14.10.2014, Sophia Rüster, sruester@diw.de
Sebastian Schwenen, sschwenen@diw.de
Der deutsche Atomausstieg in 2022 und die gleichzeitig stetig steigende Stromerzeugung durch fluktuierende Wind- und Sonnenenergie heizen in Deutschland, wie in Europa, seit geraumer Zeit eine Diskussion um die Versorgungssicherheit auf dem Strommarkt an. Dabei ist völlig unklar, wie Versorgungssicherheit - vor allem in der mittleren und langen Frist - gemessen werden soll. Das Fehlen eines klaren Konzeptes für eine sinnvolle Abschätzung von Versorgungssicherheit ist ein Grund, warum die Meinungen über regulatorische Eingriffe zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit weit auseinandergehen. Die Konzepte zur Messung von Versorgungssicherheit sind meist konservativ, überschätzen das Risiko knapper Stromversorgung durch ein Unterschätzen länderübergreifender Synergien, und regen somit die Diskussion um regulatorische Eingriffe weiter an.
ENTSO-E, der europäische Verbund der Stromübertragungsnetzbetreiber mit Sitz in Brüssel, veröffentlichte im April diesen Jahres Schätzungen zur Versorgungssicherheit im europäischen Strommarkt, siehe ENTSO-E (2014). Darin wird – im wahrscheinlichsten Szenario – der Preisregion der Deutschland angehört (die „gekuppelten Märkte“ in Zentral- und Westeuropa) bis zum Jahr 2025 eine relativ hohe Überkapazität bescheinigt. Die Versorgungssicherheit wäre somit gewährleistet – zumindest regional betrachtet. Allerdings wird für Deutschland, trotz heutiger Überkapazität, für das Jahr 2025 eine mögliche wenn auch knappe Unterdeckung (relativ zu einer möglichen maximalen Nachfrage) geschätzt; somit bestünde im Jahr 2025 nicht genügend frei verfügbare Erzeugungskapazität und Nettostromimporte wären nötig, um die Stromnachfrage auch zu Spitzenzeiten zu decken.Tabelle 1 zeigt die nach ENTSO-E freien Erzeugungskapazitäten – also alle Kapazität, die nach der Nachfragedeckung und dem Vorhalten einer Reserve ungenutzt bleibt – in Deutschland, Zentral- und Westeuropa (Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland und Luxemburg) und in der gesamten ENTSO-E Region, geschätzt bis zum Jahr 2025.
2014 | 2020 | 2025 | |
Deutschland | 8.61 | 2.29 | -6.53 |
Zentral- und Westeuropa | 21.09 | 8.97 | -5.12 |
ENTSO-E Region | 57.18 | 46.87 | 23.81 |
Tabelle 1: Freie Stromerzeugungskapazität in GW, Referenzzeitpunkt 19 Uhr, Daten bereitgestellt durch ENTSO-E (2014). In Deutschland sind 2 GW aus dem Ausland, die dem deutschen Stromnetz angehören, ebenso wie aus dem Ausland kontrahierte Reserveleistung nicht mitgerechnet. Die ENTSO-E Region umfasst 34 europäische Länder.
Diese Unsicherheit über die zukünftige Versorgungssicherheit lässt verschiedene energiepolitische Schlüsse zu. Auf der einen Seite fordern einige Wissenschaftler wie Industrievertreter die Einführung von zusätzlichen Zahlungen an Kraftwerksbetreiber für die Bereitstellung von Kraftwerkskapazität – parallel zu deren Erlösen aus dem Strommarkt, wie beispielsweise beschrieben in Cramton et al. (2013) und für Deutschland konzeptualisiert in BDEW (2014). Diese Zahlungen an die Stromerzeuger sollen genügend verfügbare und gesicherte Leistung für die Stromerzeugung sicherstellen. Andere, zum Beispiel Neuhoff et al. (2013), sprechen sich für den Strommarkt in seiner heutigen Form aus, welcher zusätzlich zu weiteren Neuerungen wie zum Beispiel einer höheren Nachfrageflexibilität mit einer Strategischen Reserve abgesichert werden kann. Die Strategische Reserve würde der öffentlichen Hand – ähnlich wie auf dem Ölmarkt – Reservekapazitäten zuteilen, welche in Notfällen, z.B. an kalten Wintertagen, an denen zudem kaum Wind- und Sonnenenergieeinspeisung stattfindet, den Strombedarf stets decken kann und somit das Abschalten von Lasten vermeidet.
Die Unsicherheit in den energiepolitischen Schlüssen obliegt jedoch in Teilen der Unklarheit über die Definition und Messbarkeit von zukünftiger Versorgungssicherheit: Wie viele der heute in Deutschland und Europa unrentablen Kraftwerke werden durch die beteiligten Firmen vom Markt genommen? Und wann werden diese Kapazitäten den Markt verlassen? Wie wirkt sich dieser Marktaustritt auf die (heute relativ niedrigen) Strompreise auf dem Großhandelsmarkt aus? Und welche Signale für Re- und Neuinvestitionen in flexible und moderne Kraftwerke entstehen dadurch? Wann wären diese Kraftwerke zur Deckung der zukünftigen Nachfrage verfügbar? Und wie werden dabei Stromimporte und -exporte bemessen, die zur Deckung nationaler Stromnachfrage beitragen können?
Auf die Möglichkeiten und Grenzen von Leistungsbilanzen für Strommärkte, also der Gegenüberstellung zukünftiger Entwicklungen von Stromnachfrage und Angebot, weist schon das BMU (2013) hin. Denn während für die Erstellung von Leistungsbilanzen die Informationen zu zukünftigen Marktaustritten vorliegen (Kraftwerke, die vom Netz gehen, müssen bei der Bundesnetzagentur angezeigt werden), werden dynamische, marktbasierte Anpassungsprozesse, wie zum Beispiel Neuinvestitionen und mögliche Nachfrageänderungen als Reaktion auf gestiegene Strompreise außer Acht gelassen. Somit nimmt die Aussagekraft von Leistungsbilanzen mit der Länge des Beobachtungszeitraums erheblich ab.
Aufgrund der bestehenden Überkapazität von etwa 10% der maximalen Nachfrage gibt es derzeit kaum Investitionsanreize in Deutschland. Des Weiteren beträgt die benötigte Zeit, um beispielsweise ein neues Gaskraftwerk zu bauen, circa fünf Jahre, siehe VDE (2012). Am Beispiel von Deutschland bedeutet dies, dass die Vorhersagen für die kommenden Jahre die Entwicklung auf dem Strommarkt recht gut wiedergeben. Jedoch für Zeiträume, die dynamische Anpassungen zulassen, wie etwa Neuanlagen oder eine zunehmende Flexibilisierung der Nachfrage, also circa ab 2020, fehlen wichtige Elemente für die Bestimmung der Versorgungssicherheit.
Zudem werden Leistungsbilanzen auf nationaler Ebene erstellt – jedoch stellt sich der Grad an Versorgungssicherheit im gemeinsamen europäischen Strombinnenmarkt ein. Beispielsweise ist für die Versorgungssicherheit in Deutschland auch wichtig, wie viel Kraftwerkskapazität in Österreich oder Italien zur Verfügung stehen, und Nachfrage in Deutschland decken können, siehe UCTE (2009).
Der positive Effekt durch den europäischen Strommarkt auf die Versorgungssicherheit rührt jedoch nicht allein von der Größe ausländischer Kraftwerksportfolios und bestehender grenzüberschreitender Übertragungs-kapazitäten her. Fluktuationen, zum Beispiel in der Windenergie, können im europaweiten Stromverbund besser abgefangen werden als in einem isolierten Strommarkt. So können erneuerbare Energien im gemeinsamen Strombinnenmarkt einen höheren Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Ähnliche Effekte werden bei der Erstellung von Leistungsbilanzen auch auf der Nachfrageseite nicht berücksichtigt. Die Spitzennachfrage stellt sich in der Regel nicht zeitgleich in benachbarten Stromsystemen ein, so dass stets ausländische Kraftwerke zur Verfügung stehen, wenn in einem Nachbarland die Nachfrage ihren Höhepunkt erreicht. Zuletzt variieren Schätzungen zur Flexibilität der Stromnachfrage, also in wie weit Nachfrage bei hohen Preisen gedrosselt oder zeitlich verschoben werden kann, stark, siehe zum Beispiel die verschiedenen Szenarien in Frontier (2014).
Die positiven Effekte und Synergien des europäischen Strombinnenmarktes („Pooling“ von Angebot und Nachfrage) sind somit essenziell, um Versorgungssicherheit europaweit zu gewährleisten, und um Versorgungssicherheit adäquat zu bestimmen. Auch Newbery und Grubb (2014) weisen auf die Vorteile internationalen Handels hin, und argumentieren am Beispiel der UK, das die dortigen Kapazitätszahlungen internationalen Handel nicht voll mit einbeziehen. Während sich die Literatur einig ist über die Vorteile und Synergien des gemeinsamen europäischen Marktes für die Versorgungssicherheit, herrscht in der Literatur sowie in der Politik in Deutschland und Europa eine Diskussion über regulatorische Eingriffe zur Gewährleistung von Versorgungssicherheit, die über die Nutzung grenzübergreifender Synergien hinausgehen.
BDEW (2014): Ausgestaltung eines dezentralen Leistungsmarktes, BDEW Positionspapier. Online: http://www.bdew.de/internet.nsf/id/marktdesign-de
BMU (2013): Entwicklung der Kapazitäten zur Stromerzeugung in Deutschland, Konsultationspapier.
Cramton, P., A. Ockenfels, und S. Stoft. (2013): Capacity market fundamentals, Economics of Energy & Environmental Policy, 2(2), 27-46. Online: http://www.iaee.org/en/publications/eeeparticle.aspx?id=46
ENTSO-E (2014): Scenario Outlook and Adequacy Forecast 2014-2030. Online: https://www.entsoe.eu/publications/system-development-reports/adequacy-forecasts/Pages/default.aspx
Frontier Economics und Formaet (2014): Strommarkt in Deutschland –Gewährleistet das derzeitige Marktdesign Versorgungssicherheit? Bericht für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.
Neuhoff, K, J. Dieckmann, W-P. Schill und S. Schwenen (2013): Strategische Reserve zur Absicherung des Strommarktes, DIW Wochenbericht 48/13. Online: http://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.432343.de
Newbery, D. and M. Grubb (2014): The Final Hurdle?: Security of supply, the Capacity Mechanism and the role of interconnectors, EPRG Working Paper 1412. Online: http://www.eprg.group.cam.ac.uk/eprg-1412/
UCTE (2009): The 50 Year Success Story – Evolution of a European Interconnected Grid.
VDE (2012): Erneuerbare Energie braucht flexible Kraftwerke - Szenarien bis 2020, Studie der Energietechnischen Gesellschaft im VDE (ETG). Online: http://www.vde.com/de/fg/ETG/Arbeitsgebiete/V1/Aktuelles/Oeffentlich/Seiten/StudieFlexibilisierung.aspx
Themen: Klimapolitik, Energiewirtschaft
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/111819