Produktivitätsrückstand ist nicht mehr eine Frage des Ostens: Kommentar

DIW Wochenbericht 16/17 / 2019, S. 296

Martin Gornig

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Der Fall des Eisernen Vorhangs in Europa und der Berliner Mauer liegen nun fast 30 Jahre zurück. Dies wird mit Recht zum Anlass genommen, in nahezu allen gesellschaftspolitischen Bereichen auch Bilanz zu ziehen in den deutsch-deutschen Beziehungen. Was ist erreicht worden, wo besteht noch Handlungsbedarf?

In ökonomischer Hinsicht geht es insbesondere um die Frage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die DDR ist nicht zuletzt auch daran gescheitert, Arbeit und Kapital nicht produktiv genug eingesetzt zu haben. Analysen zeigen, dass die Produktivität insbesondere der Arbeitskräfte nach der Wiedervereinigung rasant gestiegen ist. Dies auch, weil ein – in der Geschichte nahezu einmaliger – Kapitalzufluss beobachtet werden konnte. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 aber hat sich das Tempo des Aufholens verlangsamt. In manchen Bereichen ist es sogar zum Erliegen gekommen. Dabei ist die Lücke im Produktivitätsniveau zwischen Ost und West immer noch beachtlich. Je nach Messkonzept und Abgrenzung sind es mal etwas mehr, mal etwas weniger als 20 Prozent, die Ostdeutschland hinter dem Westen zurückliegt.

Bevor nun vorschnell Therapievorschläge entwickelt werden, ist zu fragen, wo die Ursachen liegen. Unsere aktuelle Studie für die Bertelsmann-Stiftung weist darauf hin, dass dies nichts mit fehlendem Einsatzwillen der Beschäftigten oder ihrer Qualifikation zu tun hat. Vielmehr liegt der Produktivitätsrückstand des Ostens an grundlegenden strukturellen Unterschieden. So ist der Anteil der Industrie – und gerade die Industrie ist es, die in Deutschland für hochproduktive, gut bezahlte Jobs sorgt – in den ostdeutschen Regionen immer noch viel geringer als im Westen. Entscheidend für die Produktivität ist aber auch das regionale Umfeld, in dem die Firmen arbeiten. Je mehr Firmen gleicher oder unterschiedlicher Spezialisierung an einem Ort, je höher die Ballungsvorteile, je produktiver also die Unternehmen und ihre Beschäftigten.

Betrachtet man vergleichbare Regionen in West und Ost – vergleicht man also ländliche mit ländlichen Räumen und die Städte miteinander –, schmilzt die Produktivitätslücke auf ein Minimum. So setzen zumindest im verarbeitenden Gewerbe die Unternehmen in ostdeutschen Großstädten und in ostdeutschen ländlichen Regionen Arbeit und Kapital ähnlich effizient ein wie ihre Konkurrenten in vergleichbaren Westregionen. In der Summe ergibt sich aber dennoch ein Produktivitätsrückstand Ostdeutschlands, weil ländliche Räume weniger produktiv als städtische Regionen arbeiten können und im Osten weniger große Städte und mehr ländliche Räume vorhanden sind.

Wie mit diesem Befund umgehen? Die neuen Chancen, die sich durch Umstrukturierungen der Industrie im Zuge der Digitalisierung ergeben, sollten genutzt werden. Gefragt ist hier ein kluger industriepolitischer Mix aus Innovations-, Investitions- und Gründungsförderung.

An der grundlegenden Tatsache, dass es weniger große Städte und mehr ländliche Regionen in Ostdeutschland gibt, wird man sinnvollerweise nichts ändern können und wollen. 70 Jahre relativer Bevölkerungsverlust sind nicht einfach umkehrbar. Auch scheint es wenig erfolgsversprechend, wenn Deutschland auf die Produktivitätsvorteile verzichtet, die die räumliche Ballung wirtschaftlicher Aktivität im internationalen Wettbewerb bietet. Entsprechend gilt es, in Deutschland dauerhaft einen Ausgleich zu organisieren, nicht zwischen West und Ost, sondern deutschlandweit zwischen Stadt und Land. Dem traditionellen Länderfinanzausgleich kommt dabei eine wichtige Funktion zu. Angesichts des verschärften Stadt-Land-Gegensatzes kann er die Ausgleichsaufgabe aber nicht allein schultern. Gefordert ist hier vielmehr der Bund, um durch eine nachhaltige Infrastrukturoffensive die Attraktivität und Wachstumschancen des ländlichen Raums zu stärken.

Dieser Kommentar ist in einer längeren Version am 16. April 2019 im Tagesspiegel erschienen.

Martin Gornig

Forschungsdirektor für Industriepolitik in der Abteilung Unternehmen und Märkte

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