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Rente und Reform: Lehren aus der Vergangenheit

DIW Roundup 14, 6 S.

Holger Lüthen

2014

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11. April 2014, Holger Lüthen hluethen@diw.de

In der aktuellen Diskussion um das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (oder auch das Rentenpaket) wird immer wieder betont, dass es sich hierbei um einen Rückschritt gegenüber den Reformen der letzten Jahre handelt. Allerdings wird hierbei nicht genau spezifiziert, inwiefern das Rentenpaket einen Rückschritt darstellt. Vielmehr wird oft darauf hingewiesen, dass Frühverrentung stark zunehmen und die Erfolge der letzten Jahre abschwächen könnte. Doch was ist in den letzten Jahren genau passiert und inwiefern sind die Reformen der vergangenen Jahre hierfür verantwortlich? Ein Überblick über die Reformen der letzten Jahre soll helfen, das Rentenpaket besser einordnen zu können. Die Reformen werden kurz zusammengefasst. Bei den betrachteten Reformen handelt es sich um die Rente mit 67, die Abschaffung der Rente nach Arbeitslosigkeit und die Einführung der Abschläge für vorzeitigen Renteneintritt. Des Weiteren werden Studien herangezogen, die vergangene Reformen der Sozialversicherungen evaluieren. Diese Studien analysieren Arbeitsmarktpartizipation und Renteneintrittsverhalten in der relevanten Altersgruppe und können daher Hinweise auf mögliche Auswirkungen des Rentenpakets liefern. 

Im Zuge des Koalitionsvertrags ist geplant, eine Reform der Rentenversicherung durchzuführen (Bach et al., 2013 (PDF, 0.68 MB)), welche unter anderen eine abschlagsfreie Rente für besonders langjährig Versicherte (45 Beitragsjahre) im Alter von 63 Jahren einführt. Die Bundesregierung selbst bezeichnet ihr Rentenpaket als „nicht geschenkt, sondern verdient" (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2014). Hierbei wird argumentiert, dass Personen, die besonders lange in das Rentenversicherungssystem eingezahlt haben, für ihre Lebensleistung belohnt und nicht durch Abschläge bestraft werden sollen. Hierfür spricht, dass der implizite Steuersatz auf Rentenversicherungsbeiträge in jungen Jahren besonders hoch ist und mit dem Alter abnimmt (Gasche, 2009). Personen, die seit ihrer Jugend Beiträge zahlen, werden also von diesen impliziten Steuersätzen stärker betroffen als diejenigen, die erst später in den Arbeitsmarkt eintreten. Allerdings ist für die neue abschlagsfreie Rentenform auch eine nahezu ununterbrochene Erwerbsbiografie erforderlich.

In der aktuellen Diskussion um diese Reform durch das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung wird zumeist der direkt zuvor geltende Rechtsstand der Rentenversicherung mit den Auswirkungen der Reform verglichen. Die abschlagsfreie Rente führt (ohne weitere Änderungen) zu einem stärkeren Absinken des Nettorentenniveaus und einer Erhöhung des Rentenbeitrags (für einen Überblick siehe Rasner (2014)). Die Betroffenen Jahrgänge sind zwischen 1955 und 1963 geboren (Sellin, 2013). Die Reformen der vergangenen Jahre werden hierbei als gegeben hingenommen und es wird auf die Gefahr einer Frühverrentungswelle und einer Rücknahme der arbeitsmarktpolitischen Erfolge hingewiesen (Schnabel, 2014). Als Erfolge der vergangenen Jahre werden einerseits eine höhere Arbeitsmarktpartizipation älterer Menschen (Giesecke und Kind, 2013) und andererseits das angestiegene Rentenzugangsalter bezeichnet. Das Rentenzugangsalter stieg für Altersrenten von 62,3 im Jahr 2000 auf 64 im Jahr 2012. Selbst unter Berücksichtigung von Erwerbsminderungsrenten liegt ein Anstieg von einem Jahr vor (Grafik 1). 


Grafik 1: Durchschnittliches Rentenzugangsalter von 2000 bis 2012

Quelle: Deutsche Rentenversicherung (2013b), eigene Darstellung

Die Rente mit 67

Die letzte große Reform in der Rentenversicherung war die Erhöhung des abschlagsfreien Rentenalters um zwei Jahre auf ein maximales Lebensalter von 67 Jahren (Rente mit 67, Deutsche Rentenversicherung, 2013). Hiervon sind die Kohorten der ab 1947 Geborenen betroffen. Da der Anstieg schrittweise eingeführt wird und um einen (bzw. zwei nach 1958) Monat(e) pro Kohorte ansteigt, ist die Rente mit 67 erst 2029 vollständig eingeführt (siehe Grafik 2). Eine Evaluation der Rente mit 67 in Bezug auf das Renteneintrittsverhalten ist somit nur sehr eingeschränkt möglich. In einer Simulationsstudie finden Berkel und Börsch-Supan (2004), dass eine Anhebung aller Grenzen um zwei Jahre eine Verzögerung des Renteneintritts um 9 Monate bedeutet. Gleichzeitig mit der Rente mit 67 wurde eine neue Rentenform eingeführt, die erste Rente für besonders langjährig Versicherte, welche erlaubt, dass Personen mit 45 Beitragsjahren bereits im Alter von 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen können. Hierzu zählen allerdings nicht die Arbeitslosenzeiten. Insofern bietet hier das Rentenpaket neben einer Reform der Erwerbsminderungsrenten (Kempter, 2014) und der Erhöhung der Renten für Mütter vor allem eine „Reform der Reform“ und betrifft größtenteils diejenigen, die ansonsten erst mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente hätten gehen können.


Grafik 2: Abschlagsfreies Rentenalter nach Kohorte (Regelaltersrente)

Quelle: Deutsche Rentenversicherung (2013a), eigene Darstellung.

Ein großer Unterschied zwischen der neuen und alten Regelung ist die Hinzunahme der Anrechnung der Arbeitslosenzeiten in der neuen Regelung. Insofern ergeben sich für die betroffene Gruppe größere Anreize, noch früher in Rente zu gehen (Rasner, 2014). Die Änderung an der Altersrente für besonders langjährig Versicherte kann also dazu führen, dass Arbeitslosengeld 1 quasi als Übergang zur Rente genutzt wird, wie es in der Vergangenheit bei anderen Rentenformen der Fall war. Evidenz auf Basis der Hartz-Reform zeigt, dass Individuen die Interaktion von Arbeitslosengeld(-reform) und Rente(-nreform) in ihren Entscheidungen berücksichtigen und auf Änderungen reagieren (Grogger und Wunsch, 2013). Bei einer maximalen Bezugsdauer von 24 Monaten ist es nun für bestimmte Personengruppen möglich, mit 61 Jahren aus dem Erwerbsleben auszuscheiden und die Zeit bis zur Rente mit Arbeitslosengeld 1 zu überbrücken. Insofern kann hier von einer Rücknahme bzw. einem Aufweichen vergangener Reformen gesprochen werden. 

Die Abschaffung der Altersrente nach Arbeitslosigkeit

Im Zuge der Reformen der letzten Jahre wurden die spezielle Altersrente für Frauen und die Altersrente nach Arbeitslosigkeit abgeschafft. Die Altersrente nach Arbeitslosigkeit konnte von Individuen in Anspruch genommen werden, die nach dem Alter von 58 Jahren und 6 Monaten mindestens 52 Wochen arbeitslos waren. Betroffen von der graduellen Abschaffung sind die Kohorten der nach 1946 Geborenen. Ab Januar 1946 steigt das minimale Alter für die Inanspruchnahme der Altersrente nach Arbeitslosigkeit um einen Monat pro weiteren Geburtsmonat an (siehe Grafik 3). Ab Jahrgang 1952 kann die Altersrente nach Arbeitslosigkeit gar nicht mehr in Anspruch genommen werden (Anlage 19, SGB 6).


Grafik 3: Durchschnittliches minimales Renteneintrittsalter für die Altersrente nach Arbeitslosigkeit nach Kohorte

 

Quelle: Anlage 19, SGB VI; eigene Darstellung 


Diese Reform ist ebenfalls noch nicht vollständig abgeschlossen. Giesecke und Kind (2013) finden in einer ersten Evaluationsstudie, dass die Abschaffung der Altersrente nach Arbeitslosigkeit entgegen erster Erwartungen den Renteneintrittszeitpunkt nicht signifikant beeinflusst. Allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit für die Wiederaufnahme einer Arbeit für die Betroffenen um 1,3% pro Monat an, den das minimale Eintrittsalter angehoben wird. Dadurch spart die Bundesagentur für Arbeit 5,3% ihres Jahresbudgets. Im Vergleich hierzu haben die betroffenen Gruppen nach Einführung des Rentenpakets keine Abschläge mehr zu befürchten. Da aber kaum Effekte auf das Renteneintrittsalter gefunden werden, kommt die neue Altersrente für besonders langjährig Versicherte quasi einer abschlagsfreien Wiedereinführung der Altersrente nach Arbeitslosigkeit für bestimmte Gruppen gleich. Im Vergleich zum vorher geltenden Rechtsstand sind also adverse Effekte auf die Arbeitsmarktpartizipation älterer Menschen und das Budget der Bundesagentur für Arbeit zu erwarten.

Die Einführung von Abschlägen bei Renteneintritt vor 65

Die letzte Reform, die hier betrachtet werden soll, ist die Einführung von Abschlägen für vorzeitigen Renteneintritt. Vorzeitiger Renteneintritt wird für ab 1937 Geborene mit einem Abschlag von 0,3% pro Monat des vorzeitigen Renteneintritts belegt (für eine Übersicht siehe Lüthen (2014)). Nach Einführung der Reform berechnet sich der Abschlag für vorzeitigen Renteneintritt folgendermaßen (für nicht Schwerbehinderte/ Erwerbsgeminderte und Kohorten bis einschließlich 1946):

(Anzahl der Monate des Renteneintritts vor 65 Jahren) x 0.3% = Abschlag auf Rentenleve

Diese Rentenreform liegt zwar etwas länger zurück, hat aber den Vorteil, dass sie abgeschlossen ist und somit das Verhalten der Kohorten bis 1945 empirisch evaluiert werden kann. Die graduelle Einführung wird in Evaluationsstudien als exogene Variation genutzt. Hanel (2010) findet in einer ersten Simulationsstudie, dass die Reform den Renteneintritt um 10 Monate hinauszögert. Hierbei werden allerdings auch Erwerbsminderungsrentner berücksichtigt, so dass ein Vergleich mit dem Rentenpaket nur unvollständig möglich ist. Bönke et al. (2014) evaluieren die Anreizwirkung der Reform auf Versicherte, die mindesten 35 Beitragsjahre in der Rentenversicherung gesammelt haben. Diese bieten eine gute Vergleichsgruppe zu denjenigen, die den vorzeitigen Renteneintritt des neuen Reformpakets in Anspruch nehmen können. Bönke et al. (2014) finden, dass die Einführung der Abschlage ein Aufschub des Renteneintritts um ca. 2-5 Monate verursacht. Da das Renteneintrittsalter über die betrachteten Kohorten allerdings um knapp 10 Monate zunimmt, schlussfolgern die Autoren, dass das Rentenniveau durch die Aussetzung von Rentensteigerungen bzw. durch die geringeren Rentensteigerungen der letzten Jahre schlicht nicht mehr ausreicht, um vorzeitig in Rente zu gehen. Dieses Ergebnis wird gestützt von Lüthen (2014), der die Auswirkung der Einführung von Rentenabschlagen auf die Verzinsung der Rentenversicherungsbeiträge analysiert. Während die Verzinsung über die betrachteten Kohorten von 1935 bis 1945 stark abnimmt, sind die Abschläge hierfür nur zu ca. einem Viertel verantwortlich. Der größere Effekt entsteht durch die gestiegenen Beiträge der letzten Jahrzehnte und die nur in geringem Ausmaß gestiegenen Rentenwerte der letzten Jahre. Es ergibt sich hier also das Bild, dass für den Renteneintritt vor allem das absolute Rentenniveau verantwortlich ist. Dieses Niveau hängt besonders mit dem Rentenwert zusammen. Die Einführung der Abschläge senkt zwar den Rentenwert für vorzeitigen Renteneintritt, aber auch ohne Reform wäre das Renteneintrittsalter -zumindest bei Männern mit langen Erwerbsbiografien- weiter angestiegen. Im Allgemeinen ist nicht zu erwarten, dass der Rentenwert in Zukunft stark ansteigt (z. B. Börsch-Supan, 2014). Der vorzeitige Renteneintritt mit 63 Jahren wirkt hier sogar noch verstärkend: Falls er von vielen Personen in Anspruch genommen wird, steht eine geringere Anzahl Beitragszahler einer größeren Anzahl Rentner gegenüber. Hierdurch gibt es einen geringeren Spielraum für einen Anstieg des Rentenwerts (Schnabel, 2014).

Fazit

Die vom Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführte Möglichkeit, vorzeitig in Rente zu gehen, gleicht einer Aufweichung der Rente mit 67 und einer abschlagsfreien Wiedereinführung der Altersrente nach Arbeitslosigkeit für bestimmte Gruppen. Im Vergleich zum vorher geltenden Rechtsstand ist zu erwarten, dass die Arbeitsmarktpartizipation der betroffenen Gruppen sinkt.

Ob von einer „Frühverrentungswelle" ausgegangen werden kann, ist allerdings fraglich. Da die Rentenanpassungen der letzten Jahre gering ausfielen und für die nächsten Jahre nicht mit einer hohen Steigerung gerechnet werden kann, wird der vorzeitige Renteneintritt wahrscheinlich nicht von allen Berechtigten in Anspruch genommen. Die absolute Rentenhöhe ist schlicht zu gering.

 

Quellen

Bach, S., Buslei, H., van Deuverden, K., Duso, T., Fichtner, F., Fratzscher, M., Geyer, J., Gornig, M., Haan, P., Kemfert, C., Lüthen, H., Michelsen, C., Müller, K.-U., Neuhoff, K., Schulz, E., Schupp, J., Spieß, C. K., & Wagner, G. G. (2013). Der Koalitionsvertrag nimmt die Gesellschaft in die Pflicht (PDF, 179.71 KB). DIW Wochenbericht 50/2013

Berkel, B. und A. Börsch-Supan (2004): Pension Reform in Germany: The Impact on Retirement Decisions. FinanzArchiv 60(3), 393-421.

Bönke, T., Kemptner, D., und H. Lüthen (2014): The introduction of disincentives for early retirement and its effect on labor market participation, mimeo.

Börsch-Supan, A. (2014): Ökonomie einer alternden Gesellschaft. Perspektiven der Wirtschaftspolitik 15, 4-23.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales. (2014). Das Rentenpaket. (Zugang am 16.2.2014)

Deutsche Rentenversicherung. (2013a). Rente mit 67: Wie Sie Ihre Zukunft planen können.

Deutsche Rentenversicherung. (2013). Rentenversicherung in Zeitreihen (Band 22).

Gasche, M. (2009). Implizite und explizite Lohnsteuerbelastung in Deutschland. Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften 60, 138-167.

Giesecke, M. und M. Kind (2013). Bridge Unemployment in Germany: Response in Labour Supply to an Increased Early Retirement Age, Ruhr Economic Papers 0410. Essen: Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung

Grogger, J. und C. Wunsch (2013): "Unemployment Insurance and Departures from Employment: Evidence from a German Reform", Working Paper, Department of Economics, VU University Amsterdam.

Hanel, B. (2010): Financial incentives to postpone retirement and further effects on employment - Evidence from a natural experiment. Labour Economics 17, 474-486.

Kemptner, D. (2014). Erwerbsminderung als Armutsrisiko, DIW Roundup No. 8. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.

Lüthen, H. (2014). Rates of Return and Early Retirement Disincentives: Evidence from a German Pension Reform, mimeo.

Rasner, A. (2014). Abschlagsfreie Rente mit 63 - gerecht oder geschenkt?, DIW Roundup No. 9. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.

Schnabel, R. (2014). Rentenpolitik: Wiedereinstieg in die Frühverrentung (pp. 5). Duisburg Essen: Universität Duisburg Essen.

Sellin, P. (2013). Rentenpaket der Großen Koalition: Mütter und Babyboomer gewinnen - Altersarmut wird zunehmen. Berlin: Heinrich Böll Stiftung.


Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/111789

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