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Das gesetzliche Rentensystem verschärft die Polarisierung

Blog Marcel Fratzscher vom 3. September 2018

Dieser Beitrag ist am 31. August in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.

Wie gerecht ist die Rente? Gerechtigkeit ist subjektiv, und jeder beantwortet diese Frage unterschiedlich. Der gegenwärtige Streit um die Zukunft der Rente ignoriert aber, dass Deutschlands gesetzliche Rentenversicherung (GRV) eine massive Umverteilung von unten nach oben betreibt, von einkommensschwachen zu einkommensstarken Menschen. Der Grund: Die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland korreliert sehr stark mit ihrem Einkommen. Ärmere Menschen sterben häufig jünger, sie beziehen also ihre Rente nur über einen deutlich kürzeren Zeitraum. Beiträge und Steuerzuschüsse kommen deshalb vor allem Besserverdienenden zugute. Es ist höchste Zeit, grundlegende Veränderungen im System vorzunehmen.

Seit Jahrzehnten soll das sogenannte Äquivalenzprinzip der GRV sicherstellen, dass jede und jeder – unabhängig von Einkommen, Bildung oder Vermögen – für jeden eingezahlten Euro den gleichen Anspruch an monatlicher Rente erhält. Das klingt erst einmal fair. Aber das ist es nicht, eben weil bestimmte Gruppen unserer Gesellschaft eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als andere.

Menschen aus unterschiedlichen Einkommensgruppen leben nicht nur unterschiedlich lange, diese Unterschiede nehmen zum Teil auch zu. Eine Studie des DIW Berlin zeigt, dass westdeutsche Männer aus den Jahrgängen 1926 bis 1928 im Alter von 65 Jahren durchschnittlich noch weitere 14 Jahre zu leben hatten, wenn sie zu den zehn Prozent der einkommensschwächsten Menschen in Deutschland gehörten. Diejenigen aus diesen Jahrgängen, die zu den zehn Prozent der einkommensstärksten Personen gehörten, konnten sich zum gleichen Zeitpunkt noch auf weitere 18 Jahre freuen. Der Unterschied wurde mit der Zeit sogar deutlich größer. Für Menschen, die zwischen 1947 und 1949 geboren wurden, betrug er sieben Jahre: Die Einkommensschwächsten hatten mit 65 Jahren im Durchschnitt noch 15 Jahre vor sich, die Einkommensstärksten glatte 22 Jahre.

Einkommensstärkere Rentnerinnen und Rentner erhalten also ihre gesetzliche Rente häufig für einen deutlich längeren Zeitraum als solche mit geringem Lebenseinkommen.

Eine andere Perspektive ist der Vergleich von dem, was diese Rentner während ihres Arbeitslebens in die GRV eingezahlt haben, mit dem, was sie im Alter insgesamt aus der GRV erhalten. Wenn man berücksichtigt, dass einkommensschwächere Menschen häufiger vor dem 65. Lebensjahr sterben und somit überhaupt keine Rente erhalten, dann wird der Unterschied zwischen den Einkommensgruppen noch gravierender. So erhalten Rentner der Jahrgänge 1941 bis 1949, die zu den 40 Prozent der Einkommensschwächsten gehörten, über die gesamte Bezugsdauer hinweg gerechnet weniger Rente, als sie während ihres Arbeitslebens an Beiträgen eingezahlt haben (wenn man die Inflation rausrechnet). Die Wirtschaftswissenschaft spricht hier von einer negativen Rendite. Die einkommensstärksten Rentner dieser Geburtenjahrgänge erzielten dagegen eine Rendite von über ein Prozent. Das heißt, ihre eingezahlten Beiträge gewinnen durchschnittlich um mehr als ein Prozent im Jahr an Wert, bis sie ihnen in Form der Rente ausgezahlt werden.

Ist das gerecht? Für einige ist das Rentensystem eine Versicherung, die in gewisser Weise blind sein muss, also alle gleich behandeln sollte. Das Äquivalenzprinzip der GRV besagt, dass die Höhe der Rente (unter anderem) von der Höhe der eingezahlten Beiträge abhängt. Dabei diskriminiert das deutsche Rentensystem sehr wohl, zum Beispiel nach Alter: Junge Menschen müssen einen immer höheren Beitragssatz zahlen und erhalten immer weniger Rente im Vergleich zu ihrem Lebenseinkommen. Die Politik rechtfertigt diese Umverteilung von jüngeren zu älteren Menschen, sicherlich nicht zu Unrecht, als Generationengerechtigkeit. Auch viele private Versicherungen unterscheiden Beiträge und Leistungen nach dem Risikoprofil ihrer Mitglieder, so auch bei der Gesundheits- oder Autoversicherung.

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