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Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz: Handel, Fusionskontrolle, Industrie, Innovationen: Berichte

DIW Wochenbericht 18 / 2019, S. 302-309

Tomaso Duso, Martin Gornig, Alexander Kritikos, Malte Rieth, Axel Werwatz

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Europa sollte im Handelskonflikt mit den USA mit einer Stimme sprechen

Von Malte Rieth

  • Berechnungen am DIW Berlin zeigen, dass im Stahlkonflikt die Aktienkurse von US-Unternehmen von den Ankündigungen höherer Zölle profitierten
  • Dagegen fallen bei Ankündigungen von höheren Zöllen zwischen China und den USA die Aktienkurse global und in den USA signifikant
  • Bei Zollankündigungen für EU-Waren reagieren die Kurse bisher nicht merklich
  • Eine geschlossene und entschlossene Haltung der EU, ähnlich der Chinas, könnte Amerikas Aktienkurse treffen und dadurch den US-Präsidenten von weiteren Zollerhöhungen abhalten

Das globale Umfeld für die deutsche und europäische Wirtschaft wird zunehmend rauer. Neben der Unsicherheit über den Brexit und der Abschwächung der weltweiten Wachstumsdynamik dürften die von den USA ausgehenden Handelsstreitigkeiten mit der EU den weiteren Konjunkturverlauf wesentlich mitbestimmen.

Bisher hat die US-Regierung vier Handelskonflikte entfacht. Zunächst verhängte sie Schutzzölle auf alle importierten Solarpanele und Waschmaschinen. Lediglich China und Korea reagierten mit Gegenmaßnahmen. Danach verhängten die USA Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium gegenüber dem überwiegenden Rest der Welt. Neben China und Kanada beschloss diesmal auch die EU Gegenmaßnahmen und besteuerte die Einfuhr ausgewählter amerikanischer Güter. In einer dritten Runde führte die US-Regierung mit der Begründung, die Handelspraktiken seien unfair und die nationale Sicherheit sei bedroht, Zölle auf chinesische Importe ein. Die Regierung in Peking antwortete umgehend mit Gegenmaßnahmen zum Schutz der heimischen Wirtschaft. Mittlerweile zeichnet sich in diesem Handelskonflikt eine Entschärfung ab.

Dafür bahnt sich, viertens, eine Auseinandersetzung um den Export von europäischen Kraftfahrzeugen und Autoteilen in die USA an. Aufgrund der wichtigen Rolle des Automobilsektors in Europa würde eine US-Zollanhebung wohl in vielen Ländern der Staatengemeinschaft und insbesondere in Deutschland die Exporte, die Investitionen und den Arbeitsmarkt belasten. Was können Deutschland und die EU tun, um dies zu verhindern?

Hierfür lohnt ein Blick auf die Finanzmarkteffekte der jüngsten Handelsauseinandersetzungen. Eine Analyse der Aktienrenditen an Tagen, an denen die Streitparteien höhere Zölle ankündigten (oder einführten), zeigt, dass der Stahl- und der Chinakonflikt bisher sehr unterschiedlich wirkten.infoDie in die Analyse einbezogenen Ankündigungsdaten basieren auf Chad P. Bown und Melina Kolb (2019): Trump’s Trade War Timeline: An Up-to-Date Guide. Peterson Institute for International Economics (online verfügbar, abgerufen am 11. April 2019). Die Erhöhung der Stahl- und Aluminiumzölle durch die Vereinigten Staaten erhöhte die Renditen von US-Aktien im Durchschnitt (Tabelle). Während der Effekt für international agierende Großunternehmen nicht signifikant ist (erfasst durch den Dow-Jones-Index der größten Industrieunternehmen, Spalte 1), scheinen vor allem binnenwirtschaftlich orientierte Unternehmen zu profitieren (erfasst durch den breiten Index Russell 2000, Spalte 2). Für europäische Firmen werden die Maßnahmen weitgehend negativ eingeschätzt, wenngleich die Effekte nicht statistisch signifikant sind (Spalten 3 bis 5). Möglicherweise wird durch die US-Zölle eine Umverteilung der Gewinne von ausländischer Produzentenrente hin zu binnenmarktorientierten US-Unternehmen und dem amerikanischen Staat in Form von höheren Zolleinnahmen erwartet.

Tabelle: Wie die Aktienindizes auf Ankündigungen von Zollerhöhungen reagierten

Veränderung der Tagesrenditen in Prozent

Modell 1 2 3 4 5 6
Abhängige Variablen
Aktienindizes Dow Jones Russel 2000 MSCI Germany MSCI France MSCI Italy MSCI China
Indikatorvariablen
Höhere US-Stahlzölle 0,237 0,302* −0,174 −0,127 −0,388 0,247
Zollniveau USA und China steigt −0,319* −0,310* −0,086 −0,091 −0,331 −0,589**
Zollniveau USA und EU steigt −0,014 0,012 −0,079 0,008 0,109 −0,176

Anmerkung: Die Modelle wurden mit jeweils einer der drei Indikatorvariablen separat geschätzt. Alle Modelle enthalten einen linearen Zeittrend und eine Konstante, n = 493.

Signifikanzniveau: * p < 0,1, ** p < 0,05.

Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf Peterson Institute for International Economics und Bloomberg.

Lesebeispiel: Als die USA oder China höhere Zölle auf Importe aus dem jeweils anderen Land ankündigten, fielen die Aktienindizes sowohl in den USA signifikant (um 0,3 Prozent, Spalten 1 und 2) als auch in China (um 0,6 Prozent, Spalte 6).

Ein deutlich anderes Bild ergibt sich für den Konflikt zwischen den USA und China. Ankündigungen, die eine Erhöhung des bilateralen Zollniveaus implizierten, sorgten für Kursrückgänge in allen betrachteten Ländern. Vor allem die Aktien von chinesischen Unternehmen verloren an diesen Tagen massiv an Wert (Spalte 6). Im Gegensatz zum Stahlkonflikt reduzierten sich aber auch die Aktienrenditen von US-Unternehmen – sowohl von international tätigen als auch von kleineren Unternehmen.

Offenbar wird die Auseinandersetzung mit China deutlich anders eingeschätzt als der Stahlkonflikt. Das mag zum einen an der Größe des Konflikts liegen, zum anderen an der Dramaturgie. In den Augen der Investoren messen sich im China-Konflikt zwei nahezu gleichstarke Gegner, die mit jeweils einer Stimme sprechen und unmittelbar auf die Aktionen des anderen mit Gegenmaßnahmen reagieren. Die Auswirkungen auf die globale Konjunktur und die Unternehmensgewinne werden daher negativ für alle Seiten eingeschätzt. Hingegen ist der Stahlkonflikt in der Wahrnehmung der Aktienmärkte für die USA vorteilhaft. Hier sieht sich ein dominanter Akteur einer Vielzahl von zumeist kleinen Ländern gegenüber, die wenig konzertiert und – wenn überhaupt – nur geringfügig auf die US-Schutzzölle reagieren.

Schaut man sich schließlich an, wie die Auseinandersetzung zwischen den USA und der EU bisher wirkte, so ergibt sich (noch) kein klares Bild. Die Koeffizienten sind alle insignifikant. Die Schätzergebnisse aus den anderen Konflikten können für die EU eine Lehre sein. Es gelang ihr bisher nicht, so kraftvoll und geschlossen gegenüber den USA aufzutreten wie die chinesische Regierung. Schafft sie es künftig hingegen, mit einer Stimme zu sprechen, dürfte dies – wie im Falle Chinas – auch die US-Aktienmärkte nicht unbeeindruckt lassen. Dies wiederum könnte sogar die Meinung eines US-Präsidenten ändern, der die Höhe der US-Leitindizes zum Barometer seines Erfolgs erklärt hat. Vielleicht war es mehr als Zufall, dass die US-Regierung im Zuge der harschen Verluste an der Wall Street gegen Ende des vergangenen Jahres die Aussetzung der weiteren Eskalationsstufen gegenüber China ankündigte. Viel spricht auf jeden Fall dafür, dass Europa im Handelskonflikt mit den USA Einigkeit demonstriert.

Europäische Fusionskontrolle: Lieber mehr als weniger

Von Tomaso Duso

  • Marktkonzentration kann oft zu unnötig hohen Preisen und niedriger Innovation führen
  • Eine effiziente europäische Fusionskontrolle hat positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivität
  • In Zeiten von gestiegener Marktkonzentration muss die Fusionskontrolle gerade in digitalen Märkten noch stringenter durchgesetzt werden
  • Bestrebungen, die Fusionskontrolle zu schwächen, muss entschieden entgegengetreten werden

Seit dem Gründungsvertrag von Rom ist die Wettbewerbspolitik einer der Eckpfeiler der Europäischen Union. Die Gründungsmitgliedstaaten waren der Auffassung, dass die Autorität in Wettbewerbsfragen zum großen Teil den europäischen Organen überlassen werden müsste, da der funktionierende Wettbewerb für die Entstehung eines europäischen Binnenmarkts als zentral angesehen wurde. Um diese Ziele zu unterstützen, wurde der Generaldirektion (GD) Wettbewerb der Europäischen Kommission eine unvergleichbar starke Unabhängigkeit und Durchsetzungsbefugnis in diesem Bereich eingeräumt. Obwohl die 28 EU-Mitgliedstaaten auch nationale Wettbewerbsbehörden – etwa das Bundeskartellamt in Deutschland – haben, ist die EU allein für gemeinschaftsweite Wettbewerbsfragen zuständig. Dementsprechend kann sie wettbewerbswidrige Zusammenschlüsse zwischen Unternehmen – auch wenn sie nicht europäisch sind – blockieren oder umgestalten, hohe Strafen für Marktmissbräuche verhängen, die Kartellierung von Märkten bestrafen und aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe verbieten, wenn diese die europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher schädigen.

Die Fusionskontrolle spielt dabei eine besondere Rolle. Sie ist der einzige Bereich, in dem die Durchsetzung der Wettbewerbsregel im Voraus stattfindet, denn alle großen Zusammenschlüsse müssen zuerst von der Kommission freigegeben werden. Demzufolge hat die Fusionskontrolle wichtige Konsequenzen für die anderen Bereiche des Kartellrechts. Wenn wettbewerbswidrige Fusionen nicht blockiert werden, kann dies die Kontrolle von missbräuchlichen Verhaltensweisen in der Zukunft erschweren.

Obwohl viele Stimmen die Qualität und die Unabhängigkeit der europäischen Wettbewerbsordnung und Institutionen als Erfolg feiern,infoVgl. Germán Gutiérrez und Thomas Philippon (2018): How EU markets became more competitive than US markets: a study of institutional drift. National Bureau of Economic Research, Working Papers 24700. sind die Wettbewerbspolitik und insbesondere die Fusionskontrolle in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert worden. Einige halten die Fusionskontrolle für zu aggressiv. Zusammenschlüsse seien meistens wettbewerbsfördernd, würden sehr wichtige Synergien erzeugen und nationalen oder europäischen Großunternehmen erlauben, global wettbewerbsfähig zu bleiben. Wettbewerbsbehörden sollten deswegen weniger intervenieren und besonders die Entstehung nationaler beziehungsweise europäischer Champions einfacher erlauben. Besonders heftig haben verschiedene deutsche und französische Politikerinnen und Politiker sowie mehrere Industrieunternehmen kritisiert, dass die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens im Frühjahr 2019 untersagt wurde.

Andere finden dagegen die Wettbewerbspolitik weltweit zu lasch. Eine zu schwache Durchsetzung der Fusionskontrolle wäre einer der Hauptgründe für die steigende Konzentration in vielen Märkten.infoVgl. Gutiérrez und Philippon (2018), a.a.O. Die Wettbewerbsbehörden sollten daher viel aktiver gegen die Entstehung dominanter Spieler vorgehen. Die erlaubten Übernahmen etwa von Instagram und WhatsApp durch Facebook wurden in diesem Sinne oftmals als beispielhafter Fehler bezeichnet.

Fragt sich, inwiefern diese Vorwürfe jeweils gerechtfertigt sind. Dass die EU-Kommission besonders interventionistisch vorgeht, ist tatsächlich nicht zu belegen. Sie hat zwischen 1990 und 2014 genau 5169 Fusionen geprüft. Lediglich 19 wurden nicht genehmigt, fünf weitere wurden von den Unternehmen selbst nach einer langen Prüfung zurückgezogen, die Fusion wurde quasi untersagt. Das macht weniger als 0,5 Prozent aller Fälle aus. In 239 Fällen (4,6 Prozent) hat die Kommission Abhilfemaßnahme in der ersten Prüfungsphase und in 104 Fällen (zwei Prozent) in der vertieften zweiten Prüfungsphase verhängt (Abbildung 1).infoVgl. Pauline Affeldt, Tomaso Duso und Florian Szücs (2018): EU Merger Control Database: 1990–2014. DIW Data Documentation 95 (online verfügbar, abgerufen am 11. April 2019. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht, sofern ncht anders vermerkt).

Gleichzeitig deuten Studien darauf hin, dass die Marktkonzentration nicht nur in den USA und Asien, sondern auch in Europa gewachsen istinfoVgl. OECD (2018): Market concentration, DAF/COMP/WD 46. und dass die Aufschläge und Gewinne von Unternehmen in europäischen Ländern deutlich gestiegen sind, wenngleich weniger als in den USA.infoVgl. Jan De Loecker und Jan Eeckhout (2018): Global market power. National Bureau of Economic Research, Working Papers 24768.

Forschungsergebnisse des DIW Berlin aus den vergangenen zehn Jahren zeigen, dass die EU-Kommission in der Periode von 1990 bis 2001 durchaus falsche Entscheidungen bei der Durchführung der Fusionskontrolle getroffen hat.infoTomaso Duso, Damien J. Neven und Lars-Hendrik Röller (2007): The Political Economy of European Merger Control: Evidence Using Stock Market Data. The Journal of Law and Economics. 50 (3), 455–489. Sie hat einige wettbewerbswidrige Zusammenschlüsse genehmigt, während sie andere, unproblematische Fusionen nicht genehmigte beziehungsweise Abhilfemaßnahmen verhängte. Solche Fehlentscheidungen gab es besonders häufig bei Fusionen, bei denen Unternehmen aus kleinen europäischen Ländern betroffen waren. Anfang der 2000er Jahre hat der Europäische Gerichtshof drei Entscheidungen der Kommission revidiert, da die ökonomische Beweisführung bei der Urteilsfindung nicht korrekt war.infoDas war der Fall bei den Fusionen von Airtours/First Choice, Schneider/Legrand sowie Tetra Laval/Sidel. Auch deswegen wurde die europäische Fusionskontrolle 2004 einer umfassenden Reform unterzogen. Eine empirische Untersuchung dieser Reform zeigt, dass die Kommission danach weniger Fehlentscheidungen traf. Darüber hinaus wurde festgestellt und in weiteren Studien bekräftigt, dass Fusionsverbote sowie Abhilfemaßnahmen – insbesondere in der ersten Prüfungsphase – etwas effektiver geworden sind und Abschreckungseffekte auf zukünftige Fusionen ausübten.infoVgl. Tomaso Duso, Klaus Gugler und Florian Szücs (2013): An Empirical Assessment of the 2004 EU Merger Policy Reform. The Economic Journal, 123, 572, F596–F619; Tomaso Duso und Florian Szücs (2014): Die Ökonomisierung der Europäischen Fusionskontrolle: eine Evaluierung. DIW Wochenbericht Nr. 29, 699–704 (online verfügbar); und Joseph Clougherty et al. (2016). Effective European Antitrust: Does EC Merger Policy Involve Deterrence? Economic Inquiry, 54(4), 1884–1903. Aktuelle Forschung am DIW Berlin evaluiert die europäische Fusionskontrolle und zeigt, welche die Hauptdeterminanten der Kommissionsentscheidungen waren und wie sie sich über die Zeit entwickelt haben.infoVgl. Pauline Affeldt, Tomaso Duso und Florian Szücs (2019): Twenty-five years European merger control. DIW Discussion Paper 1797 (online verfügbar).

Diese umfassende Forschung zeigt, dass die Fusionskontrolle positive Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Produktivität hat, aber auch noch verbesserungswürdig ist.infoVgl auch Tomaso Duso (2014): Eine bessere Wettbewerbspolitik steigert das Produktivitätswachstum merklich. DIW Wochenbericht Nr. 29, 687–697 (online verfügbar); Paolo Buccirossi et al. (2013): Competition Policy and Productivity Growth: An Empirical Assessment. The Review of Economics and Statistics. 95(4), 1324–1336. Um effektiver zu sein und weiterhin wettbewerbswidriges Verhalten abzuschrecken, sollte die Kommission bedenkliche Fusionen konsequenter blockieren und vermehrt harte Abhilfemaßnahmen in der ersten Phase verhängen. Das gilt besonders in digitalen Märkten, wo hunderte Übernahmen von kleinen Start-ups durch große Techgiganten ohne jeweilige wettbewerbsrechtliche Überprüfung durchgegangen sind. In diesem Sinne scheinen die jüngsten Vorschläge der deutschen und französischen Wirtschaftsminister, die die Unabhängigkeit der GD Wettbewerb angreifen und die europäische Fusionskontrolle schwächen wollen, alles andere als zielführend.

Industriepolitik muss an heterogene regionale Potentiale anknüpfen

Von Martin Gornig und Axel Werwatz

  • Die Digitalisierung führt zu einem Wandel der Industrie und zu globalen Herausforderungen
  • Die EU-Industriepolitik will diesen mit Erhöhung des Industrieanteils an der Wertschöpfung begegnen
  • Analysen des DIW Berlin zeigen, dass ausgewählte Regionen mit geringem Industrieanteil in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen können
  • Dazu gehören Ballungsräume aufgrund hoher Anzahl an qualifizierten potentiellen Arbeitskräften, Tourismusregionen aufgrund guter Infrastruktur sowie ländliche Regionen in Südosteuropa aufgrund von Kostenvorteilen

Die Notwendigkeit einer aktiven Industriepolitik der Europäischen Union wird aktuell wieder besonders betont.infoEuropean Political Strategy Centre (2019): EU Industrial Policy after Siemens-Alstrom, Finding a new balance between openess and protection. Neue technologische Entwicklungen wie digitale Plattformen tragen dazu bei, dass gerade große Unternehmen, die in den amerikanischen und asiatischen Massenmärkten entstehen, Wettbewerbsvorteile besitzen. Gleichzeitig wird die Gefahr gesehen, dass China und die USA künftig ihre marktbeherrschende Stellung im IT-Sektor strategisch zu Ungunsten der Industrie in Europa einsetzen könnten, wenn beispielsweise Google oder Amazon in den Automobilsektor eindringen.infoBundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Nationale Industriestrategie 2030. Strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik. Vermehrter industriepolitischer Handlungsbedarf wurde aus wissenschaftlicher Sicht bereits nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 festgestellt.infoPhilippe Aghion, Julian Boulanger und Elie Cohen (2011): Rethinking industrial policy. Bruegel policy brief 4; sowie Joseph E. Stiglitz, Justin Yifu und Celestin Monga (2013): The rejuvenation of industrial policy. Policy Research Working Paper Nr. 6628. Anfang 2014 entwickelte die EU-Kommission ein wirtschaftspolitisches Programmpaket für eine industrielle Renaissance Europas. Demnach soll der Industrieanteil (verarbeitendes Gewerbe inklusive Energie und Bergbau) an der Bruttowertschöpfung von 18 Prozent im Jahr 2009 auf 20 Prozent bis 2020 steigen.infoEuropean Commission (2014): For a European Industrial Renaissance, Brüssel 14 final.

Was aber bedeutet die genannte Zielvorgabe für die einzelnen Regionen in Europa? Gibt es Regionen, die ein hohes Potential für eine verstärkte Industrialisierung besitzen und leitet sich daraus ein besonderer Handlungsbedarf ab? Um den erwarteten Anteil der Industrieproduktion für jede Region abzuschätzen, wird ein Regressionsmodell verwendet, das auf einer logistischen Trendfunktion basiert. Die Eckwerte der Trendfunktion werden zum einen durch nationale Rahmenbedingungen wie überregionale Infrastruktur, nationale Bildungs- und Innovationssysteme sowie zum anderen durch regionalökonomische Faktoren wie geografische Lage und Bevölkerungsdichte bestimmt.infoMartin Gornig und Axel Werwatz (2019): The potential for industrial activity among EU regions – an empirical analysis at the NUTS2 level. FORLand Working paper, Humboldt-University (im Erscheinen).

Die Ergebnisse bestätigen eine große Bedeutung regionalökonomischer Einflüsse. Je länger die Transportwege zur Kernzone der EU – diese reicht von Oberitalien über die Rheinschiene bis nach Südengland – sind, umso geringer fällt der erwartete Industrieanteil aus. Gleichzeitig zeigt sich, dass mit zunehmender Dichte der Besiedlung der erwartete Industrieanteil leicht abnimmt. Statistisch nachweisbar sind darüber hinaus länderspezifische institutionelle Einflüsse.

Betrachtet man die 20 europäischen Regionen, in denen der berechnete Erwartungswert wesentlich höher ist als der tatsächliche Industrieanteil, lassen sich drei unterschiedliche Typen von Regionen identifizieren (Abbildung 2). Beim ersten und am stärksten vertretenden Typus mit sehr geringen Industrieanteilen handelt es sich um einkommensstarke hoch verdichtete Regionen. Hierzu zählen in erster Linie Hauptstadtregionen. Die höchsten negativen Abweichungen zum erwarteten Industrieanteil weisen unter anderem Prag, Bratislava, Budapest, Rom und Stockholm auf. Aber auch andere stark entwickelte Regionen wie Malmö, Surrey, Kent, Namur oder Darmstadt verfehlen den erwarteten Industrieanteil deutlich. In der Region Malmö liegt beispielsweise der erwartete Industrieanteil bei rund 20 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie der tatsächlich erreichte von zehn Prozent.

Die Regionen des zweiten Typus weisen eine extensive Tourismusnutzung auf. Hierzu zählen insbesondere sehr bekannte südeuropäische Regionen wie die Côte d’Azur, die Algarve und die Ionischen Inseln sowie Ligurien und Valle d’Aosta. In diese Kategorie der Tourismusregionen fällt auch Mecklenburg-Vorpommern. Die Region weist aktuell einen Industrieanteil von knapp zwölf Prozent aus. Unter den nationalen und regionalökonomischen Rahmendaten wären eigentlich 18 Prozent zu erwarten.

Zum dritten Typus zählen Regionen in Südosteuropa. Hier ist die negative Abweichung zum erwarteten Anteil der Industrie insbesondere in Regionen außerhalb der Hauptstädte sehr groß. Spitzenreiter sind die Region Yugozapaden südwestlich von Sofia in Bulgarien und drei ländliche Regionen in Rumänien.

Da diese drei Typen sehr heterogen sind, ist nicht zu erwarten, dass das ehrgeizige industriepolitische 20-Prozent-Ziel durch einige wenige durchschlagende Maßnahmen zu erreichen ist. So wichtig eine Aufstockung europäischer Technologieprogramme, die Schaffung gemeinsamer Standards oder die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen sind, kommt es auch darauf an, eine industriepolitische Strategie zu entwickeln, die die Verknüpfung mit den unterschiedlichen regionalen Potentialen (Forschungsinfrastrukturen, Humankapital, Kostenvorteile) erlaubt.

Das Wissenspotential insbesondere in den genannten Hauptstadtregionen könnte durch EU-Forschungsprogramme weiter gestärkt und intensiver auch für moderne kleinteiligere industrielle Entwicklungen genutzt werden.infoMartin Gornig et al (2018): Industrie in der Stadt: Wachstumsmotor mit Zukunft. DIW Wochenbericht Nr. 47 (online verfügbar, abgerufen am 11. April 2019). Dazu müsste allerdings gleichzeitig auf regionaler Ebene die Flächenkonkurrenz der Industrie zu Dienstleistungen und Wohnen besser gelöst werden als heute.

Der besondere Charakter und die damit verbundene Attraktivität der Tourismusregionen muss auch künftig erhalten werden. Im Zuge der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie eröffnen sich dennoch neue Möglichkeiten, saubere kleinteilige Industrien in Randlagen der hoch attraktiven Tourismuszentren zu entwickeln. Diese Regionen besitzen in der Regel schon günstige Verkehrsinfrastrukturen. Zudem geht von ihnen eine hohe Anziehungskraft auf gut ausgebildete mobile Arbeitskräfte aus, dem Wachstumselixier moderner Industrie.

Der Fall ländlicher Regionen in Südosteuropa außerhalb der Hauptstadtregionen weist dagegen gerade darauf hin, wie wichtig Infrastrukturanbindung für die Integration solcher Regionen in industrielle Wertschöpfungsketten ist. Diese Regionen könnten ihre Kostenvorteile, die gerade in manchen Produktionsstufen bedeutsam bleiben werden, nur ausspielen, wenn entsprechend massiv in die Infrastrukturen investiert wird.

„Pakt für Innovation“ fördert Konvergenz in Europa

Von Alexander S. Kritikos

  • Das Angleichen der Lebensstandards ist zentrales Ziel der EU; dafür braucht es Innovationen und Investitionen in ökonomisch schwächeren Regionen
  • Regulierungen und Rahmenbedingungen für Investitionen unterscheiden sich erheblich zwischen den EU-Mitgliedstaaten und sorgen für Wohlstandsgefälle
  • „Pakt für Innovationen“: Strukturfonds werden auf Innovationen fokussiert; der Zugang zu Mitteln wird nur bei Umsetzung entsprechender Strukturreformen gewährt
  • Dies führt zur Harmonisierung von Rahmenbedingungen und unterstützt Konvergenz bei Wachstum

Drei Kriterien sind für die Standortwahl vieler Investoren, Innovatoren und Entrepreneure ausschlaggebend: die Qualität staatlicher Institutionen, also etwa die Effizienz der Verwaltungsstrukturen oder der Gerichtsbarkeit bei der Durchsetzung vertraglicher Ansprüche, die Ausgestaltung und Vorhersehbarkeit des Steuersystems sowie der Zugang zu externer Finanzierung. Innovatoren fügen dem noch die Qualität des Innovationssystems hinzu.infoNeben diesen Kriterien gibt es natürlich noch weitere Merkmale, etwa die Regulierung auf den Arbeitsmärkten, die die Standortwahl auch beeinflussen. Für innovative, im globalen Wettbewerb stehende Unternehmen ist ein zügiger Markteintritt entscheidend, vor allem wenn es sich um „the winner-takes-the-most“-Märkte handelt. Zu viel steht für sie auf dem Spiel, als dass sie bereit wären, zusätzlich Zeit, Aufwand und Geld zur Finanzierung von bürokratischen Aktivitäten zu investieren, um dann dennoch zu spät in den Markt einzutreten.infoBenedikt Herrmann und Alexander S. Kritikos (2013): Growing out of the Crisis: Hidden Assets to Greece’s Transition to an Innovation Economy, IZA Journal of European Labor Studies 2:14.

Innerhalb der EU gibt es, was die institutionellen Rahmenbedingungen für die Gründung, den Betrieb und das Schließen eines Unternehmens angeht, einen unübersichtlichen Flickenteppich. Ebenso unterschiedlich ist die Qualität der staatlichen Institutionen und der Innovationssysteme. So macht der „Ease of Doing Business“-Index der Weltbank deutlich, dass die skandinavischen und baltischen Länder ein besonders unternehmensfreundliches Klima haben, gefolgt von den zentraleuropäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland, Österreich oder Polen. Manche Länder, Spanien zum Beispiel, haben es zuletzt geschafft, dieses Umfeld signifikant zu verbessern. Dagegen sind die staatlichen Institutionen in anderen Ländern wie Italien oder Griechenland von weitaus schlechterer Qualität.infoEin Beispiel: In Griechenland vergehen bis zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche durchschnittlich mehr als vier Jahre; auch in Italien dauert ein solches Gerichtsverfahren über drei Jahre und verschlingt im Schnitt Kosten in Höhe von 23 Prozent des Vertragsanspruchs. In Litauen braucht man für einen solchen Schritt nur ein Jahr. Siehe World Bank (2019): Ease of Doing Business (online verfügbar, abgerufen am 11. April 2019. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders angegeben).

Auch bei den Rahmenbedingungen für Innovationsaktivitäten von UnternehmeninfoGemessen anhand von Indizes wie dem Global Innovation Index, dem European Innovation Scoreboard oder dem für wissensintensive Dienstleistungen relevanten Digitalisierungsindex der EU-Kommission. Dabei geht es etwa um die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (F&E) zur Wissensgenerierung oder um andere Rahmenbedingungen für Innovationen. gibt es ein Nord-Süd-Gefälle und hier – im Unterschied zum Unternehmensklima – auch ein West-Ost-Gefälle (Abbildung 3). Wertschöpfung und Beschäftigung wachsen in denjenigen Ländern stärker, die bessere Rahmen- und Innovationsbedingungen zu bieten haben. Verstärkt werden die divergierenden Entwicklungen innerhalb der EU bereits seit den 2000er Jahren durch Wanderungsbewegungen von Innovatoren etwa aus Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland in Länder mit besseren Rahmenbedingungen.infoSiehe Kyriakos Drivas et al. (2018): Mobility of Highly-Skilled Individuals and Local Innovation and Entrepreneurship Activity. MPRA Discussion Paper (online verfügbar). Es gibt demzufolge einen intensiven Wettbewerb der Standorte innerhalb der EU über Ländergrenzen hinweg. Spanien hat dies erkannt, maßgebliche Strukturreformen durchgeführt und den Exodus der Innovatoren stoppen können. Die auf gute Rahmenbedingungen angewiesenen wissensintensiven DienstleistungeninfoIn diesem Bereich starten derzeit die meisten innovativen Gründungen, und das sogar häufiger, wenn sich ein Land in der Rezession befindet. Vgl. Alexander Konon, Michael Fritsch und Alexander S. Kritikos (2018): Business Cycles and Start-Ups Across Industries, Journal of Business Venturing 33, 742–761. – etwa im neuen „Gründer-Hot-Spot“ BarcelonainfoSiehe Startup Genome (2018): Global Startup Ecosystem Report 2018 (online verfügbar). – haben zu den jüngst positiven Wachstumsraten im Land beigetragen.infoIm Unterschied zu Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe können im Wirtschaftszweig der wissensintensiven Dienstleistungen bereits kleine Einheiten erfolgreich Innovationen entwickeln. Vgl. Julian Baumann und Alexander S. Kritikos (2016): The Link between R&D, Innovation and Productivity: Are Micro Firms Different? Research Policy 45, 1263–1274; David B. Audretsch et al. (2018): Firm Size and Innovation in the Service Sector. DIW Discussion Paper 1774 (online verfügbar). Entsprechend reagieren sie relativ rasch auf Änderungen in den Rahmenbedingungen. In anderen Mitgliedstaaten wie Italien oder Griechenland hat die Politik diesen Wettbewerb noch nicht angenommen. Entsprechend stagniert dort auch die Wirtschaft.infoSiehe Stefan Gebauer et al. (2019): Italien braucht neue Impulse für Wachstumsbranchen. DIW Wochenbericht Nr. 9, 111–121 (online verfügbar) sowie Alexander Kritikos, Lars Handrich und Anselm Mattes (2018): Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach. DIW Wochenbericht Nr. 29, 641–651 (online verfügbar).

Die EU hat es in der Hand, die richtigen Impulse zu setzen, damit sich mehr Länder auf diesen Weg der Harmonisierung begeben. Dazu braucht sie ein neues Prestigeobjekt, einen „Pakt für Innovation“. Ein solcher Pakt bestünde aus drei Elementen: erstens der Weiterentwicklung der Strukturfonds hin zu nachhaltigen Investitionen in nationale und regionale Innovationssysteme. Diese Mittel sollen etwa zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung (F&E) oder zur Weiterentwicklung der jeweiligen digitalen Infrastruktur verwendet werden. Der Zugang zu diesen Fonds wird zweitens an Strukturreformen hin zu effizienteren staatlichen Institutionen und besseren regulatorischen Rahmenbedingungen geknüpft. Die Reforminhalte und ihr Fahrplan zur Durchführung werden – mit dem vorrangigen Ziel der regulatorischen Harmonisierung – zwischen nationalen Regierungen und der EU verbindlich vereinbart. Um Anreize für solche Strukturreformen dauerhaft aufrecht zu erhalten, erfolgt der schrittweise Zugang zu weiteren Investitionsmitteln erst, wenn Reformvorhaben nachweislich umgesetzt wurden. Drittens werden die Staaten bei der Entwicklung effizienter staatlicher Institutionen Beratung und Unterstützung von der EU erhalten.infoEinen entsprechenden „structural reform service“ bietet die EU bereits jetzt den Mitgliedstaaten an.

Es wird erneut eines Kraftakts von EU-Kommission und nationalen Regierungen bedürfen, um eine gemeinsame Reformagenda mit allen reformbereiten Regierungen zu vereinbaren. Länder mit mittlerweile besseren staatlichen Institutionen und geeigneter Regulierung, die als Maßstab für eine solche Agenda dienen, etwa die baltischen Republiken oder Spanien, werden dabei als Beispiele helfen.

Malte Rieth

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Makroökonomie

Tomaso Duso

Abteilungsleiter in der Abteilung Unternehmen und Märkte

Martin Gornig

Forschungsdirektor für Industriepolitik in der Abteilung Unternehmen und Märkte



JEL-Classification: F13;F65;G14;L40;K21;G34;L52;R11;O52;L2;O3;O4
Keywords: Trade policy, USA, EU, China, tariffs, stock returns, event study, merger Control, Competition Policy, European Commission, industrial policy, regional growth, Europe, EU, growth sectors, innovation, SME, knowledge-intensive services,regulatory environment, public institutions
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-18-2

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/198030

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