen politischen Landschaft die stärksten Widerstände auslösen. Sie beinhalten die potentiell größten Umverteilungswirkungen und sind zudem mit der umfassendsten Kompetenzverlagerung auf die EU-Ebene verbunden. Hingegen haben BIP-indizierte Anleihen den Charme, dass sie zunächst von einer Gruppe von Ländern, oder im Extremfall zunächst von einzelnen Ländern eingeführt werden könnten. Für die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung müsste wiederum wohl erst eine stärkere Harmonisierung der nationalen Arbeitsmarktinstitutionen erfolgen.

Quellen

Bernoth, Kerstin und Phillipp Engler (2012), „Konjunkturelle Ausgleichszahlungen als Stabilisierungsinstrument in der Europäischen Währungsunion" DIW Wochenbericht 44/2012. (PDF, 122.83 KB)

Brenke, Karl (2012), "Mechanismen zur Harmonisierung der Konjunkturverläufe in der Eurozone - eine skeptische Sicht", DIW Wochenbericht 44/2012. (PDF, 105.54 KB)

Brooke, M., Mendes, R., Pienkowski, A., und Eric Santor (2013), "Sovereign default and state-contingent debt", www.voxeu.org.

Dullien, Sebastian (2008), „Eine Arbeitslosenversicherung für die Eurozone", SWP-Studie.

Dullien, Sebastian und Ferdinand Fichtner (2012), „Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung für den Euroraum", DIW Wochenbericht 44/2012. (PDF, 141.59 KB)

Enderlein, Henrik (Koordinator) , Peter Bofinger, Laurence Boone, Paul de Grauwe, Jean-Claude Piris, Jean Pisani-Ferry, Maria João Rodrigues, André Sapir, António Vitorino (2012), „Completing the Euro - A road map towards fiscal union in Europe", Report of the Tommaso Padoa-Schioppa Group.

Enderlein, Guttenberg, und Spiess (2013), „Blueprint for a cyclical shock insurance in the Euro Area", Studies and Reports Jaques Delors Institute.

Europäische Kommission (2012), „A blueprint for a deep and genuine economic and monetary union - Launching a European debate", COM(2012) 777 final.

von Hagen, Jürgen und Charles Wyplosz (2008), "EMU's Decentralized System of Fiscal Policy" - European Economy. Economic Papers. 306. February 2008. Brussels. 25pp.

Malte Rieth

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Makroökonomie


Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/111787

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