DIW Wochenbericht 18 / 2019, S. 322-328
Claudia Kemfert, Lukas Menkhoff, Karsten Neuhoff, Jörn Richstein, Tobias Stöhr, Vera Zipperer
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Mit dem Pariser Klimaabkommen haben sich die beteiligten Staaten verpflichtet, die globalen Treibhausgasemissionen bis 2050 um bis zu 90 Prozent zu senken, um den Anstieg der globalen Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. Über die national definierten Klimaschutzziele der einzelnen Mitgliedsländer hinaus will Europa eine europäische Energiewende vorantreiben:Vgl Christian von Hirschhausen et al. (2013): Europäische Stromerzeugung nach 2020: Beitrag erneuerbarer Energien nicht unterschätzen. DIW Wochenbericht Nr. 29 (online verfügbar, abgerufen am 12. März 2019. Dies gilt für alle Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt); sowie Jochen Diekmann (2009): Erneuerbare Energien in Europa: Ambitionierte Ziele jetzt konsequent verfolgen. DIW Wochenbericht Nr. 45 (online verfügbar). Das „EU Clean Energy Package“ setzt dafür den Rahmen, definiert die Ziele und will so den Wettbewerb um die schnellsten Umsetzungen und die innovativsten Technologien fördern.Vgl. Website der EU-Kommission: Clean Energy for all Europeans. Erreicht werden soll nichts Geringeres als die Marktführerschaft im Bereich der klimaschonenden Technologien. Neben Energieeffizienz, Emissionsminderung, Forschung und Innovation geht es bei den Zielen Europas auch um Versorgungssicherheit, um eine Reduktion der Importabhängigkeit und um einen vollständig integrierten Energie-Binnenmarkt.
Die EU hat sich vorgenommen, den Anteil der erneuerbaren Energien am gesamten Endenergieverbrauch bis 2020 auf 20 Prozent ansteigen zu lassen. Erreicht sind insgesamt schon 17 Prozent, vor allem dank der skandinavischen und auch einiger osteuropäischer Länder (Abbildung 1). Elf Länder erfüllen schon heute die EU-Ausbauziele für die erneuerbaren Energien, denen zufolge neben der Stromerzeugung auch die Wärmeenergie und Kraftstoffe für die Mobilität aus erneuerbaren Energien stammen müssen. 85 Prozent aller neu gebauten Stromerzeugungskapazitäten entfielen im Jahr 2017 auf erneuerbare Energien, allen voran Windenergie. Fünf Länder drohen die Ausbauziele komplett zu verfehlen. Eines davon ist DeutschlandBundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016): Klimaschutzplan 2050. Klimaschutzpolitische Grundsätze und Ziele der Bundesregierung (online verfügbar)., aber auch Frankreich, England, Belgien und die Niederlande gehören dazu.
Der 20-Prozent-Anteil erneuerbarer Energien kann nur ein erster Schritt sein. Erreicht werden sollte eine Vollversorgung, denn nur diese kann sicherstellen, dass die Ziele des Klimaschutzes, der kompletten Vermeidung von fossilen Energieimporten sowie der Versorgungssicherheit erfüllt werden können. Dass dies durchaus machbar ist, zeigen Modellierungen von Strom- und Energiesystemen. Hierzu gehören frühere Arbeiten des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU)Sachverständigenrat für Umweltfragen (2010): 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung bis 2050: klimaverträglich, sicher, bezahlbar. Berlin: SRU; Martin Faulstich et al. (2011): Wege zur 100 Prozent erneuerbaren Stromversorgung. Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU), Berlin. sowie jüngere Arbeiten mit höherem Detailgrad.Michael Child et al. (2019): Flexible electricity generation, grid exchange and storage for the transition to a 100 percent renewable energy system in Europe. Renewable Energy 139, 80–101. In der Kostenbilanz stehen die erneuerbaren Energien deutlich besser da als konventionelle Energien.Vgl von Hirschhausen et al. (2013), a.a.O. Modellergebnisse zeigen, dass ein Übergang zu einem Energiesystem, das zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzt, auch wirtschaftlich sinnvoll ist.Wolf-Peter Schill et al. (2018): Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern. DIW aktuell 11 (online verfügbar). Diese Studien bestätigen, dass der Umstieg hin zu einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien nicht nur technisch schon heute umsetzbar ist, sondern die Wirtschaft stärken sowie Innovationen und technologische Vorteile hervorbringen kann.Karlo Hainsch et al. (2018): Emission Pathways Towards a Low-Carbon Energy System for Europe: A Model-Based Analysis of Decarbonization Scenarios. DIW Discussion Paper 1745 (online verfügbar); Thorsten Burandt, Konstantin Löffler und Karlo Hainsch (2018): GENeSYS-MOD v2.0 – Enhancing the Global Energy System Model: Model Improvements, Framework Changes, and European Data Set. DIW Data Documentation 94 (online verfügbar, abgerufen am 16. April 2019). Wird mehr Energie durch erneuerbare Energien erzeugt, reduzieren sich auch die Kosten, insbesondere für Windkraft und Solar-Photovoltaik. Sinkende Speicherkosten fördern die Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich. Weitere Kostensenkungen würden sich durch eine bessere Vernetzung der Regionen Europas – im Hinblick auf einheitliche Ausbauziele und die optimierte Ausgestaltung des EU-Binnenmarkts – sowie durch die Sektorkopplung zwischen Strom, Wärme und Verkehr ergeben.
Wichtig für eine Vollversorgung mit Erneuerbaren sind die Rahmenbedingungen für Investitionen. Dafür ist es notwendig, dass der Ausbau nicht gedeckelt oder behindert wird und die Finanzierungsbedingungen erleichtert werden. Zudem müssen die Subventionen für fossile Energien in allen Ländern konsequent abgebaut und vor allem keine neuen Subventionen für Atom- und fossile Energien gewährt werden. Erneuerbare Energien müssen aufgrund ihrer oftmals wetterabhängigen Schwankungen und Flexibilitäten – auch mittels intelligenter Technik – gut miteinander verzahnt werden; dafür und für den Einsatz von SpeichernVgl. Alexander Zerrahn, Wolf-Peter Schill und Claudia Kemfert (2018): On the economics of electrical storage for variable renewable energy sources. European Economic Review 2018 (online verfügbar). ist es notwendig, die Marktbedingungen zu verbessern, indem existierende Hemmnisse abgebaut und mehr Flexibilität ermöglicht werden. Nur so wird es Europa gelingen, die Vorteile für Volkswirtschaft und Klima durch Innovationen und Wettbewerbsvorteile heben zu können.
Auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und emissionsarmen Industrie besteht der größte Emissionsminderungsbedarf bei der Herstellung von Grundstoffen: Die Produktion von Stahl, Zement und anderen Grundstoffen verursacht rund ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen.Eigene Berechnungen basierend auf International Energy Agency (2017): Energy Technology Perspectives 2017 (online verfügbar, abgerufen am 8. April 2019. Dies gilt für alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt). Die sektorspezifischen Fahrpläne der Europäischen KommissionEuropäische Kommission (2011): Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft bis 2050 (online verfügbar). und andere StudienBoston Consulting Group und Prognos (2018): Klimapfade für Deutschland. Studie im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie (online verfügbar); sowie Deutsche Energieagentur (Dena) (2018): dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (online verfügbar). haben gezeigt, dass 80 bis 95 Prozent dieser Emissionen gemindert werden können. Das ist allerdings nicht durch Effizienzverbesserungen in den bestehenden Produktionsprozessen zu erreichen, sondern bedarf eines Umstiegs auf klimafreundliche Produktionsprozesse von Grundstoffen, deren effiziente Nutzung und der Wechsel zu alternativen Materialien sowie verbessertes RecyclingClimate Strategies (2018): Filling Gaps in the Policy Package to Decarbonise Production and Use of Materials (online verfügbar); Karsten Neuhoff und Olga Chiappinelli (2018): Klimafreundliche Herstellung und Nutzung von Grundstoffen: Bündel von Politikmaßnahmen notwendig. DIW Wochenbericht Nr. 26 (online verfügbar).. Damit die Hersteller und Nutzer von Grundstoffen auf diese klimafreundlichen Optionen umsteigen, sind klare regulatorische Rahmenbedingungen notwendig. Der Europäische Emissionshandel kann in diesem Prozess aus drei Gründen eine wichtige Lenkungswirkung entfalten.
Erstens ist der europäische Markt ausreichend groß, um relevant für international aufgestellte Unternehmen zu sein. Zweitens hat die Europäische Union inzwischen in vielen Bereichen eine stärkere Glaubwürdigkeit für eine effektive Klimagesetzgebung als einzelne Mitgliedsländer, wie sich am Beispiel der ECO-Design-DirektiveRichtlinie 2010/30/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 über die Angabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen (Neufassung). Amtsblatt der Europäischen Union (online verfügbar). oder der europäischen Erneuerbaren-Richtlinie zeigt. Das ist wichtig für langfristige Innovations- und Investitionsentscheidungen von Unternehmen. Die glaubwürdige Ankündigung, dass CO2-intensive Optionen europaweit keine längerfristigen Perspektiven haben, macht klimafreundliche Ansätze zusätzlich attraktiv für Unternehmen. Drittens verhindern einheitliche Regulierungen Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU.
Allerdings hat die Erfahrung mit dem im Jahr 2005 eingeführten europäischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) gezeigt, dass die Hersteller von Grundstoffen den Preis von CO2-Zertifikaten nur zum Teil in der Wertschöpfungskette weitergeben, da diese Unternehmen stark im internationalen Wettbewerb stehen. Aus Angst, dass Grundstoffhersteller wegen der verbleibenden Mehrkosten in Europa die Produktion ins Ausland verlagern (Carbon-Leakage-Risiko), werden ihnen Emissionszertifikate frei zugeteilt. Das führt zu einer weiteren Reduktion der Weitergabe von CO2-Preisen in der Wertschöpfungskette.Eine einmalige freie Allokation von Zertifikaten würde die CO2-Preis-Weitergabe nicht beeinträchtigen. Der Effekt entsteht, da die zukünftige Allokation von Zertifikaten an das aktuelle Produktionsniveau gekoppelt ist und auch neue Anlagen freie Zertifikate erhalten und damit Investitionen attraktiver werden, das Angebot im Markt steigt und entsprechend der Gleichgewichtspreis fällt. Ohne diese Weitergabe entfallen jedoch die Anreize für die weiterverarbeitende Industrie, CO2-intensiv produzierte Grundstoffe effizienter zu nutzen oder durch klimafreundliche Grundstoffe wie zum Beispiel Holz zu ersetzen. Zugleich werden Endkunden nicht an klimabedingten Mehrkosten beteiligt und damit entfällt die wirtschaftliche Perspektive für klimafreundliche Produktionsprozesse.
Um diese Problematik anzugehen, sollte der europäische Emissionshandel um ein KlimapfandKarsten Neuhoff et al. (2016): Ergänzung des Emissionshandels: Anreize für einen klimafreundlicheren Verbrauch emissionsintensiver Grundstoffe. DIW Wochenbericht Nr. 27 (online verfügbar); Analysen zu ökonomischen, administrativen und juristischen Detailfragen sind verfügbar auf der Projektseite von Climate Strategies (online verfügbar). auf die Nutzung von CO2-intensiven Grundstoffen ergänzt werden. Darunter versteht man eine von den Konsumentinnen und Konsumenten industrieller Erzeugnisse zu zahlende Abgabe, die sich an der durchschnittlichen CO2-Intensität der für die Herstellung dieser Produkte benötigten Grundstoffe orientiert.
Die Einführung einer solchen Abgabe ist durch die Kombination von zwei Reformen möglich. Erstens soll die Zuteilung von freien Emissionszertifikaten an Industrieunternehmen an die aktuellen statt wie bisher an die historischen Produktionsvolumina der Unternehmen gekoppelt werden. Damit müssen nur diejenigen Unternehmen, deren Emissionen über den Referenzwert-Emissionen liegen, zusätzliche Zertifikate kaufen. Unternehmen, die weniger als den Referenzwert emittieren, profitieren durch die Möglichkeit, überzählige Zertifikate zu verkaufen.
Zweitens wird das Klimapfand auf die Nutzung von Grundstoffen erhoben. Das Pfand entspricht dabei genau dem Preis der Zertifikate, die im Rahmen des EU-ETS kostenlos pro Tonne Grundstoff zugeordnet wurden. Werden zum Beispiel für pro Tonne Stahl ungefähr zwei Zertifikate (à 30 Euro) zugeteilt (Effizienzbenchmark) und wird in einem Auto eine Tonne Stahl verarbeitet, fallen 60 Euro Klimapfand das Auto an. Im Unterschied zum heutigen EU-ETS wird das Pfand direkt auf den Preis des Endprodukts aufgeschlagen und bietet damit der weiterverarbeitenden Industrie Anreize, CO2-intensive Grundstoffe effizienter zu nutzen oder sie durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen. Wie bei anderen Konsumabgaben wird das Klimapfand auch auf importierte Grundstoffe und Produkte erhoben, während Exporte nicht erfasst werden. Das vermeidet Wettbewerbsverzerrungen und Carbon Leakage. Durch die Ausgestaltung als Konsumabgabe kann die Konformität mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) sichergestellt und der Verwaltungsaufwand minimiert werden.
Die Erlöse können teilweise Klimaschutzmaßnahmen finanzieren und zu einem größeren Teil pauschal pro Kopf an alle Bürgerinnen und Bürger rückerstattet werden – daher der Name Klima-„Pfand“. Damit hätte das Klimapfand ein progressives Element, da ärmere Haushalte, die im Schnitt weniger Grundstoffe nutzen, damit weniger Klimapfand einzahlen als reiche Haushalte, die die gleiche Rückerstattung erhalten.
Mit der Ergänzung des europäischen Emissionshandels um ein Klimapfand wird die beabsichtigte Lenkungswirkung entlang der gesamten Wertschöpfungskette wiederhergestellt. Zugleich wird dabei ein langfristig robuster Schutz vor Carbon Leakage gewährleistet. Diese Ergänzung kann und sollte zeitnah im Rahmen der EU-Emissionshandelsrichtlinie als Umweltregulierung aufgenommen werden.Roland Ismer und Manuel Haußner (2016): Inclusion of Consumption into the EU ETS: The Legal Basis under European Union Law. Review of European, Comparative & International Environmental Law 25, 69–80.
Der Migrationsdruck von Afrika nach Europa wird in Zukunft nicht nachlassen. Die afrikanische Bevölkerung wächst weiter rasant (um rund 32 Millionen Menschen pro Jahr), lebt häufig in politisch wie wirtschaftlich instabilen Verhältnissen und sieht sich einem extrem hohen Wohlstandsunterschied zu Europa gegenüber. Die Zahl der Menschen, die eine Migration nach Europa in Betracht ziehen, wird dadurch voraussichtlich eher steigen als fallen. Folglich hat Europa ein dreifaches Interesse an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika: die Migration mittelfristig zu begrenzen, die oft bedrückende Armut zu bekämpfen und mehr vom Wirtschaftsaustausch mit einem wachsenden Nachbarkontinent zu profitieren.
Die Schwierigkeit ist erkannt und so gibt es verschiedene Vorschläge zur Entwicklung wie den „Marshallplan mit Afrika“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung oder den „Compact with Africa“ der G20-Länder.Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2017): Afrika und Europa – Neue Partnerschaft für Entwicklung, Frieden und Zukunft. Eckpunkte für einen Marshallplan mit Afrika. Informationen zum Compact with Africa unter: www.compactwithafrica.org. Was ist von diesen Vorschlägen zu halten, inwieweit können sie wirtschaftliche Entwicklung fördern und Migration wirklich bremsen?
Der G20-Compact zielt auf die Förderung privater Investitionen und insofern nur auf einen wichtigen Teilaspekt von Entwicklung. Dagegen ist der deutsche „Marshallplan“ breiter angelegt. Er umfasst die drei (hier verkürzt dargestellten) Ziele: Beschäftigung, Stabilität und Rechtsstaatlichkeit. Zu jedem Ziel werden Maßnahmen vorgeschlagen, die in Deutschland, Afrika und auf internationaler Ebene umgesetzt werden sollen. Wenn sich dieses Programm breit umsetzen ließe, wäre dies mittel- und langfristig eine fantastische Voraussetzung für Entwicklung. Doch dies ist kaum zu erwarten.
Zunächst leben in Afrika derzeit bereits rund 1,3 Milliarden Menschen in 55 Staaten auf einer dreimal so großen Fläche wie Europa. Bis 2050 soll sich diese Zahl verdoppeln. Die gesamte deutsche (bilaterale) Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika macht rund drei Milliarden Euro pro Jahr ausVgl. OECD auf ihrer Website (abgerufen am 4. März 2019. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders angegeben); dies ist eher ein Tropfen auf den heißen Stein und nicht vergleichbar mit dem Volumen des US-Marshallplans für Nachkriegseuropa.Nach heutigem Wert über 130 Milliarden Dollar für 16 OECD-Länder in einem Vier-Jahres-Zeitraum. Schon von daher wirkt der Anspruch vermessen, dass Deutschland alleine signifikant die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas voranbringen könnte.
Aufgrund der begrenzten Mittel konzentriert sich die deutsche Zusammenarbeit auf Länder, die bei allen drei Zielen Fortschritte versprechen – sogenannte „Reformpartnerschaften“. Dies ist insofern sinnvoll, als die Zielerreichung sich gegenseitig bestärkt, oder – anders herum betrachtet – beispielsweise Stabilität und Rechtssicherheit wichtige Bedingungen für Wachstum und Beschäftigung darstellen. Aber selbst dafür reichen weder die bisherigen personellen noch die finanziellen Kapazitäten aus. Vernachlässigt werden Krisenstaaten wie „failed states“ oder Länder, die am Rande eines Bürgerkriegs stehen. Gerade von dort aber könnten künftig verstärkt MigrantInnen nach Europa kommen. Da für sie kaum legale Migrationskanäle existieren, werden auch viele, die nicht unter individueller Verfolgung leiden, ihr Glück als Flüchtlinge versuchen.
Mehr wäre möglich, wenn die EU-Länder ihre Kräfte bündeln würden. Zwar liegen die Ausgaben der EU in der Summe etwa auf dem Niveau von ChinaChina gab in den Jahren 2010 bis 2014 jährlich umgerechnet gut zehn Milliarden Euro aus, davon etwa fünf Milliarden offizielle Entwicklungshilfe plus 5,6 Milliarden Euro an sonstigen Finanzleistungen. Vgl. Axel Dreher et al. (2017): Aid, China, and Growth: Evidence from a New Global Development Finance Dataset. AidData Working Paper 46 (online verfügbar)., allerdings fehlt bisher eine zwischen den Mitgliedstaaten verbindlich koordinierte europäische Entwicklungszusammenarbeit oder Initiative zur Bündelung der Kräfte in der Bekämpfung von Fluchtursachen. Dies wird auch dadurch erschwert, dass die EU-Länder in Afrika unterschiedliche politische Interessen verfolgen und zudem sehr unterschiedliche Einstellungen gegenüber den verschiedenen Formen von Migration, insbesondere legaler Arbeitsmigration und Aufnahme von AsylbewerberInnen haben.
Was kann nun Entwicklungszusammenarbeit bewirken, um afrikanische Länder zu entwickeln und die Emigration zu begrenzen? Kurzfristig würde selbst eine Verdoppelung der aktuellen Entwicklungshilfe die jährliche Emigrationsrate nur geringfügig reduzieren.Die Reduktion könnte bei zehn bis 15 Prozent liegen, vgl. Mauro Lanati und Rainer Thiele (2018): The impact of foreign aid on migration revisited. World Development, 111, 59–75. Man muss also auf mittel- und langfristige Effekte durch die Erhöhung des Wirtschaftswachstums und nachgelagerte positive Auswirkungen auf die Lebenssituation zielen.
Das stärkste Interesse zur Auswanderung findet sich in armen und instabilen Ländern, wo zugleich viele Menschen zu arm sind, eine Emigration nach Europa zu finanzieren (Abbildung 11). Zwar reagieren die Ärmsten auf überraschend verfügbares Einkommens durchaus mit mehr Migration. Sofern ihr Einkommen aber mittel- und längerfristig höher ist, senkt dies die Migrationswahrscheinlichkeit.Samuel Bazzi (2017): Wealth Heterogeneity and the Income Elasticity of Migration. American Economic Journal: Applied Economics, 9(2), 219–255; Christian Dustmann und Anna Okatenko (2014): Out-migration, wealth constraints, and the quality of local amenities. Journal of Development Economics 110, 52–63. Wichtig ist deshalb der Dreiklang, wie er im deutschen „Marshallplan mit Afrika“ anklingt: Neben dem Wachstum muss auch die Resilienz gestärkt werden sowie das gesellschaftliche Umfeld, was in Rechtsstaatlichkeit und geringer Korruption zum Ausdruck kommt.Esther Ademmer et al. (2018): MEDAM Assessment Report on Asylum and Migration Policies in Europe. Flexible Solidarity: A comprehensive strategy for asylum and immigration in the EU (online verfügbar).
Ein Beispiel für diesen Dreiklang findet sich in einem Baustein des „Marshallplans mit Afrika“, dem „inklusiven Finanzsystem“. So bieten Handy-basierte Zahlungssysteme heute in Afrika viel mehr Menschen einen Zugang zu Finanzen, als dies mit konventionellen Zweigstellen bisher möglich war. In vielen Ländern wird zudem die Finanzbildung gefördert, um die neuen Dienstleistungen auch sinnvoll nutzen zu können. Dies stärkt das Sparverhalten, das finanzielle Planen und die Investitionen von Kleinunternehmen.Antonia Grohmann und Lukas Menkhoff (2017): Finanzbildung fördert finanzielle Inklusion in armen und reichen Ländern. DIW Wochenbericht Nr. 41, 905–913 (online verfügbar). Damit sich diese Wachstumstreiber allerdings entfalten können, bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen wie geringer Korruption und stabiler Rechtsstaatlichkeit. Schon allein deswegen sollte die EU mit Drittstaaten zusammenarbeiten, die keine repressiven und autokratischen Systeme sind.
Effektive Fluchtursachenbekämpfung kann bedeuten, dass man, statt auf eine kurzfristige Reduktion von irregulärer Migration zu setzen, eher auf mittel- und langfristige Effekte setzen muss. Solche komplexen Abwägungen sollten der europäischen Bevölkerung auch deutlich vermittelt werden. Allerdings werden weder Wachstum, finanzielle Inklusion noch sonst ein Ziel in Afrika in größerem Maße umzusetzen sein, wenn die Kräfte der EU-Länder nicht gebündelt und koordiniert werden.
Themen: Umweltmärkte, Migration, Klimapolitik, Europa, Energiewirtschaft
JEL-Classification: Q13;Q42;O1;F18;H23;L51;L78;F22;F35;O15
Keywords: Energy Transition, 100 % Renewable Energy, Climate policy, Europe, Emissions trading scheme, climate deposit, consumption charge, basic materials sector, Development Aid, migration, EU-Africa relations
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-18-4
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/198032