DIW Wochenbericht 28 / 2019, S. 483-491
Alexandra Fedorets, Markus M. Grabka, Carsten Schröder
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„Unternehmen, die den Mindestlohn einhalten, sollten keine Wettbewerbsnachteile gegenüber Arbeitgebern haben, die das nicht tun. Denkbar wäre eine Fair Pay-Plakette, angelehnt an die Bio-Siegel, damit Verbraucherinnen und Verbraucher bewusste und informierte Konsumentscheidungen treffen können.“ Alexandra Fedorets, Studienautorin
Seit gut vier Jahren gilt in Deutschland ein allgemeiner Mindestlohn – doch nach wie vor erhalten ihn viele ArbeitnehmerInnen nicht. Das zeigen neue Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die die Nichteinhaltung des Mindestlohns für das Jahr 2017 fortschreiben. Demnach wurden selbst bei einer konservativen Schätzung rund 1,3 Millionen anspruchsberechtigte Personen im Rahmen einer Hauptbeschäftigung unterhalb des Mindestlohns bezahlt. Hinzu kommen etwa eine halbe Million Beschäftige in einer Nebentätigkeit. Zwar sind die vertraglich vereinbarten Löhne der zehn Prozent der Beschäftigten mit den niedrigsten Löhnen in den Jahren 2014 bis 2016 um rund 13 Prozent gestiegen. Trotz der erstmaligen Anhebung des Mindestlohns auf 8,84 Euro im Jahr 2017 hat sich dieser positive Trend aber nicht fortgesetzt. Inwiefern die Nichteinhaltung des Mindestlohns mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur verpflichtenden Erfassung der gesamten Arbeitszeiten der Beschäftigten eingedämmt werden kann, hängt von der konkreten Umsetzung dieses Urteils ab. Darüber hinaus wäre die Einführung einer „Fair Pay“-Plakette zur Kennzeichnung von Betrieben, die die Arbeitszeit nachvollziehbar dokumentieren, ratsam. VerbraucherInnen könnten dann – wie beim Biosiegel – bewusste und informierte Konsumentscheidungen treffen.
Zum 1. Januar 2015 wurde in Deutschland ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde eingeführt, um die Entlohnung der Beschäftigten im unteren Lohnsegment zu verbessern. Die Reform galt zunächst nur für die Wirtschaftszweige, in denen es keine branchenspezifischen Mindestlöhne gab. Zum 1. Januar 2017 wurde der Mindestlohn erstmals erhöht, auf 8,84 Euro pro Stunde. Gleichzeitig liefen für verschiedene Branchen Übergangsregelungen aus,Vgl. Mindestlohnkommission (2018): Zweiter Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns. Tabelle A1 (online verfügbar; abgerufen am 3. Juli 2019. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). sodass die Zahl der anspruchsberechtigten ArbeitnehmerInnen zunahm.
In den nachfolgenden Analysen wird untersucht, ob im Jahr 2017 – dem aktuellsten, für das Daten vorliegen – alle anspruchsberechtigten ArbeitnehmerInnen den Mindestlohn auch tatsächlich erhielten oder schlechter entlohnt wurden. Das Phänomen der Nichteinhaltung des Mindestlohns wird in der einschlägigen Literatur als Non-Compliance bezeichnet.Vgl. Low Wage Commision (2019): Non-compliance and enforcement of the National Minimum Wage. April (online verfügbar). Empirische Grundlage für die nachfolgenden Berechnungen sind die vom DIW Berlin in Zusammenarbeit mit Kantar erhobenen Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).Das SOEP ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird, vgl. Jan Goebel et al. (2018): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics. Dem Bericht zu Grunde liegt die Version soep.v34 der SOEP-Daten (online verfügbar). Diese Angaben von Beschäftigten aus dem SOEP werden mit Daten von Arbeitgebern, die die amtliche Statistik erhebt, verglichen. Dabei ergeben sich zwar Unterschiede im gemessenen Ausmaß der Nichteinhaltung des Mindestlohns, auch die Annahmen bei der Berechnung spielen eine Rolle. In jedem Fall zeigt sich jedoch, so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, dass Non-Compliance ein relevantes Phänomen bleibt. Dies gilt insbesondere für Mini-Jobber und Beschäftigungsverhältnisse in Nebentätigkeit.
Die zentralen SOEP-Variablen, die im Folgenden verwendet werden, sind die Angaben der Beschäftigten über den im Vormonat erhaltenen Bruttolohn sowie die vereinbarte beziehungsweise geleistete Arbeitszeit (Kasten 1).Vergleichbare Informationen für eine bevölkerungsrepräsentative Stichprobe finden sich in der Verdienststrukturerhebung beziehungsweise Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes und dem Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Im Gegensatz dazu stehen bei den registerbasierten Informationen keine detaillierten Arbeitszeitinformationen zur Verfügung, sondern nur Angaben darüber, ob Beschäftigte in Vollzeit oder Teilzeit beschäftigt sind. Hieraus können keine Stundenlöhne gebildet werden, die zwingend für die hier vorgenommene Analyse sind. Daraus werden zwei Stundenlohnkonzepte konstruiert: der vertragliche Stundenlohn auf Basis vertraglicher Arbeitszeiten und ein tatsächlicher Stundenlohn auf Basis der geleisteten Arbeitszeiten inklusive eventueller Überstunden. Tatsächliche Stundenlöhne ermöglichen es, Anpassungsreaktionen der ArbeitgeberInnen aufgrund der Mindestlohneinführung, etwa unbezahlte Mehrarbeit, zu beschreiben. Sie fallen niedriger aus als der vertragliche Stundenlohn und ergeben daher eine höhere Non-Compliance. Zudem wird unterschieden nach dem berechneten vertraglichen Stundenlohn und einem von den Beschäftigten direkt angegebenen vereinbarten Stundenlohn. Letztere direkte Abfrage hat den Vorteil, dass es keine Unsicherheiten gibt, die sich aus unterschiedlichen Messperioden bei Arbeitszeiten (Woche) und Löhnen (Monat) ergeben. Allerdings hat auch die Höhe des direkt angegebenen vereinbarten Stundenlohns Schwächen: Erstens haben viele Beschäftigte gar keine vertragliche Vereinbarung über ihren Stundenlohn. Zweitens bedeutet „vereinbart“ nicht automatisch auch „erhalten“, zumal oft nicht klar ist, inwieweit Überstunden anfallen und wie diese kompensiert werden.
Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative Stichprobe aller in Deutschland lebenden Personen in Privathaushalten. Da jedes Jahr dieselben Personen befragt werden, ermöglicht die Studie einen deskriptiven Blick auf die Situation sowohl vor als auch nach der Einführung des Mindestlohns zum 1. Januar 2015 beziehungsweise zur erstmaligen Anhebung des Mindestlohns zum 1. Januar 2017.
Bei der Interpretation der mit diesem Bericht vorgelegten Ergebnisse ist zu beachten, dass aufgrund des Stichprobendesigns erwerbstätige PendlerInnen aus dem Ausland (beispielsweise VertragsarbeitnehmerInnen oder ErntehelferInnen) genauso systematisch aus den Analysen ausgeschlossen wurden wie Personen, die in Anstalten oder Wohnheimen leben.
Im SOEP werden die Stundenlöhne üblicherweise nicht direkt abgefragt. Sie werden gebildet aus der Information über den im Vormonat erhaltenen Lohn, geteilt durch die vereinbarte beziehungsweise geleistete Arbeitszeit pro Woche, multipliziert mit dem Faktor 4,33Dieser Faktor kommt zustande, indem die 52 Wochen eines Kalenderjahres durch zwölf Monate geteilt werden. Das Statistische Bundesamt verwendet im Gegensatz dazu bei der Berechnung von Stundenlöhnen einen Faktor von 4,345., um die monatliche Arbeitszeit zu erhalten. Hierbei können verschiedene Messfehler auftreten. So verweigern manche Befragte im SOEP insbesondere bei Fragen zum Lohn, aber auch zur Arbeitszeit die Antwort. Diese Fälle wurden aus der Analyse ausgeschlossen und deren Gewicht auf die verbliebenen validen Fälle umgelegt. Auch Beschäftigte, die angeben, mit ihrem Arbeitgeber keine Arbeitszeit vereinbart zu haben, wurden ausgeschlossen und deren Gewicht ebenso auf die verbliebenen validen Fälle umgelegt.
Bei der Berechnung von Stundenlöhnen auf Grundlage der geleisteten Arbeitszeit kann der Stundenlohn unterschätzt werden, wenn beispielsweise ein späterer Zeitausgleich der Überstunden nicht berücksichtigt wird. Die reine Verwendung der vertraglichen Arbeitszeiten bildet die geleistete Mehrarbeit dagegen nicht ab und kann dadurch zu einer Überschätzung der Stundenlöhne führen.
Aufgrund der Unsicherheiten, die sich bei der Berechnung des Stundenlohns aus monatlichen Einkommensangaben und wöchentlichen Arbeitszeitangaben ergeben, wurde im Jahr 2017 der vertragliche Stundenlohn zudem direkt abgefragt, und zwar für Beschäftigte mit Stundenlöhnen unter zehn Euro.
Angaben von Beschäftigten, die einer Nebentätigkeit nachgehen, wurden in den vorliegenden Analysen bis einschließlich 2017 ausgeschlossen, da nicht unterschieden werden kann, ob sie eine abhängige oder selbständige Beschäftigung ausübten. Mit dem Erhebungsjahr 2017 wurde die Erfassung von Nebentätigkeiten im SOEP verändert, sodass fortan auch für diese Beschäftigten ein Stundenlohn auf Grundlage der geleisteten Arbeitszeit ausgewiesen werden kann.
Der Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro wurde zum 1. Januar 2015 flächendeckend in Deutschland eingeführt und zum 1. Januar 2017 auf 8,84 Euro erhöht. Das Gesetz sieht jedoch eine Reihe von Ausnahmen vor. Diese betreffen insbesondere Langzeitarbeitslose, ungelernte Jugendliche unter 18 Jahren sowie bestimmte Gruppen von PraktikantInnen und Auszubildenden. Bis zum Jahr 2017 gab es zudem Übergangsregelungen für Beschäftigte in Sektoren, in denen bereits ein branchenspezifischer Mindestlohn galt. Diese waren von der Entlohnung in Höhe des Mindestlohns ausgenommen.
Da das SOEP detaillierte Monatsdaten des Vorjahres enthält, können Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung identifiziert werden. Sie wurden in den Analysen aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeschlossen. Zudem wurden Jugendliche unter 18 Jahren ausgeschlossen und Auszubildende sowie PraktikantInnen als ganze Gruppe zu den Ausnahmen gezählt, da die Art und Dauer des Praktikums im SOEP nicht eindeutig bestimmt werden kann. Auf Basis der aktuellen beruflichen Tätigkeit können außerdem Erwerbstätige aus Sektoren mit bestehenden Tarifverträgen ermittelt werden.Auch die Einteilung der ArbeitnehmerInnen nach Branchen erfolgt im SOEP über Selbstauskünfte. Dabei werden Informationen zur beruflichen Tätigkeit und die Branchenangabe verwendet. Es ist jedoch zu beachten, dass Personen ihre berufliche Tätigkeit oder ihre Branche unter Umständen vereinfacht und zu wenig differenziert angeben, um Branchen mit spezifischen Mindestlöhnen exakt zu identifizieren. Für die Berechnungen der Nichteinhaltung des Mindestlohns in den Jahren 2015 und 2016 wurden Erwerbstätige in Branchen, die 2015 bereits einen sektoralen Mindestlohn hatten und für die Übergangsregelungen galten, aus den Analysen ausgeschlossen. Für das Jahr 2017 wurden Beschäftigte aus solchen vormals ausgeschlossenen Branchen berücksichtigt, in denen die Übergangsregelungen ausgelaufen sind.Ausgeschlossen wurden zudem Personen mit Wochenarbeitszeiten von mehr als 50 Stunden. Alle Berechnungen der Lohndynamik wurden für alle Beschäftigte in jenen Branchen durchgeführt, in denen der gesetzliche Mindestlohn Anfang des Jahres 2017 verbindlich war.
Die anspruchsberechtigte Gruppe, auf die sich der vorliegende Bericht fokussiert, besteht damit aus allen Erwerbstätigen, die weder zu den Gruppen mit Ausnahmenregelungen gehören, noch selbstständig sind. Auch die Gruppe, die angibt, dass sie in Privathaushalten beschäftigt ist, wurde im Gegensatz zur Verdienststrukturerhebung und zur Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes in den Berechnungen berücksichtigt. Gleiches gilt potentiell für Personen, die einer informellen Beschäftigung nachgehen, da diese im SOEP nicht von formell beschäftigten Personen unterscheiden werden können.
Die Analysen in diesem Bericht erweitern nicht nur die vorliegenden UntersuchungenVgl. Patrick Burauel et al. (2017): Mindestlohn noch längst nicht für alle – Zur Entlohnung anspruchsberechtigter Erwerbstätiger vor und nach der Mindestlohnreform aus der Perspektive Beschäftigter. DIW Wochenbericht Nr. 49, 1109–1123 (online verfügbar). zur Nichteinhaltung des Mindestlohns um das Jahr 2017. Erstmals kann mit dem Erhebungsjahr 2017 dank einer verbesserten SOEP-Abfrage die Non-Compliance auch in Nebentätigkeiten quantifiziert werden.
Der nominal berechnete, vertragliche Bruttostundenlohn lag im Jahr 2014 – dem Jahr vor der Einführung des Mindestlohns – bei allen anspruchsberechtigten abhängig Beschäftigten in einer Hauptbeschäftigung bei rund 17 Euro. Über die DezileZur Konstruktion von Dezilen werden die anspruchsberechtigten Beschäftigten nach ihrem Lohn aufsteigend sortiert und dann in zehn gleich große Gruppen aufgeteilt. steigen die durchschnittlichen berechneten vertraglichen Bruttostundenlöhne von rund 6,60 Euro im untersten Dezil, also bei den zehn Prozent anspruchsberechtigten Beschäftigten mit den geringsten Stundenlöhnen, auf rund 14,60 Euro im fünften und auf rund 34,90 Euro im zehnten Dezil (Abbildung). In den ersten beiden Jahren nach Einführung des Mindestlohns haben sich die Löhne in den unteren Dezilen – im Unterschied zur Dekade davorVgl. Burauel et al. (2017), a.a.O. – dynamischer als in den oberen Dezilen entwickelt. Mit 13 Prozent war der Zuwachs im ersten (untersten) Dezil am stärksten, während in den Dezilen drei bis acht die Veränderung bei rund sechs Prozent lag und in den obersten beiden Dezilen bei drei Prozent. Der starke Zuwachs im ersten Dezil geht dabei zumindest teilweise auf die Einführung des Mindestlohns zurück.Vgl. Marco Caliendo et al. (2017): The Short-Term Distributional Effects of the German Minimum Wage Reform. SOEPpapers 948 (online verfügbar). Trotz der überdurchschnittlichen Dynamik im unteren Bereich der Lohnverteilung lag der ermittelte Durchschnittslohn im ersten Dezil mit etwa 7,50 Euro auch im Jahr 2016 deutlich unterhalb des Mindestlohns.
Im Jahr 2017 wurde der Mindestlohn zwar auf 8,84 Euro angehoben, dennoch stagnierten in den Jahren 2016 und 2017 die berechneten vertraglichen Löhne im ersten Dezil. Dies hat zur Folge, dass auch im Jahr 2017 weiterhin bei vielen anspruchsberechtigten Beschäftigten der berechnete vertragliche Stundenlohn unterhalb des Mindestlohns lag. Betrachtet man nur anspruchsberechtigte ArbeitnehmerInnen in einer Hauptbeschäftigung, so ergibt sich eine Quote von 7,7 Prozent beziehungsweise rund 2,4 Millionen Beschäftigten, deren berechneter vertraglicher Stundenlohn unter der Mindestlohnschwelle lag (Tabelle 1).Laut der Erhebung des Panels Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit lagen die Quoten der anspruchsberechtigten Beschäftigten, deren tatsächlicher Stundenlohn unterhalb des Mindestlohns lag, im Jahr 2014 bei 19,6 Prozent und im Jahr 2015 bei 14,4 Prozent. Vgl. Toralf Pusch und Miriam Rehm (2017): Mindestlohn, Arbeitsqualität und Arbeitszufriedenheit. WSI-Mitteilungen, Ausgabe 7, 491–498.
2014 | 2015 | 2016 | 2017 | ||||||||||
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Untere Grenze1 | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | ||
Verdienststrukturerhebung (VSE) und Verdiensterhebung (VE) | Millionen Personen | 3,973 | 1,014 | 0,751 | 0,832 | ||||||||
Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) | |||||||||||||
Hauptbeschäftigung | |||||||||||||
errechneter vertraglicher Stundenlohn | Millionen Personen | 2,531 | 2,812 | 3,090 | 1,886 | 2,108 | 2,346 | 1,637 | 1,835 | 2,029 | 2,173 | 2,388 | 2,586 |
Prozent | 9,9 | 10,9 | 11,7 | 7,5 | 8,3 | 9,3 | 6,2 | 7,0 | 7,8 | 7,0 | 7,7 | 8,4 | |
errechneter tatsächlicher Stundenlohn | Millionen Personen | 3,310 | 3,601 | 3,898 | 2,582 | 2,828 | 3,142 | 2,310 | 2,569 | 2,865 | 2,922 | 3,180 | 3,409 |
Prozent | 12,9 | 14,0 | 14,9 | 10,4 | 11,3 | 12,3 | 8,9 | 9,9 | 10,9 | 9,5 | 10,3 | 10,9 | |
vertraglicher Stundenlohn (direkte Angabe) | Millionen Personen | 1,109 | 1,311 | 1,517 | |||||||||
Prozent | 3,9 | 4,6 | 5,3 | ||||||||||
Nebentätigkeiten | Millionen Personen | 0,400 | 0,500 | 0,608 | |||||||||
Prozent | 32,0 | 38,5 | 45,0 |
1 Die unteren und oberen Grenzen beziehen sich jeweils auf ein 95-Prozent-Konfidenzintervall.
Anmerkung: Dargestellt sind abhängig Beschäftigte, ohne diejenigen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen. Angaben zu Nebentätigkeiten sind erst seit 2017 verfügbar.
Quellen: Eigene Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (soep.v34); Statistisches Bundesamt, Verdienststrukturerhebung 2014, Verdiensterhebung 2015, 2016 und 2017.
Zieht man den berechneten tatsächlichen Stundenlohn inklusive eventueller Überstunden heran, so erhöht sich die Zahl der Betroffenen auf 3,2 Millionen. Bei ArbeitnehmerInnen in einer Nebentätigkeit erhalten rund 500 000 Personen einen Lohn unterhalb der Mindestlohnschwelle.
Wie beschrieben liegen im SOEP für das Jahr 2017 auch Informationen einer direkten Abfrage des vertraglichen Stundenlohns, der im Rahmen einer Haupttätigkeit erzielt wurde, vor. Zieht man dieses Messkonzept heran, so ergibt sich eine Zahl von rund 1,3 Millionen anspruchsberechtigten ArbeitnehmerInnen, die im Jahr 2017 weniger als 8,84 Euro pro Stunde bekamen. Im Ergebnis liefert die direkte Abfrage des vereinbarten Stundenlohns eine deutlich niedrigere Non-Compliance als die auf Basis von errechneten Stundenlöhnen, die in diesem Lohnsegment gerade bei variablen Arbeitszeiten vermutlich höhere Unsicherheiten enthält. Wenngleich man die direkten Angaben präferieren mag, beziehen sich alle nachfolgenden Vergleiche über die Zeit auf berechnete Löhne, da nur diese für den Zeitraum ab 2014 vorliegen.
Vergleicht man die Entwicklung über die Zeit, lässt sich eine Wellenbewegung erkennen: Lagen im Jahr 2014 2,8 Millionen Beschäftigte, die hauptberuflich in Wirtschaftszweigen ohne branchenspezifische Mindestlöhne tätig waren, mit Blick auf ihren berechneten vertraglichen Stundenlohn unter 8,50 Euro, sank deren Zahl in den folgenden beiden Jahren um insgesamt eine Million (Tabelle 1). Mit der Anhebung des Mindestlohns im Jahr 2017 und der Ausweitung auf weitere Branchen, für die zuvor Übergangsregelungen galten, stieg die Zahl jedoch wieder auf rund 2,4 Millionen an. Die Entwicklung für die berechneten tatsächlichen Stundenlöhne verlief nahezu parallel, wenngleich auf einem höheren Niveau.
Die Nichteinhaltung des Mindestlohns variiert stark mit den Merkmalen der Beschäftigten (Tabelle 2). Der Anteil der Beschäftigten in einer Haupttätigkeit, die laut berechnetem tatsächlichen Stundenlohn weniger als den Mindestlohn von 8,84 Euro erhielten, lag 2017 bei rund zehn Prozent, bei Nebentätigkeiten traf dies hingegen auf etwa 38 Prozent zu. Die Anteile sind auch höher bei Frauen und ausländischen Beschäftigten, jungen ArbeitnehmerInnen bis 24 Jahren und solchen im Rentenalter, bei Beschäftigten ohne Schulbildung und Beschäftigten in Ostdeutschland. Auch die Art der Tätigkeit spielt eine Rolle: Hier sind die Anteile derer, die trotz Anspruchs keinen Mindestlohn erhalten, bei befristet Beschäftigten und bei Beschäftigten in Klein- beziehungsweise Kleinstbetrieben überdurchschnittlich hoch. Bei geringfügiger Beschäftigung ergibt sich eine Non-Compliance von rund 50 Prozent, wenngleich hier zu beachten ist, dass die Unsicherheiten bei der Berechnung in dieser Gruppe besonders hoch sind. Im Branchenvergleich ist die Nichteinhaltung des Mindestlohns besonders ausgeprägt im Gastgewerbe, bei persönlichen Dienstleistungen, im Einzelhandel sowie in der Leih- und Zeitarbeit.
Anteil in Prozent | Anteil der Gruppe an allen Anspruchsberechtigten unterhalb des Mindestlohns in Prozent | |||
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Hauptjob | Nebenjob | Hauptjob | Nebenjob | |
Insgesamt | 10,3 | 38,5 | 100 | 100 |
Geschlecht | ||||
Frauen | 13,4 | 40,9 | 52,4 | 52,1 |
Männer | 7,4 | 35,8 | 47,6 | 47,9 |
Alter | ||||
18–24 Jahre | 30,7 | 59,4 | 5,9 | 6,1 |
25–34 Jahre | 10,6 | 37,4 | 17,5 | 17,5 |
35–44 Jahre | 6,8 | 32,3 | 27,0 | 27,0 |
45–54 Jahre | 7,2 | 37,3 | 30,8 | 30,8 |
55–65 Jahre | 10,5 | 38,9 | 17,4 | 17,3 |
Über 65 Jahre | 37,2 | 34,8 | 1,3 | 1,4 |
Bildungsniveau | ||||
Ohne Berufsausbildung | 16,0 | 46,1 | 22,8 | 23,4 |
Mit Berufsausbildung | 10,1 | 35,7 | 47,5 | 47,3 |
Hochschulabschluss | 4,0 | 20,1 | 27,1 | 26,7 |
Region | ||||
Westdeutschland | 9,2 | 39,2 | 78,7 | 78,8 |
Ostdeutschland | 15,2 | 33,2 | 21,3 | 21,2 |
Staatsangehörigkeit | ||||
Deutsch | 9,8 | 39,5 | 87,9 | 87,6 |
Ausländisch | 14,5 | 30,3 | 12,1 | 12,4 |
Beschäftigungsumfang | ||||
Vollzeitbeschäftigte | 6,2 | 39,3 | 62,2 | 60,5 |
Teilzeitbeschäftigte | 13,2 | 37,4 | 16,7 | 16,2 |
Geringfügig Beschäftigte | 50,8 | 52,4 | 5,7 | 5,5 |
Befristung | ||||
nein | 8,6 | 37,1 | 85,9 | 85,4 |
ja | 19,7 | 44,6 | 11,2 | 11,5 |
Unternehmensgröße | ||||
Unter 5 Beschäftigte | 25,9 | 60,1 | 4,9 | 5,1 |
5–9 Beschäftigte | 22,3 | 35,9 | 7,5 | 7,5 |
10–19 Beschäftigte | 18,7 | 17,1 | 7,3 | 7,4 |
20–99 Beschäftigte | 12,0 | 25,6 | 16,7 | 16,8 |
100–199 Beschäftigte | 9,7 | 39,7 | 8,6 | 8,6 |
200–1999 Beschäftigte | 6,8 | 32,8 | 22,2 | 22,0 |
2000+ Beschäftigte | 4,8 | 53,2 | 31,2 | 30,8 |
Art der Tätigkeit | ||||
Führungskräfte | 0,6 | 4,8 | ||
Akademische Berufe | 2,4 | 18,9 | ||
TechnikerInnen und gleichrangige nichttechnische Berufe | 5,3 | 26,5 | ||
Bürokräfte und verwandte Berufe | 10,1 | 10,3 | ||
Dienstleistungen und VerkäuferInnen | 24,0 | 14,1 | ||
Handwerks- und verwandte Berufe | 6,2 | 9,4 | ||
Anlagen- und MaschinenbedienerInnen und Montageberufe | 14,5 | 6,1 | ||
Hilfsarbeitskräfte | 30 | 8,9 | ||
Angehörige der regulären Streitkräfte | 2,3 | 0,5 | ||
ausgewählte Branchen | ||||
Gastgewerbe | 34,2 | 3,1 | ||
Einzelhandel | 22,4 | 8,3 | ||
Bau | 7,2 | 4,6 | ||
persönliche Dienstleistungen | 43,3 | 0,5 | ||
Leih- und Zeitarbeit | 16,0 | 2,1 |
Anmerkung: Dargestellt sind abhängig Beschäftigte, ohne diejenigen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen. Informationen über die Art der Tätigkeit und die Branche sind bei Nebentätigkeiten nicht verfügbar. Für ausgewählte Subgruppen ergibt die Summe nicht 100 Prozent, da Antwortangaben fehlen beziehungsweise nur ausgewählte Informationen ausgewiesen sind.
Quellen: Eigene Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (soep.v34).
Die empirische Evidenz auf Basis von Angaben der Beschäftigten spricht eindeutig dafür, dass die Nichteinhaltung des Mindestlohns nach wie vor auf einem hohen Niveau liegt. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Datenlage nicht ideal ist, was Unsicherheiten hinsichtlich des tatsächlichen Ausmaßes der Non-Compliance zur Folge hat (Kasten 2). Allerdings greift die Vermutung, dass die gemessene Non-Compliance allein auf Messfehler in den Daten zurückzuführen ist, aus verschiedenen Gründen zu kurz. Erstens finden sich auch in anderen Haushaltsbefragungen (etwa im Panel für Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS) der Bundesagentur für Arbeit) deutliche Hinweise darauf, dass anspruchsberechtigten ArbeitnehmerInnen der Mindestlohn vorenthalten wird – und zwar in ähnlichem Ausmaß.Vgl. Pusch und Rehm (2017), a.a.O. Zweitens zeigen die Erfahrungen des Zolls, der die Einhaltung des Mindestlohns in Deutschlands kontrolliert, dass vielfach gegen den Mindestlohn beziehungsweise gegen die Dokumentationspflichten zur Arbeitszeiterfassung verstoßen wird. Da die Zahl der Betriebsprüfungen überschaubar ist, die Sanktionen bei Verstößen gegen den Mindestlohn eher moderat ausfallen und der Aufwand für eine gerichtsfeste Dokumentation eines Mindestlohnverstoßes hoch ist, kann es nicht überraschen, dass im Jahr 2017 und damit auch im dritten Jahr nach Einführung des Mindestlohns eine relevante Zahl anspruchsberechtigter Beschäftigter unterhalb des Mindestlohns bezahlt wurde. Tatsächlich zeigen, wie im Folgenden dargelegt wird, auch Berechnungen auf Basis von Betriebsmeldungen eindeutige Hinweise auf Non-Compliance.
Nachfolgend werden drei Ansätze beschrieben, mit denen die Robustheit der Ergebnisse auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) überprüft und besser eingeschätzt werden können:
Stichprobenfehler: Das SOEP ist eine Zufallsstichprobe aus der Grundgesamtheit aller Haushalte in Deutschland, weshalb alle SOEP-basierten Ergebnisse nur ein Schätzer für den „wahren“ Wert für die Grundgesamtheit sein können. Diese statistische Unsicherheit lässt sich mit Konfidenzbändern quantifizieren, die angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit (hier: 95 Prozent) der wahre Schätzwert in einem bestimmten Intervall liegt. So schwankt dieser Wertebereich beispielsweise für den vereinbarten Stundenlohn 2017 zwischen 2,173 Millionen und 2,586 Millionen anspruchsberechtigten Beschäftigten.Siehe Tabelle 1 in diesem Bericht.
Messfehler bei Arbeitszeiten und Entgelten: Die Angaben der Beschäftigten zu ihren Arbeitszeiten und Monatsentgelten können fehlerbehaftet sein, etwa weil sich die Personen nicht mehr an die exakten Werte erinnern können oder die Werte runden. Diese Ungenauigkeiten können dazu führen, dass der ermittelte Stundenlohn unterhalb der Mindestlohnschwelle liegt, obwohl der (unbeobachtete) wahre Wert darüber liegt. Natürlich ist auch das umgekehrte Szenario denkbar. Deswegen wurden in den Berechnungen die Beschäftigten ausgeschlossen, die eine höhere Wahrscheinlichkeit für ungenaue Arbeitszeitangaben haben, weil sie ihren Job erst vor einem Monat angetreten haben, auf Abruf arbeiten oder sich in einem Vorbereitungsjahr auf Altersteilzeit befinden (Tabelle 1). Dann sinkt beispielsweise für das Jahr 2017 die Nichteinhaltung des Mindestlohns bei Beschäftigten in einer Haupttätigkeit für den berechneten vertraglichen Stundenlohn von rund 2,4 auf knapp 2,1 Millionen.
Stichprobe nach Ausschluss potentiell volatiler Arbeitszeiten
2014 | 2015 | 2016 | 2017 | ||||||||||
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Untere Grenze1 | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | ||
Haupttätigkeit | |||||||||||||
berechneter vertraglicher Stundenlohn | Millionen Personen | 2,255 | 2,504 | 2,769 | 1,689 | 1,898 | 2,155 | 1,45 | 1,656 | 1,841 | 1,858 | 2,061 | 2,28 |
Prozent | 9,32 | 10,23 | 11,14 | 7,2 | 8,01 | 9,11 | 5,82 | 6,72 | 7,43 | 6,39 | 7,07 | 7,82 | |
berechneter tatsächlicher Stundenlohn | Millionen Personen | 2,962 | 3,234 | 3,487 | 2,285 | 2,526 | 2,816 | 2,083 | 2,338 | 2,604 | 2,507 | 2,756 | 2,978 |
Prozent | 12,22 | 13,27 | 14,27 | 9,79 | 10,71 | 11,79 | 8,53 | 9,52 | 10,47 | 8,67 | 9,5 | 10,19 | |
Nebentätigkeit | |||||||||||||
tatsächlicher Stundenlohn | Millionen Personen | 0,362 | 0,464 | 0,569 | |||||||||
Prozent | 31,0 | 37,3 | 44,0 |
1 Die unteren und oberen Grenzen beziehen sich jeweils auf ein 95-Prozent-Konfidenzintervall.
Anmerkung: Dargestellt sind abhängig Beschäftigte, ohne diejenigen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen. Angaben zu Nebentätigkeiten sind erst seit 2017 verfügbar.
Quellen: Eigene Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (soep.v34).
Ausschluss von Werten an der Mindestlohnschwelle: Um zu prüfen, wie Ungenauigkeiten in den Monatslöhnen beziehungsweise Stundenangaben die Ergebnisse beeinflussen, wurde der Schwellenwert von 8,50 Euro (bzw. 8,84 Euro) variiert (Tabelle 2). Dabei wurde unterstellt, dass auch anspruchsberechtigte Beschäftigte, deren hier errechneter Stundenlohn um fünf Prozent unter der Mindestlohnschwelle liegt, den Mindestlohn erhalten hatten. Im Ergebnis führt dies dazu, dass die Zahl der Beschäftigten mit einem berechneten vertraglichen Stundenlohn unterhalb des Mindestlohns von rund 2,4 Millionen auf 1,75 Millionen im Jahr 2017 sinkt.
2014 | 2015 | 2016 | 2017 | ||||||||||
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Untere Grenze1 | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | Untere Grenze | Punktschätzer | Obere Grenze | ||
Haupttätigkeit | |||||||||||||
berechneter vertraglicher Stundenlohn *0,95 | Millionen Personen | 2,02 | 2,266 | 2,529 | 1,491 | 1,669 | 1,9 | 1,185 | 1,357 | 1,526 | 1,549 | 1,751 | 1,946 |
Prozent | 7,94 | 8,76 | 9,59 | 5,91 | 6,61 | 7,54 | 4,55 | 5,21 | 5,91 | 5,06 | 5,64 | 6,28 | |
berechneter tatsächlicher Stundenlohn *0,95 | Millionen Personen | 2,69 | 2,951 | 3,23 | 2,04 | 2,26 | 2,523 | 1,827 | 2,034 | 2,262 | 2,258 | 2,507 | 2,688 |
Prozent | 10,43 | 11,46 | 12,44 | 8,17 | 9 | 9,96 | 7 | 7,83 | 8,73 | 7,4 | 8,12 | 8,73 | |
Nebentätigkeit | |||||||||||||
tatsächlicher Stundenlohn *0,95 | Millionen Personen | 0,341 | 0,436 | 0,541 | |||||||||
Prozent | 27,0 | 33,6 | 40,0 |
1 Die unteren und oberen Grenzen beziehen sich jeweils auf ein 95-Prozent-Konfidenzintervall.
Anmerkung: Dargestellt sind abhängig Beschäftigte, ohne diejenigen mit branchenspezifischen Mindestlöhnen. Angaben zu Nebentätigkeiten sind erst seit 2017 verfügbar.
Quellen: Eigene Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (soep.v34).
Um die SOEP-Ergebnisse zur Nichteinhaltung des Mindestlohns besser einordnen zu können, bietet sich ein Vergleich mit Daten der amtlichen Statistik an.Siehe zu einer vergleichenden Diskussion beider Datenquellen: Matthias Dütsch, Ralf Himmelreicher und Clemens Ohlert (2019): Calculating Gross Hourly Wages – the (Structure of) Earnings Survey and the German Socio-Economic Panel in Comparison. Journal of Economics and Statistics, 239(2), 243–276. Hierzu werden die Daten der Verdienststrukturerhebung (VSE) 2014 sowie die Verdiensterhebungen (VE) der Jahre 2015 bis 2017 herangezogen. Diese Daten enthalten Meldungen aus den Personalabteilungen der Betriebe. Der Lohn in der VSE und VE wird dabei auf Basis der bezahlten Arbeitsstunden (inklusive bezahlter Überstunden; exklusive nicht bezahlter Überstunden) ermittelt; allerdings beruht nur die VSE auf verpflichtenden Angaben der Betriebe.
Im Jahr 2014, also im Jahr unmittelbar vor der Mindestlohneinführung, verdienten laut VSE knapp vier Millionen Beschäftigte weniger als 8,50 Euro pro Stunde (Tabelle 1). Diese Zahl liegt damit auf ähnlichem Niveau wie im SOEP mit 3,6 Millionen, wenngleich bei den SOEP-Angaben Nebentätigkeiten nicht berücksichtigt sind.
Nach der Reform unterscheiden sich die Angaben von Betrieben und Beschäftigten dagegen deutlich: Unter Ausschluss der Branchen mit Übergangsregelungen wurden im Jahr 2015 laut VE etwa eine Million Beschäftigte unterhalb des Mindestlohns bezahlt, im Jahr 2016 waren es 0,75 Millionen. Diese im Vergleich zu den SOEP-basierten Statistiken niedrigeren Werte ergeben sich vor allem dadurch, dass laut Verdiensterhebung die Löhne vieler Beschäftigter im Bereich von 8,50 bis 8,59 EUR liegen.Im Jahr 2015 verdienten laut Verdiensterhebung 1,712 Millionen Beschäftigte zwischen 8,50 und 8,59 Euro pro Stunde, im Jahr 2016 waren es 1,586 Millionen. Demnach gelingt es den Betrieben, die Arbeitszeiten und Gehälter ihrer Beschäftigten – etwa durch Überstundenzuschläge – so aufeinander abzustimmen, dass die daraus resultierenden Stundenlöhne quasi perfekt kompatibel mit der unteren Lohnschwelle sind, die durch den Mindestlohn eingezogen wurde.
Aber auch bei Berechnungen der Non-Compliance mit Daten aus den Betrieben ergeben sich Unsicherheiten. Diese haben verschiedene Ursachen:
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die freiwilligen Meldungen der Betriebe nur begrenzt aussagekräftig sind, das Ausmaß der Nichteinhaltung des Mindestlohns exakt zu beziffern. Hierüber kann im Zweifel lediglich eine sachgerechte und von beiden Seiten auch bestätigte Dokumentationspflicht des täglichen Beginns, Endes und der Dauer der Arbeitszeit Auskunft geben. Gleichwohl deckt sich die Datenlage mit den Erfahrungen des Zolls, der bei seinen Prüfungen regelmäßig Verstöße feststellt.Die Prüfungen des Zolls erfolgen nicht zufällig, sondern risikobasiert. Daher erlauben sie keine Hochrechnungen der gesamtwirtschaftlichen Non-Compliance.
Mit der Einführung des Mindestlohns zum 1. Januar 2015 sollte – von einigen Ausnahmen abgesehen – für alle Beschäftigten eine untere Lohngrenze eingezogen werden. Die vorliegenden Befunde zeigen jedoch, dass dies nur zum Teil gelungen ist: Auch im Jahr 2017 bekamen – bei konservativer Berechnung – rund 1,3 Millionen anspruchsberechtigte Beschäftigte in einer Haupttätigkeit einen Lohn unterhalb der Mindestlohnschwelle. Darüber hinaus gab es rund eine halbe Million Beschäftigte, die in einer Nebentätigkeit geringer entlohnt wurden, als es das Mindestlohngesetz vorsieht.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2019 verpflichtet Arbeitgeber, die gesamte Arbeitszeit ihrer ArbeitnehmerInnen zu erfassen. Damit ist die Grundlage gelegt worden, dass auch ArbeitnehmerInnen im Niedriglohnbereich ihre Arbeitnehmerrechte inklusive des Anspruchs auf Zahlung des Mindestlohns besser durchsetzen können. Viel hängt nun davon ab, wie dieses Urteil umgesetzt und kontrolliert wird.
Handlungsbedarf jedenfalls ist genügend vorhanden, denn flächendeckende und intensive Kontrollen des Zolls, der die Einhaltung des Mindestlohns kontrollieren soll, gibt es mangels Personal bisher praktisch nicht. Doch auch auf Seite der VerbraucherInnen kann etwas getan werden. Diese haben bisher nicht die Möglichkeit, mit ihrem Geldbeutel abzustimmen, da Produkte beziehungsweise Dienstleistungen, die nicht unter Einhaltung des Mindestlohns produziert wurden, als solche nicht erkennbar sind. Eine Zertifizierung von Arbeitgebern, die die Arbeitszeit nachvollziehbar dokumentieren, wäre geeignet, an dieser Stelle Abhilfe zu schaffen. In Anlehnung an andere anerkannte Siegel könnte eine solche „Fair Pay“-PlaketteVgl. Alexandra Fedorets und Mattis Beckmannshagen (2018): Her mit der „Fair Pay“-Plakette! Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 21. Oktober (online verfügbar). dazu beitragen, dass sich mehr Arbeitgeber als bisher – da sie so einen Wettbewerbsvorteil generieren könnten – an den Mindestlohn halten.
JEL-Classification: B41;C83;D31;J31
Keywords: Minimum wage, inequality, employment, SOEP
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-28-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/201818