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Deutschland braucht einen grundlegenden Wandel in seiner Europapolitik: Kommentar

DIW Wochenbericht 18 / 2019, S. 332

Marcel Fratzscher

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Inmitten des Brexit-Chaos fordert die AfD in ihrem Europawahlprogramm einen Dexit, einen Austritt Deutschlands aus der EU. Dies mag man für absurd und weltfremd halten. Dabei ist ein Dexit und gar ein Kollaps der Europäischen Union gar nicht so unwahrscheinlich, vor allem wenn Deutschland nicht die richtigen Lehren aus dem Brexit zieht. Denn Großbritannien und Deutschland unterliegen ähnlichen Illusionen in ihrer Weltsicht: Sie unterschätzen beide die Bedeutung der Europäischen Union für die eigene Zukunft.

Vor fünf Jahren hat kaum jemand einen Brexit für möglich gehalten. Denn Großbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft profitiert. Der Finanzplatz London und die Zuwanderung sind nur zwei Beispiele. Doch Großbritannien konnte sich nie wirklich mit Europa identifizieren. Der Grund hängt auch mit der Geschichte des Vereinigten Königreichs zusammen: Viele in Politik und Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin, das Land sei eine Weltmacht und brauche Europa für seinen Wohlstand und seine Zukunftssicherung nicht.

Viele in Deutschland unterliegen einer ähnlichen Illusion. Sie skandieren, Europa sei eine Transferunion, in der wir der „Zahlmeister“ seien und die unseren Interessen schade. Die Rettung Griechenlands und anderer Länder oder das Zahlungssystem Target hätten Deutschland Verluste beschert. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Deutsche Banken und deutsche Investoren wurden durch diese Programme geschützt und somit letztlich auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hierzulande. Gerne wird in Deutschland auch über die Zuwanderung geklagt, gleichzeitig aber verschwiegen, dass ohne die mehr als vier Millionen europäischen Zugewanderten der Wirtschaftsboom der vergangenen zehn Jahre gar nicht möglich gewesen wäre. Die deutsche Politik verfolgt seit Langem eine Wirtschaftspolitik, die zu riesigen Handelsüberschüssen führt, gleichzeitig aber hohe Defizite und Schulden in anderen europäischen Ländern erfordert, über die sich die deutsche Politik dann wiederum echauffiert.

Deutschland ist zum Blockierer wichtiger europäischer Reformen geworden und verfolgt zu häufig eine Europapolitik des „Nein“. Die Bundesregierung hat auf einer Austeritätspolitik in vielen europäischen Ländern bestanden, obwohl diese Politik verfehlt war und die Krise verschärft hat. Ferner hat die deutsche Regierung der massiven heimischen Kritik an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank nicht widersprochen. Sie verschleppt seit vielen Jahren die Vollendung der Bankenunion, die so essenziell für die wirtschaftliche Gesundung Europas ist. Die deutsche Politik kritisiert gerne die fehlende Regeltreue der europäischen Partner, ignoriert die gleichen Regeln jedoch, wenn es opportun erscheint. Sie hat immer wieder nationale Alleingänge in Europa verfolgt und wichtige Reformen ausgebremst.

Ähnlich wie den Briten sollte uns Deutschen klar werden, dass unser Land aus einer globalen Perspektive gesehen klein ist, unser Wohlstand aber gleichzeitig wie für kaum ein anderes Land von einem starken, geeinten Europa abhängt. Dies erfordert die Einsicht, dass nationale Souveränität bei den großen, wichtigen Fragen unserer Zeit – von der Verteidigungs-, Sicherheits- und Außenpolitik über Klimapolitik bis hin zur Handels- und Währungspolitik – eine Illusion ist. Was für manche paradox klingt, ist Realität: Die Wahrung nationaler Interessen erfordert eine stärkere europäische Integration in vielen Bereichen, ohne das Prinzip der Subsidiarität aufgeben zu müssen.

Damit Deutschland seine Interessen wahren kann und sich nicht irgendwann enttäuscht von Europa abwendet – wie das Vereinigte Königreich es gerade tut –, muss die deutsche Politik einen grundlegenden Wandel ihrer Europapolitik vollziehen und, zusammen mit Frankreich, eine kluge Integration Europas vorantreiben. Dies erfordert mutige Reformen des Euro und eine Stärkung europäischer Institutionen und öffentlicher Güter, wie in der Sicherheits- und Sozialpolitik. Und ja, es erfordert auch, dass die Bundesregierung Geld aufbringt für ein gemeinsames Budget zur Krisenbekämpfung und für kluge Investitionen in die Zukunft Europas, und damit auch Deutschlands.

Dieser Beitrag ist in einer längeren Version am 23. April 2019 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.

Themen: Europa

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