DIW Wochenbericht 11 / 2019, S. 151-153
Claus Michelsen, Guido Baldi, Martin Bruns, Marius Clemens, Geraldine Dany-Knedlik, Hella Engerer, Marcel Fratzscher, Stefan Gebauer, Max Hanisch, Simon Junker, Konstantin Kholodilin, Malte Rieth, Thore Schlaak
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„Die Wachstumsdynamik wird vielerorts zunehmend vom Konsum statt von den Investitionen getragen. Das ist schlecht für die deutsche Industrie, denn sie exportiert in erster Linie Investitionsgüter. Deshalb bekommen wir die Entwicklung beispielsweise in China und Teilen des Euroraums so stark zu spüren.“ Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef
Die deutsche Wirtschaft wird nach Einschätzung des DIW Berlin im laufenden und im kommenden Jahr weiterhin mit soliden Wachstumszahlen aufwarten. Insgesamt kühlt die Konjunktur aber merklich ab und die Auslastung der Produktionskapazitäten erreicht wieder ihr Normalniveau. Hierfür ist in erster Linie eine Abschwächung der Weltkonjunktur verantwortlich. Belastet wird diese durch die konjunkturelle Schwäche Chinas, Handelskonflikte und politische Unwägbarkeiten, etwa rund um den Brexit. Dies trifft in besonderem Maße die auf den Investitionsgüterexport spezialisierte deutsche Wirtschaft. Deutschlands Wachstumsdelle wird aber voraussichtlich nach und nach wettgemacht. Dabei hilft, dass die privaten Haushalte seit Jahresbeginn von einigen Entlastungen profitieren und sich die Anzeichen für eine Erholung in der Automobilindustrie mehren. Dennoch senkt das DIW Berlin auch angesichts der auf breiter Front eingetrübten Geschäftserwartungen seine Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft auf 1,0 Prozent für dieses Jahr. Der Ausblick für das Jahr 2020 bleibt mit prognostizierten 1,8 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nahezu unverändert.
Kurzfristig dominieren Sondereffekte das Wirtschaftsgeschehen: So hatte die Automobilbranche bis in den Winter mit den Folgen der schleppenden Zertifizierung der Fahrzeugflotte nach dem neuen Abgas- und Verbrauchsstandard WLTP zu kämpfen. Die jüngsten Zahlen zur Umsatzentwicklung zeigen aber, dass diese Schwäche allmählich überwunden wird. Auch die chemische Industrie scheint sich zu erholen, nachdem ihre Produktion im Herbst aufgrund niedriger Pegelstände auf den Binnenschifffahrtswegen um mehr als 20 Prozent eingebrochen war. Hinzu kommt ein Impuls der Finanzpolitik: Die Beschlüsse der Großen Koalition – etwa dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung wieder hälftig von Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen getragen werden – haben den privaten Haushalten seit dem Jahresbeginn kräftige Einkommenszuwächse beschert. Diese kurbeln den privaten Konsum an.
Auch im weiteren Verlauf des Prognosezeitraums wird die Binnenwirtschaft das Wachstum stützen. Der Arbeitsmarkt zeigt keinerlei Anzeichen von Schwäche – der Beschäftigungsaufbau geht ungebremst weiter. Im laufenden Jahr dürfte die Beschäftigung ein neues Rekordniveau erreichen und die Arbeitslosenquote mit 4,8 Prozent einen weiteren Tiefststand seit der Wiedervereinigung erreichen. Die Entwicklung der realen Löhne ist auch dank der aktuell wieder spürbar geringeren Preissteigerungen – die Inflation liegt in diesem Jahr voraussichtlich bei 1,5 Prozent – mit einem Zuwachs von ebenfalls 1,5 Prozent recht kräftig. Die Bauwirtschaft brummt und auch die Unternehmen haben bis zuletzt trotz aller Unwägbarkeiten in den Ausbau ihrer Produktionskapazitäten investiert.
Auf die Stimmung schlägt allerdings das außenwirtschaftliche Umfeld, das sich derzeit rau zeigt. Nahezu alle Stimmungsindikatoren haben in den letzten Monaten deutlich nachgegeben. Dabei sind es vor allem die Geschäftserwartungen der Industrieunternehmen, die global rückläufig sind – die Dienstleister sind weiterhin zuversichtlich. Die Gründe für die schlechtere Stimmung sind vielfältig: Die Impulse der Finanzpolitik ebben in den USA allmählich ab – der sogenannte Shutdown, also der Haushaltsstillstand in den USA, hat zudem das Wachstum der US-Wirtschaft gedrückt. In Europa bereitet vor allem die italienische Wirtschaft Sorge. Dort ist das Wachstum weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Und auch Chinas Wirtschaft zeigte sich zuletzt eher schwach. Global haben insbesondere die Investitionen an Dynamik verloren, was der deutschen Wirtschaft aufgrund ihrer Spezialisierung in diesem Segment besonders zu schaffen macht. Dies ist auch Ausdruck des wirtschaftspolitisch unsicheren Umfelds – die Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China haben sich zwar beruhigt. Ungemach zeichnet sich aber in Form eines neuerlichen Aufflammens des Konflikts zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten um die Automobilexporte in die USA ab. Gerade für die deutsche Wirtschaft stellt die Einführung von Zöllen ein erhebliches Risiko dar. Auch anhaltende Diskussionen über den Brexit dürften sich kaum positiv auf die Konjunktur auswirken. Angesichts der konjunkturellen Abkühlung und der geringen Teuerung hat die Europäische Zentralbank bereits angekündigt, weiterhin expansive geldpolitische Impulse zu setzen. Die Federal Reserve hat ebenfalls angedeutet, das Tempo der Zinserhöhungen zu reduzieren und damit auf die schwächere wirtschaftliche Entwicklung in den USA zu reagieren.
Die Lage stellt sich längst nicht mehr so vorteilhaft dar wie noch vor Jahresfrist und die Risiken für die Prognose sind deutlich größer geworden. Dies betrifft einerseits das internationale Umfeld: Chinas Regierung hat zwar umfassende Konjunkturpakete angekündigt, um die Wirtschaft zu stützen. Ob und wann diese wirken, bleibt aber ungewiss. In den übrigen Absatzmärkten sind die binnenwirtschaftlichen Kräfte weiter intakt. Die Abkühlung geht dort vor allem auf fehlende Impulse des verarbeitenden Gewerbes zurück. Sollte die Schwäche der Industrie, die wohl in erheblichem Maße durch Unsicherheit verursacht ist, auch auf die Dienstleistungssektoren überspringen, könnte die globale Nachfrage weiter an Schwung verlieren. Darunter würde die Konjunktur in Deutschland zusätzlich leiden. Diese steht aber auch in einige Schlüsselbranchen vor großen Herausforderungen: So wurde die Absatzschwäche deutscher Automobile in erster Linie mit Problemen bei der Zertifizierung nach dem neuen Standard WLTP in Verbindung gebracht. Allerdings kann es ebenfalls sein, dass der Standort Deutschland im globalen Wettbewerb mehr und mehr an Boden verliert. Die umsatzstarken Modelle – beispielsweise im Bereich der SUV – werden überwiegend nicht in Deutschland gefertigt. Auch der Absatz von Dieselfahrzeugen kommt angesichts drohender Fahrverbote mehr und mehr ins Stocken. Sollten sich die Produktionsrückgänge der Sommermonate des vergangenen Jahres aus diesen Gründen eher als dauerhaft denn als reiner Sondereffekt herausstellen, dann würde dies auch ein deutlich geringeres gesamtwirtschaftliches Wachstum bedeuten.
Trotz dieser Risiken bleibt das DIW Berlin aber bei seiner grundsätzlich positiven Einschätzung der konjunkturellen Lage. Diese Einschätzung stützt sich maßgeblich auf die nach wie vor starken binnenwirtschaftlichen Kräfte. Die öffentlichen Haushalte dürften daher weiterhin mit erheblichen Überschüssen abschließen. Gleichwohl werden die Spielräume aber zunehmend kleiner. Der Überschuss wird von 58 Milliarden Euro im Jahr 2018 wohl auf gut 37 Milliarden Euro im Jahr 2020 sinken.
Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Jahren der Haushaltskonsolidierung der Schuldenstand deutlich verringert und liegt jetzt unter 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, was den Maastricht-Kriterien entspricht. Das nach wie vor äußerst günstige Zinsniveau eröffnet Chancen, notwendige und hoch rentable Zukunftsinvestitionen zu finanzieren und damit wichtige Wachstumsimpulse zu setzen. Dabei geht es nicht allein darum, den Verschleiß etwa der Verkehrsinfrastruktur der vergangenen Jahre auszugleichen. Es muss vor allem das Ziel sein, notwendige Zukunftsprojekte, beispielsweise in den Bereichen der Digitalisierung sowie Forschung und Entwicklung voranzutreiben. Dies steigert das Wachstumspotential und die Wettbewerbsfähigkeit. Überdies würde ein Investitionsimpuls die sich abkühlende Konjunktur stützen.
Themen: Konjunktur
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-11-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/195138