DIW Wochenbericht 9 / 2019, S. 122
Alexander S. Kritikos, Erich Wittenberg
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Herr Kritikos, Italien wurde wie viele andere Länder von der Finanz- und Staatsschuldenkrise hart getroffen. Wie hat sich die italienische Wirtschaft seitdem entwickelt? Die italienische Wirtschaft hat im Unterschied zu den meisten EU-Staaten bis heute ihr Vorkrisenniveau nicht wieder erreicht. Das Bruttoinlandsprodukt liegt immer noch unterhalb des Niveaus aus dem Jahr 2008, gleichzeitig hat sich die Beschäftigung in der gewerblichen Wirtschaft stark negativ entwickelt.
Wo liegen die Gründe für diese schleppende Entwicklung? Man muss von einem verlangsamten Strukturwandel sprechen. Auf der einen Seite ist die Wertschöpfung im produzierenden Sektor, vor allem beim Bau, zwischenzeitlich auch im verarbeitenden Gewerbe, stark zurückgegangen – mit entsprechend negativen Beschäftigungseffekten. Auf der anderen Seite kommen die Wachstumsbranchen, die in anderen Ländern Europas zum Beschäftigungsaufbau beigetragen haben, in Italien nicht vom Fleck.
Von welchen Wachstumsbranchen sprechen Sie? Das sind insbesondere die wissensintensiven Dienstleistungen. Sie haben zum Beispiel in Deutschland oder in anderen mittel- und nordeuropäischen Staaten zu erheblichen Beschäftigungszuwächsen von 30 bis 40 Prozent geführt. Dieser Bereich stagniert in Italien.
Nun hat es seit der Finanzkrise ja auch Strukturreformen in Italien gegeben. Haben diese Reformen nichts gebracht? Nein, ich fürchte, sie haben leider nicht viel gebracht. In Italien hat man zum einen versucht, den Arbeitsmarkt zu reformieren, und zum anderen, die Staatsausgaben so zurückzufahren, dass die Staatsverschuldung nicht weiter zunimmt. Für diese erheblichen Anstrengungen wurde Italien nicht belohnt. Die Staatsschuldenquote ist zum Frust aller trotzdem gestiegen, obwohl Italien über viele Jahre hinweg einen sogenannten Primärüberschuss erzielt hat. Das war zum einen der Zinsentwicklung geschuldet, zum anderen aber auch dem rückläufigen Bruttoinlandsprodukt. Letzteres treibt die Staatsschuldenquote automatisch in die Höhe. Auf der anderen Seite wurden die Arbeitsmärkte in Italien mehreren Reformen unterzogen, aber das hat offensichtlich nicht ausgereicht. Es hätte wohl weiterer Reformen gerade außerhalb der Arbeitsmärkte bedurft, um die Unternehmen in den neuen Wachstumsbranchen zu stärken.
Wo müsste als erstes angesetzt werden, um die italienische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen? Das Wichtigste wird sein, mehr unternehmerisches Wachstum im Bereich der wissensintensiven Dienstleistungen durch bessere Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Man kann das von staatlicher Seite auf verschiedene Weise tun, etwa indem der Staat gezielt die staatlichen Forschungs- und Entwicklungsausgaben in diesem Bereich erhöht oder die digitale Infrastruktur ausbaut. Eine solche Erhöhung der Staatsausgaben würde außerdem die Produktion ankurbeln. Gleichzeitig wird man in Italien nicht umhinkommen, die regulatorischen Rahmenbedingungen zu verbessern. Derzeit werden dort die Investitionen durch eine komplizierte Steuergesetzgebung, durch Überregulierung jenseits der Arbeitsmärkte und durch ein schlecht funktionierendes Innovationssystem gehemmt. Das geht alles zulasten der neuen Wachstumsbranchen.
Sind die aktuellen Ansätze der italienischen Regierung geeignet, diesen Wirtschaftsreformprozess in Gang zu setzen? Eher nicht. Im Unterschied zur hier vorgeschlagenen sehr zielgerichteten Erhöhung der Staatsausgaben möchte die italienische Regierung eher Transfers erhöhen, indem sie das Renteneintrittsalter absenkt und ein Grundeinkommen finanziert. Diese Reformvorschläge führen zwar auch zu einer Erhöhung der Staatsausgaben, aber sie werden dem notwendigen Transformationsprozess der italienischen Wirtschaft keine neuen Impulse geben.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Unternehmen, Konjunktur, Forschung und Entwicklung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-9-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/194166