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Die unterschiedliche Lebenserwartung spricht für eine Aufwertung geringer Rentenansprüche: Interview

DIW Wochenbericht 23 / 2019, S. 400

Daniel Kemptner, Erich Wittenberg

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Herr Kemptner, Sie haben den Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Lebenslohneinkommen für westdeutsche, männliche Arbeitnehmer der Jahrgänge 1926 bis 1949 untersucht. Warum haben Sie sich dabei auf diese spezielle Gruppe konzentriert? Nur für diese Gruppe konnten wir einen engen Zusammenhang zwischen Rentenansprüchen und tatsächlich erzielten Lebenslohneinkommen untersuchen. Zum Beispiel haben die Ostdeutschen, je nach Jahrgang, einen erheblichen Anteil ihrer Erwerbsbiografie in der DDR verbracht, wo andere Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt herrschten. Bei westdeutschen Frauen war die Besonderheit, dass sie sich bis 1967 bei einer Heirat ihre erworbenen Rentenansprüche auszahlen lassen und später wieder in die Rentenversicherung eintreten konnten, aber in jedem Fall war der Zusammenhang zwischen Rentenansprüchen und dem Einkommen unterbrochen. Und Beamte und Selbständige sorgen außerhalb der Gesetzlichen Rentenversicherung für ihr Alter vor.

Wie hängen Lebenserwartung und Lebenslohneinkommen zusammen? Wir haben herausgefunden, dass sich zwischen dem unteren und dem obersten Lohndezil die Lebenserwartung im Alter von 65 um vier Jahre für den ältesten Geburtsjahrgang unterscheidet und dass dieser Unterschied bis zum Jahrgang 1949 auf bis zu sieben Jahre ansteigt.

Menschen mit niedrigem Lebenslohneinkommen beziehen also nicht nur weniger, sondern auch kürzer Rente? Das ist richtig. Für ein gegebenes Renteneintrittsalter ist bei ihnen die erwartete Rentenbezugsdauer auch kürzer.

Wie wirken sich die Unterschiede in der Lebenserwartung auf die Verteilungswirkung des Rentensystems aus? Sie führen letztendlich dazu, dass Menschen relativ zu ihren geleisteten Beiträgen in das Rentensystem umso mehr Rentenzahlungen erwarten können, je höher ihr Lebenslohneinkommen war. Das Rentensystem zeigt sich also gegenüber Arbeitnehmern mit höheren Lebenslohneinkommen großzügiger. Dies hat insofern eine Verteilungswirkung, als die Lebenslohneinkommen einschließlich des Renteneinkommens ungleicher werden.

Wie lässt sich das mit dem Äquivalenzprinzip im deutschen Rentensystem vereinbaren? Bei dem Äquivalenzprinzip geht es darum, dass die jährlichen Rentenzahlungen proportional zu den zuvor geleisteten Beiträgen sind. Die Idee dabei ist, dass jeder relativ zu seinen Beiträgen gleich viel aus der Rentenversicherung ausbezahlt bekommen soll, nur wird dies in gewisser Weise durch die unterschiedlichen Lebenserwartungen unterlaufen.

Was bedeuten Ihre Ergebnisse für künftige Rentenreformen? Der von uns gezeigte Widerspruch mit dem Äquivalenzprinzip spricht natürlich grundsätzlich für eine Aufwertung niedriger Rentenansprüche, um die geringeren Lebenserwartungen auszugleichen. Dies könnte beispielsweise über eine höhere Gewichtung dieser niedrigen Rentenansprüche in der Rentenformel gelingen.

Inwieweit könnte eine Grundrente das Problem lösen? Eine Grundrente würde der Verletzung des Äquivalenzprinzips entgegenwirken, allerdings ist zu beachten, dass es bei einer Grundrente auch um Armutsbekämpfung geht und dies eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die nicht allein über die Gesetzliche Rentenversicherung finanziert werden sollte. Man könnte auch Steuermittel zur Finanzierung heranziehen. Man sollte außerdem in Betracht ziehen, dass gerade Beamte und Selbständige zwar häufig niedrige Rentenansprüche, aber gleichzeitig hohe Lebenseinkommen haben. Insofern braucht es auch Regeln, wie beispielsweise Mindestbeitragszeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung oder die Berücksichtigung sonstiger Alterseinkommen.

Das Gespräch führte Erich Wittenberg.

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