16. November 2015
Die entwickelten Volkswirtschaften erholen sich nur schleppend von der Finanzkrise. Unter dem Eindruck dieser jüngsten Entwicklungen wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich das Wirtschaftswachstum pro Kopf in vielen entwickelten Volkswirtschaften bereits seit den 1980er Jahren verlangsamt hat. Untersuchungen deuten darauf hin, dass dieser Rückgang zu einem bedeutenden Teil auf ein geringes Wachstum der Produktivität zurückzuführen ist. Die Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital werden zwar laufend produktiver eingesetzt – die Zuwächse sind aber im historischen Vergleich gering. Das abnehmende Produktivitätswachstum dürfte insbesondere seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 auch zu dem in vielen Ländern verhaltenen Anstieg der Unternehmensinvestitionen beigetragen haben. Auch für die kommenden Jahre werden verschiedentlich niedrige Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, der Produktivität sowie der Investitionen vorausgesagt. Dies veranlasst einige Ökonomen dazu, von einer möglicherweise säkularen – also lang andauernden – Stagnationsphase zu sprechen. In der wissenschaftlichen und politikberatenden Literatur ist vor diesem Hintergrund eine ausführliche Diskussion entstanden zu den möglichen Ursachen der Wachstumsschwäche und zu geeigneten Politikmaßnahmen zur Abwendung einer möglicherweise länger anhaltenden Phase niedrigen Wirtschaftswachstums. Als geeignete Politikmaßnahmen, um das Wirtschaftswachstum zu fördern, werden häufig bessere Anreize für höhere private Investitionen, eine Steigerung der öffentlichen Investitionen sowie die Förderung von Bildung genannt.
In den vergangenen dreißig Jahren hat sich in vielen entwickelten Volkswirtschaften das Wirtschaftswachstum verlangsamt – sowohl pro Kopf als auch im Verhältnis zu den total geleisteten Arbeitsstunden, was oft als Arbeitsproduktivität bezeichnet wird (siehe Abbildung 1). Diese Entwicklung ist einhergegangen mit geringen Zuwächsen der totalen Faktorproduktivität, die angibt, wie produktiv eine Volkswirtschaft ihre Produktionsfaktoren einsetzt (siehe etwa Gordon (2012), IMF (2015a) oder Furman (2015)). Diese Entwicklungen haben sich seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 verstärkt. Der im historischen Vergleich geringe Anstieg der totalen Faktorproduktivität verringert das Wirtschaftswachstum nicht nur direkt; sie dämpft auch die Rendite auf Investitionen und dürfte ein wichtiger Grund für die in vielen Ländern verhaltene Entwicklung der Unternehmensinvestitionen sein, was häufig unter Stichworten wie Investitionsschwäche oder Investitionslücke diskutiert wird (siehe etwa DIW (2013) und (2014), IMF (2015b) sowie OECD (2015)). Auch für die kommenden Jahre werden für die entwickelten Volkswirtschaften verschiedentlich niedrige Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, der Investitionen sowie der Produktivität vorhergesagt (siehe unter anderem IMF (2015b) sowie OECD (2015)). Vor diesem Hintergrund wurde von verschiedenen Ökonomen wie Summers (2013a) und (2013b) oder Gordon (2015) die Hypothese einer möglicherweise lang anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation aufgestellt. Sie haben dabei den Begriff der säkularen Stagnation aufgegriffen, der unter dem Eindruck der Großen Depression der 1930er Jahre von Hansen (1939) eingeführt worden war (für eine Zusammenfassung und Einordnung dieser Diskussion, siehe Baldi und Harms (2014)).
Abbildung: Produktivitätswachstum
gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde,
Wachstumsraten in %, dreijährig gleitender Durchschnitt
Quelle: OECD
Angesichts des gegenwärtig niedrigen Produktivitäts- und Wirtschaftswachstums und einem gleichzeitig stattfindenden beschleunigten technologischen Wandel wird oft von einem Produktivitätsparadoxon gesprochen (siehe etwa Baily und Manyika (2015)). Demnach hat der technologische Wandel – dessen gegenwärtige Form oft unter Stichworten wie Digitale Revolution, Robotisierung oder Internet der Dinge diskutiert wird – in den vergangenen Jahren zwar die Qualität der Investitionsgüter gesteigert, aber zumindest vorläufig nicht zu einem kräftigen Wachstum der gemessenen totalen Faktorproduktivität geführt (siehe hierzu etwa Jones (2015) sowie Eichengreen (2015)). Gordon (2012) argumentiert, dass der gegenwärtige technologische Wandel die Produktivität und damit das Wirtschaftswachstum womöglich auch in Zukunft nicht werde spürbar erhöhen können, weil die Informationstechnologie keine Allzwecktechnologie sei wie früher die Dampfmaschine oder die Elektrizität.
Dieser Sichtweise widersprechen andere Ökonomen wie Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee (2014) oder Joel Mokyr (2014), die argumentieren, dass die digitale Revolution in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Produktivität deutlich werde erhöhen können. Grundlegende technologische Revolutionen führen gemäss dieser Argumentationslinie zunächst nur zu geringfügigen Verbesserungen der Produktivität und verursachen Anpassungskosten. Erst nach einer gewissen Zeit passen sich die Unternehmen und Arbeitskräfte der neuen Technologie in einer Weise an, dass sich der technologische Wandel auf der makroökonomischen Ebene produktivitätssteigernd auswirkt. Insbesondere müssen mit den neuen Technologien komplementäre Prozesse und Fähigkeiten geschaffen werden, während sich frühere Investitionen und Fähigkeiten als veraltet herausstellen (siehe etwa Eichengreen (2015) oder Mokyr (2015)). Baily und Manyika (2015) schätzen beispielsweise, dass die digitale Revolution bis zum Jahr 2025 zwar das globale Bruttoinlandsprodukt um rund elf Prozent steigern werde, es aber noch einige Jahre dauern werde, bis die Effekte auf makroökonomischer Ebene sichtbar seien. Das Produktivitätsparadoxon und das damit einhergehende niedrige Wirtschaftswachstum könnten daher noch mehrere Jahre bestehen bleiben. Dies würde nicht zuletzt die Geldpolitik vor große Herausforderungen stellen, da ein niedriges Produktivitätswachstum sowie eine geringe Investitionstätigkeit bei der gleichzeitig zu beobachtenden hohen globalen Sparneigung einen dämpfenden Einfluss auf das Zinsniveau haben. Einige Ökonomen argumentieren sogar, dass der sogenannte Gleichgewichtszinssatz gegenwärtig negativ sei (siehe etwa Summers (2015)). Dies schränkt den Spielraum der Zentralbanken ein und erhöht gleichzeitig das Risiko von Blasenbildungen an Finanz- und Immobilienmärkten.
In vielen entwickelten Volkswirtschaften hat sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verlangsamt. Diese Entwicklung ist einhergegangen mit niedrigen Anstiegen der totalen Faktorproduktivität und häufig auch niedrigen Zuwächsen der Unternehmensinvestitionen. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich diese Entwicklung verstärkt und wird häufig als säkulare Stagnation bezeichnet. Die laufende Diskussion deutet darauf hin, dass jene Politikmaßnahmen geeignet sein könnten, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, welche sowohl die gesamtwirtschaftliche Nachfrage als auch den produktiven Ressourceneinsatz fördern (siehe u.a. Summers (2014)). In erster Linie werden Anreize für höhere private Investitionen sowie eine Steigerung und effizientere Verwendung der öffentlichen Bildungsausgaben und Investitionen hervorgehoben. Vor dem Hintergrund des technologischen Wandels nimmt insbesondere die Bedeutung von Bildung und Weiterbildung zu, da so die Absorptionsfähigkeit neuer Technologien verbessert werden kann. Dies würde nicht nur einem möglichen Anstieg der Lohnungleichheit und der Arbeitslosigkeit entgegenwirken, sondern auch die potentielle Dauer der drohenden Wachstumsschwäche verringern.
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Topics: Productivity, Business cycles, Financial markets