DIW Wochenbericht 50 / 2018, S. 1063-1066
Claus Michelsen, Guido Baldi, Christian Breuer, Martin Bruns, Geraldine Dany-Knedlik, Hella Engerer, Marcel Fratzscher, Stefan Gebauer, Max Hanisch, Simon Junker, Malte Rieth, Thore Schlaak
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„Die Gefahr einer Rezession ist eher gering, denn die Grunddynamik der deutschen Wirtschaft bleibt intakt. Das Auslandsgeschäft läuft nach wie vor relativ gut. Vor allem wird der private Konsum durch die Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag vereinbart sind und zu Jahresbeginn 2019 wirksam werden, angeschoben – Stichwort Sozialversicherungsbeiträge.“ Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef
Die deutsche Wirtschaft wird nach Einschätzung des DIW Berlin in den kommenden beiden Jahren weiter spürbar wachsen. Die Zeiten der Hochkonjunktur sind allerdings vorbei, denn die wirtschaftliche Dynamik wird sich aller Voraussicht nach abkühlen. Das DIW Berlin bestätigt damit seine Einschätzung aus dem Spätsommer, der zufolge sich das Wachstumstempo der deutschen Wirtschaft – überlagert von Sondereffekten – allmählich normalisiert. Die Prognose für das Jahr 2018 wird jedoch gesenkt, auf nun 1,5 Prozent.
Derzeit ist das konjunkturelle Bild ungewöhnlich unscharf, was unter anderem auf die Entwicklung in der Automobilwirtschaft zurückzuführen ist: Die Hersteller von Kraftfahrzeugen haben große Probleme, ihre Fahrzeuge nach den neuen Abgas- und Verbrauchsnormen zu zertifizieren. Dies ist Voraussetzung für deren Verkauf innerhalb Europas. So konnten im Spätsommer sowohl im Inland als auch im Ausland weniger Autos abgesetzt werden, woraufhin die Hersteller ihre Produktion drosselten. Dies bremste auch die Ausfuhren, die Investitionen in den Fuhrpark und den privaten Konsum.
Die Produktionsausfälle werden voraussichtlich im Winterhalbjahr zumindest teilweise nachgeholt. Allerdings ist die Prognose hierzu mit außergewöhnlich großer Unsicherheit behaftet: Es ist durchaus möglich, dass eine Belebung weiter ausbleibt und die Wachstumsdynamik in diesem und im kommenden Jahr schwächer als prognostiziert ausfällt. Derzeit ist für 2019 mit einem Wachstum des hiesigen Bruttoinlandsprodukts von 1,6 Prozent zu rechnen. Die Sorgen über eine Überhitzung der deutschen Wirtschaft dürften damit endgültig vom Tisch sein. Im Jahr 2020 dürfte die Wachstumsrate zwar bei 1,8 Prozent liegen – allerdings fällt sie wegen einer höheren Zahl an Arbeitstagen um gut 0,4 Prozentpunkte kräftiger aus.
Abgesehen von der Sonderkonjunktur in der Automobilindustrie sprechen aber grundsätzlich noch viele Aspekte für eine Fortsetzung des Aufwärtstrends – letztlich wird sich das Tempo der deutschen Wirtschaft nach Jahren, in denen die Produktionskapazitäten sehr gut ausgelastet waren, wohl lediglich normalisieren. Insbesondere die robuste Auslandsnachfrage, die brummende Bauwirtschaft und der private Konsum dürften die Konjunktur im kommenden Jahr weiter stützen. Auf dem Arbeitsmarkt setzt sich der Beschäftigungsaufbau fort und die Arbeitslosenquote sinkt weiter, bis unter die Marke von fünf Prozent. Die günstige Lage zahlt sich für die ArbeitnehmerInnen zunehmend aus: Die Löhne steigen in den kommenden Jahren auch nach Abzug der Inflation von rund zwei Prozent um voraussichtlich mehr als ein Prozent per annum. Zudem zeigt sich der Staat großzügig: So werden die BürgerInnen mit dem Jahreswechsel um mehrere Milliarden Euro entlastet, beispielsweise durch eine Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung oder die Mütterrente. Hinzu kommt, dass der Beitrag für die gesetzliche Krankversicherung künftig wieder hälftig von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen getragen wird. Die privaten Haushalte haben also deutlich mehr Geld in der Tasche.
Die Ertragslage der Unternehmen bleibt gut. Sie dürften ihre Geschäfte weiterhin äußerst günstig finanzieren können, obwohl die Europäische Zentralbank angekündigt hat, ihre Geldpolitik zu straffen. So weiteten die Firmen ihre Investitionstätigkeit auch im Sommer aus, wenngleich das Niveau noch immer vergleichsweise gering ist. Nach wie vor bieten die Investitionsbedingungen hierzulande Möglichkeiten der Verbesserung – dies wird auch wiederholt im Ease of Doing Business Index der Weltbank dokumentiert. Die Handelskonflikte zwischen den USA und dem Rest der Welt sorgen darüber hinaus dafür, dass viele Unternehmen vorsichtig sind und von einer größeren Investitionsoffensive absehen. Auch die Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union dürften die Unternehmen zurückhaltend agieren lassen.
Das Auslandsgeschäft dürfte sich zwar deutlich weniger lebhaft entwickeln als noch vor Jahresfrist – dennoch zeigen sich viele wichtige Absatzmärkte nach wie vor in guter Verfassung. Die Konjunktur in den USA profitiert bis Mitte des kommenden Jahres von der Senkung der Unternehmenssteuern, Chinas Wirtschaft zeigt sich bislang weitgehend unbeeindruckt von den handelspolitischen Verwerfungen mit den USA und auch das Wachstum im Euroraum ist trotz einiger politischer Turbulenzen – nicht zuletzt in Italien – recht stabil.
Große Unsicherheit geht vom weiteren Fortgang des Brexit aus. Nachdem das britische Unterhaus vorerst nicht über das zwischen der EU und Großbritannien ausgehandelte Abkommen abgestimmt hat, ist ein ungeordneter Brexit, also ein Austritt ohne Vereinbarungen mit Blick auf die künftigen Handelsbeziehungen, weiterhin nicht ausgeschlossen. Die exportlastige deutsche Wirtschaft würde davon hart getroffen. Allerdings dürfte es nach wie vor das Interesse sowohl Großbritanniens als auch der EU sein, ein solches Szenario zu vermeiden. Sollten die nun von britischer Seite angestrebten Nachbesserungen am Brexit-Vertrag und eine darauf folgende Abstimmung im britischen Parlament nicht rechtzeitig über die Bühne gehen, ist eine Verschiebung des Brexit oder ein erneutes Referendum wahrscheinlicher als ein ungeordneter Austritt – insbesondere, wenn es im Zuge der jetzigen politischen Turbulenzen zu Neuwahlen in Großbritannien kommen sollte.
Viel hängt auch davon ab, in welche Richtung sich der Konflikt mit den USA entwickelt. Zumindest mit China standen die Zeichen zuletzt auf Entspannung – im Streit um die Autoimporte aus der Europäischen Union hingegen verschärfte sich der Ton gegenüber dem Sommer wieder. Ein eskalierender Handelskonflikt hätte für die europäische und insbesondere für die deutsche Wirtschaft schwerwiegende Folgen, die sich vor allem in Schlüsselsektoren der deutschen Wirtschaft materialisieren würden. Gemeinsame Simulationen der Wirtschaftsforschungsinstitute zeigen, dass Automobilzölle zu einem Produktionseinbruch bei Kraftfahrzeugen um gut sieben Prozent führen können. Etwas entspannt hat sich hingegen die Lage in der Türkei und anderen Schwellenländern, die im Sommer noch unter erheblichen Wechselkursturbulenzen litten.
Die öffentlichen Haushalte dürften in diesem Jahr mit einem Rekordüberschuss von 56 Milliarden Euro abschließen. Dabei handelt es sich einerseits um konjunkturell bedingte Überschüsse, andererseits beruhen sie auf den derzeit günstigen Zinsen für Staatsanleihen. Die Diskussion um die Verwendung der Überschüsse sollte insofern nicht darauf gerichtet sein, die Einnahmeseite des Staates durch umfassende Steuersenkungen dauerhaft zu schwächen – vielmehr sollte in die Zukunft des Landes investiert werden. Bereits in den kommenden Jahren werden die Folgen des demografischen Wandels deutlich spürbar. Das Arbeitskräftepotential schrumpft und drückt damit auf das Wachstumspotential. Gleichzeitig ist zwar die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren ArbeitnehmerInnen gestiegen, diese arbeiten aber häufig in Teilzeit, die sie vielfach – unter günstigeren Voraussetzungen – gerne ausweiten würden. Investitionen in Kinderbetreuungs- und Bildungsangebote dürften geeignet sein, die Erwerbsbeteiligung weiter zu steigern. Auch eine Veränderung im Steuersystem – beispielsweise die Abschaffung des Ehegattensplittings oder eine Entlastung von niedrigen Einkommen – könnte die Anreize zur Erwerbsbeteiligung steigern. Zudem entwickelt sich die Produktivität seit Jahren eher schwach. Dies mag einerseits damit zusammenhängen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des Beschäftigungsaufbaus in Sektoren mit geringer Produktivität stattfindet, etwa im Pflege- und Gesundheitsbereich. Allerdings ist auch die Investitionstätigkeit zu schwach, was ebenfalls zur geringen Produktivitätsentwicklung beiträgt. Um die Folgen des demografischen Wandels für das Wachstum zu kompensieren, sind auch Investitionen in die digitale Zukunft notwendig. Hier ist nicht nur die private Wirtschaft gefragt. Auch der Staat kann dies mit Vorleistungen direkt und mit der Finanzierung von Forschung und Entwicklung indirekt flankieren.
Themen: Konjunktur
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2018-50-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/190784