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Entwicklung und Struktur des Steueraufkommens in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1974

Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 4 / 1975, S. 251-267

Dieter Teichmann

Abstract

Die These von der mittel- und langfristigen systemimmanenten Progression des Steuersystems wird durch die Aufkommensentwicklung zwischen 1960 und 1974 nicht bestätigt: Insgesamt entwickelten sich die Steuereinnahmen - allein wegen der hohen Aufkommenselastizität der Lohnsteuer - weitgehend parallel zum nominalen Bruttosozialprodukt. Die permanenten Steuerrechtsänderungen tangieren diese Aussage im ganzen wenig, da sich steuerrechtsbedingte Mehr- und Mindereinnahmen weitgehend ausgeglichen haben. Im wesentlichen holte sich der Staat die finanziellen Verluste aus der Einkommensteuerreform 1965 in den folgenden Jahren über verstärkte Tarifanhebungen bei den großen Verbrauchsteuern zurück. Insgesamt dürften diese Mehreinnahmen sogar etwas größer gewesen sein als die Ausfälle. Die Tendenzen für die mittel- und langfristige Entwicklung der Steuern - geltendes Steuerrecht unterstellt - sind eindeutig. Der große Block der mengenbezogenen Aufwand- und Verbrauchsteuern, mit einem gegenwärtigen Aufkommensanteil von 20 vH, wird zunehmend schwächer expandieren als die zu laufenden Preisen bewerteten Mengen und damit auch die gesamte Aufkommenselastizität des Steuersystems weiter negativ beeinflussen. Auch von den Steuern vom Einkommen und Vermögen (ohne Lohnsteuer), die gegenwärtig rund ein Fünftel der Einnahmen ausmachen, dürften mittelfristig keine positiven Effekte auf die Gesamtelastizität ausgehen. Abgesehen von Jahren mit konjunkturbedingten kurzfristigen Mehreinnahmen, werden die Einkommen und gewinnabhängigen Steuern ebenfalls hinter der Entwicklung des nominalen Sozialprodukts zurückbleiben, falls es nicht gelingt, den Gestaltungsspielraum so einzuengen, daß die Steuereinnahmen stärker an die Entwicklung der Bruttoeinkommen herangeführt werden. Ausgehend von Modellansätzen müßten diese Steuern - wie ausgeführt wurde - rascher steigen, doch so lange das tatsächliche Aufkommen keine Trendwende nach oben erkennen läßt, sollte man sich bei Prognosen an den Erfahrungen der Vergangenheit ausrichten. Allenfalls die Steuern vom Umsatz werden in den nächsten Jahren annähernd proportional zur gesamtwirtschaftlichen Expansion verlaufen; insgesamt wird die Aufkommenselastizität der Steuern (ohne Lohnsteuer) jedoch weiter absinken. Wie in der Vergangenheit sind entscheidende positive Impulse - auch ·nach der Steuerreform - nur aus der dynamischen Lohnsteuer zu erwarten. Sie kommen um so mehr zum Tragen, je rascher die Löhne und Gehälter künftig steigen werden. In mittelfristiger Sicht könnte das Steueraufkommen dadurch auch weiterhin proportional oder sogar leicht überproportional expandieren. Eine nachhaltige Verbesserung der Aufkommenselastizität durch systemimmanente Kräfte ist ohne Steuerrechtsänderungen zwar kurzfristig möglich, mittel- und langfristig dagegen aber nicht denkbar. Langfristig wird die Aufkommenselastizität der Lohnsteuer - bei konstantem Steuerrecht - nachlassen und damit auch die Gesamtelastizität des Steuersystems schwächen, da die direkte und indirekte Progression gegen eins konvergiert. Für die öffentliche Hand werden sich in Zukunft erhebliche Finanzierungsprobleme ergeben, die in ihrem Ausmaß erstmals 1975 - mitbedingt durch die Einkommensteuer- und Kindergeldreform - voll sichtbar werden. Die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben klaffen gegenwärtig im Niveau so weit auseinander, daß selbst eine starke konjunkturelle Belebung, die sich in steigenden Einnahmen niederschlägt, eine grundlegende Sanierung der öffentlichen Finanzen nicht herbeiführen kann. Der Staat wird - wenn er nicht in eine wachsende Staatsverschuldung ausweichen will - seine Aufgabentätigkeit in vielen Bereichen grundlegend reformieren und rationalisieren müssen. Erst nach gründlicher Überprüfung der Ausgaben sollten auch Steuererhöhungen ins Auge gefaßt werden.

In the present study, the development and structure of the tax system in the Federal Republic of Germany are examined over the period 1960-1974. The assumption that revenues increase over the medium and long term much faster than does nominal GNP is not borne out by the figures on tax yield development: Overall, the development of revenues in the period 1960-1974 was essentially proportional to that of the GNP. The development of the tax burden ratio, (1974: 24.1 %, 1.5 percentage points higher than in 1960) has not been steady over the past 14 years. In the years 1961-64 and 1972-74, it hovered around 24%; in the interim period, 1965-71, it averaged 23%. Considerable changes have occurred in the breakdown of revenue since 1960, a consequence of the effective elasticity in the system. The share of taxes on income and capital increased continuously in the observed period at the expense of the indirect taxes. While taxes on income and capital made up just over half of the total in 1960, by 1974 they accounted for 60 %. This increase is attributable in full to the over-proportionate development in employee income tax, whose share of total revenues increased from 12% (1960) to 30% (1974). A corresponding decline came about in the share of taxes on income disposition (from 45 % to 39 %), of which the share of taxes on capital transfer receded only slightly. By far the most important, accounting for over half the revenue yield within this group, are the turnover taxes, growth of which was somewhat slower than that of the GNP. The shares of luxury and consumer taxes also decreased, as the assessment base of these taxes is generally the unit rather than money value; the combined effect of price increases and approaching saturation is to keep their growth below that of nominal GNP. The medium and long term tendencies in the development of revenues - assuming existing tax laws - are clearcut. A proportionately slow growth of luxury and consumer taxes will continue to have a negative effect on the yield elasticity of the tax system. Apart from years with trade cycle related increases, even the taxes on income and capital (excepting employee income) cannot be expected to produce any positive effects on overall elasticity. As in the past, a decisive positive impact will be had -even after the tax reform-only by the surging employee income tax. The faster wages and salaries increase in the future, the greater this impact will be. This could result in revenues continuing to keep pace with or even surpassing nominal GNP growth over the medium term. Improvement in yield elasticity stemming from inherent strengths of the system are possible over the short term, but inconceivable over the long term.

Themen: Steuern

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