DIW Wochenbericht 30 / 2019, S. 511-520
Ben Wealer, Simon Bauer, Leonard Göke, Christian von Hirschhausen, Claudia Kemfert
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„Atomkraft war niemals auf die kommerzielle Stromerzeugung ausgelegt, sondern auf Atomwaffen. Atomstrom war, ist und bleibt unwirtschaftlich. Darüber hinaus ist Atomkraft mitnichten sauber, sondern aufgrund radioaktiver Strahlung für über eine Millionen Jahre gefährlich für Mensch und Natur.“ Christian von Hirschhausen, Studienautor
In der sich verschärfenden Diskussionen über wirksamen Klimaschutz wird sowohl in Deutschland als auch in Europa und weltweit die Atomkraft als „saubere Energie“ ins Spiel gebracht. Vor diesem Hintergrund analysiert dieser Bericht ihre historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Kosten und Risiken. Die Ergebnisse zeigen, dass Atomkraft aufgrund radioaktiver Strahlung für über eine Millionen Jahre mitnichten als „sauber“ bezeichnet werden kann, sondern für Mensch und Umwelt gefährlich ist. Zudem fallen hohe Risiken bezüglich Proliferation an. Eine empirische Erhebung aller jemals gebauten 674 Atomkraftwerke zeigt, dass privatwirtschaftliche Motive von Anfang an keine Rolle gespielt haben, sondern militärische Interessen. Selbst bei Vernachlässigung der Kosten für den Rückbau der Atomkraftwerke und die langfristige Lagerung des Atommülls wären rein privatwirtschaftliche Investitionen in Atomkraftwerke mit hohen Verlusten verbunden – im Durchschnitt knapp fünf Milliarden Euro pro Kraftwerk, wie eine betriebswirtschaftliche Simulation zeigt. In Ländern, in denen noch Atomkraftwerke gebaut werden, wie etwa China und Russland, spielen private Investitionen auch keine Rolle. Atomkraft ist zu teuer und gefährlich und daher keine Option für eine klimafreundliche Energieversorgung.
Im Kontext der sich verschärfenden Diskussionen über wirksamen Klimaschutz wird von verschiedenen Seiten die Atomkraft unter der Überschrift „saubere Energie“ (clean energy) ins Spiel gebracht. So mehren sich Stimmen, Deutschland sollte im Sinne des Klimaschutzes die Laufzeiten bestehender Atomkraftwerke (AKW) verlängern.Vgl. zum Beispiel Henrik Mortsiefer et al. (2019): VW-Chef fordert radikalere Klimapolitik. Der Tagesspiegel online vom 1. Juni 2019 (online verfügbar, abgerufen am 8. Juli 2019. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Auf europäischer Ebene enthält das sogenannte Clean Energy Package – die Fortschreibung der langfristigen EU-Klimaschutzstrategie – nicht nur erhebliche Laufzeitverlängerungen, sondern auch den Neubau von über 100 Atomkraftwerken bis 2050.European Commission (2018): A Clean Planet for All – A European long-term strategic vision for a prosperous, modern, competitive and climate neutral economy. Communication (2018) 773. Brüssel (online verfügbar). Auch die Internationale Energieagentur (IEA) führt in einer aktuellen Studie ein Plädoyer für nuclear power in a clean energy system und argumentiert, Atomkraft solle durch erhebliche Subventionen sowohl für Energieversorgungsunternehmen als auch für neue Technologien unterstützt werden.IEA (2019): Nuclear Power in a Clean Energy System. Paris.
Das Narrativ „Atomkraft für Klimaschutz“ ist keineswegs neu: Bereits der Atomphysiker und Erfinder Alvin Weinberg, seit den 1950er Jahren maßgeblich an der Entwicklung von Druckwasserreaktoren beteiligt,Alvin M. Weinberg (1959): Some Thoughts on Reactors. Bulletin of the Atomic Scientists 15 (3), 132–137 (online verfügbar). warnte in den 1970er Jahren vor den globalen Folgen der steigenden fossilen Stromerzeugung. Er sah in der Atomkraft die beste Antwort auf den rasant steigenden Energieverbrauch.Alvin M. Weinberg (1974): Global Effects on Man’s Production of Energy. Science 186 (4160), 205 (online verfügbar). Auch der Premierminister des Vereinigten Königreichs, Tony Blair, verband Anfang des 21. Jahrhunderts die Bemühungen um Klimaschutz mit der Forderung nach dem Ausbau der Atomkraft. So fand die Atomkraft als eine wichtige Option für den Klimaschutz Eingang in die von Blair beauftragte Klimaschutzstudie von Nicholas Stern, dem Stern-Report.Nicholas Stern (2007): The Economics of Climate Change: The Stern Review. Cambridge (online verfügbar).
Vor diesem Hintergrund untersucht dieser Bericht kritisch, ob Atomkraft eine wirtschaftliche und saubere Option für eine zukünftige nachhaltige Energieversorgung darstellt. Hierzu beleuchtet er zum einen aus wirtschaftshistorischer Perspektive die politischen und institutionellen Bedingungen und Kosten, zu denen Atomkraftwerke weltweit errichtet worden sind. Zum anderen ermitteln detaillierte Simulationsrechnungen den erwarteten Nettobarwert für heutige Investitionen aus betriebswirtschaftlicher Perspektive. Die Ergebnisse zeigen, dass Atomkraft in der Vergangenheit keine saubere und kostengünstige Energiequelle war und dies auch in der Zukunft nicht sein wird.
Die kommerzielle (manchmal auch als „zivile“ Nutzung titulierte) Nutzung der Atomkraft ist ein Nebenprodukt der militärischen Atomkraftentwicklung der 1940er Jahre, insbesondere der beschleunigten Suche nach Atombomben in der Endphase des zweiten Weltkriegs.François Lévêque (2012): The Economics and Uncertainties of Nuclear Power. Cambridge (online verfügbar). Entgegen des anfänglichen Optimismus bezüglich potenziell geringer Kosten der Atomkraft („to cheap to meter“)Lewis Strauss (1954): Remarks Prepared by Lewis. L. Strauss, Chairman, United States Atomic Energy Commission, For Delivery at the Founders’ Day Dinner, National Association of Science Writers, on Thursday, September 16, 1954, New York (online verfügbar). war bereits Ende der 1950er Jahre klar, dass Atomkraft keine Chancen auf ökonomische Wettbewerbsfähigkeit hatte.Vgl. hierzu die ausführliche technik-historische Aufarbeitung in Joachim Radkau (1983): Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975: Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse. Reinbek bei Hamburg; Joachim Radkau und Lothar Hahn (2013): Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. München; und Joachim Radkau (2017): Geschichte der Zukunft: Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. München. Sowohl in den USA als auch später in anderen Ländern musste die Ausrüstungs- und Energiewirtschaft mit erheblichen Subventionen an die Atomkraft herangeführt werden. Zudem kam es mit dem Neubau von AKWs seit den 1960er Jahren nicht zu Kostendegressionen. Vielmehr stiegen die Kosten von Atomkraftwerken pro Kilowatt (kW) Leistung kontinuierlich an.Die spezifischen Investitionen für Atomkraftwerke, die in den Jahren 1966–1967 in den Bau gingen, betrugen etwa 700 US-Dollar pro kW. Für die Jahre 1974–1975 betrug dieser Wert ungefähr 3100 US-Dollar pro kW. (Beide Angaben beziehen sich auf den Dollar-Kurs des Jahres 1982.) Vgl. Energy Information Administration (1986): An Analysis of Nuclear Power Plant Construction Costs. Washington, DC (online verfügbar).
Diese Befunde werden seit mehreren Jahrzehnten regelmäßig für die USA gezeigt, aber auch für FrankreichArnulf Grubler (2010): The Costs of the French Nuclear Scale-up: A Case of Negative Learning by Doing. Energy Policy 38 (9), 5147–5188 (online verfügbar); Lina Escobar Rangel und François Lévêque (2015): Revisiting the Cost Escalation Curse of Nuclear Power: New Lessons from the French Experience. Economics of Energy & Environmental Policy 4 (2), 103–126 (online verfügbar). und für Reaktoren der sogenannten dritten Generation.Vgl. Mycle Schneider et al. (2016): World Nuclear Industry Status Report 2016. Paris (online verfügbar). Die beiden campusweiten Studien des MIT (2003) und der University of Chicago (2004) stimmen darin überein, dass die Atomenergie im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts mit Kohle und Erdgas nicht konkurrenzfähig war.Vgl. MIT (2003): The Future of Nuclear Power. Cambridge (online verfügbar); University of Chicago (2004): The Economic Future of Nuclear Power. Chicago (online verfügbar). Weitere Studien haben in jüngerer Zeit die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Atomenergie bestätigt.Paul L. Joskow und John E. Parsons (2012): The Future of Nuclear Power After Fukushima. Economics of Energy & Environmental Policy 1 (2). 99–113 (online verfügbar); William D. D’haeseleer (2013): Synthesis on the Economics of Nuclear Energy – Study for the European Commission, DG Energy. Final Report. Leuven (online verfügbar).
Zum besseren Verständnis des Phänomens wurde am DIW Berlin eine deskriptive empirische Analyse zu allen 674 seit 1951 gebauten Atomreaktoren durchgeführt, die zur Stromproduktion genutzt wurden (d.h. ohne Forschungsreaktoren).Vgl. Ben Wealer et al. (2018): Nuclear Power Reactors Worldwide – Technology Developments, Diffusion Patterns, and Country-by-Country Analysis of Implementation (1951–2017). DIW Berlin Data Documentation 93 (online verfügbar). Dabei wurde sowohl die Investitionstätigkeit in diesem Sektor betrachtet als auch die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen analysiert, unter welchen die Reaktoren gebaut wurden. Hierbei können vier Entwicklungsphasen identifiziert werden, wobei in keiner Phase privatwirtschaftliche, wettbewerbliche Investitionen eine Rolle spielten.Vgl. Wealer et al. (2018), a.a.O.
1) Die Frühphase der kommerziellen Nutzung der Atomkraft in der Nachkriegszeit (1945 bis in die 1950er Jahre) war vom sich abzeichnenden kalten Krieg zwischen den USA und seinen Partnerländern auf der einen und der Sowjetunion samt Satellitenstaaten auf der anderen Seite geprägt. Dabei stand die Weiterentwicklung von Atomwaffen und anderen militärischen Nutzungen im Mittelpunkt. Atomkraftwerke wurden vor allem als „Plutoniumfabriken mit angehängter Stromproduktion“Vgl. die Darstellung bei Radkau (1983), a.a.O., S. 53, zur Entwicklung des ersten Atomreaktors im Vereinigten Königreich im AKW Calder Hall im Jahr 1956. konzipiert.
2) Auch die zweite Phase der Diffusion, ab den 1950er Jahren, war von der Geopolitik des kalten Krieges gekennzeichnet. Nach dem Scheitern der Bemühungen der USA, die Ströme von waffenfähigem atomarem Spaltmaterial durch die Einrichtung einer internationalen Behörde zu kontrollieren (Atoms for Peace, spätere Internationale Atomenergie-Organisation IAEO), begann ein Wettlauf mit der Sowjetunion zur Verbreitung der jeweils eigenen AKW-Technologie in den Staaten des eigenen Lagers. In wenigen Ländern, etwa den USA und Deutschland, konnten mit Hilfe hoher Subventionen privatwirtschaftliche Energieunternehmen für die Entwicklung und den Betrieb von AKWs gewonnen werden. Jedoch fanden in keinem Fall wettbewerbliche, nicht staatlich abgesicherte Investitionen statt.Vgl. Radkau (1983), a.a.O. Parallel hierzu entwickelten nicht blockgebundene Staaten eigene Atomprogramme, wie Indien, Pakistan und Israel.
3) In den 1980er und 1990er Jahren erfolgte der Übergang von einem bipolaren hin zu einem globalen, multipolaren Atomwaffen-Rüstungswettbewerb, durch den mindestens zehn Länder in Besitz von Technologie und Wissen zu Atomwaffen gelangten.Der Strategieforscher Paul Bracken spricht hier vom Übergang vom ersten in das zweite Atomzeitalter (“second nuclear age”), vgl. Paul Bracken (2012): The Second Nuclear Age – Strategy, Danger, and the New Power Politics. New York. Neben den USA, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und der Sowjetunion waren bzw. sind dies bis heute China, Indien, Pakistan, Nordkorea, Israel und Südafrika. Eine wirtschaftliche Nutzung von Atomkraft durch private, nicht staatlich gestützte Investitionen findet in keinem der Atomländer statt.Vgl. Wealer et al. (2018), a.a.O.
4) Die gegenwärtige Phase ist durch die Rhetorik der „Renaissance der Atomkraft“, in Wirklichkeit aber dem Rückgang der kommerziellen Nutzung in den westlichen Marktwirtschaften gekennzeichnet (Kasten 1). Besonders prägnant sind dabei der finanzielle Bankrott der großen AKW-Bauer Westinghouse (USA)Einer der Hauptgründe für Verluste von Westinghouse in Höhe von 6,2 Milliarden US-Dollar und die damit verbundene Einreichung des Insolvenzschutzes im März 2017 waren Kostenüberschreitungen bei den Bauprojekten Vogtle und Summer in den USA. Vgl. Mycle Schneider et al. (2017): World Nuclear Industry Status Report 2017. Paris (online verfügbar). und Framatome (ehemals Areva, Frankreich)Im Jahr 2018 wurde die Reaktorsparte Areva NP für 1,9 Milliarden Euro hauptsächlich an die staatlich kontrollierte EdF (EdF besaß bereits 75,5 Prozent der Anteile) verkauft und in Framatome umbenannt. Vgl. Mycle Schneider et al. (2018). World Nuclear Industry Status Report 2018. Paris (online verfügbar). sowie die Bestrebungen der Energieversorgungsunternehmen, unrentable Atomkraftwerke möglichst rasch zu schließen bzw. die finanzielle Verantwortung dem Staat zuzuschieben. In den seit den 1990er Jahren zunehmend liberalisierten Strommärkten gibt es keine Anreize für private Investitionen in Atomkraftwerke. Dies überlässt die Entwicklung der Atomenergie anderen, nicht marktbestimmten Systemen, in denen die Länder aus politischen, militärstrategischen oder anderen Gründen an der nuklearen Entwicklung festhalten, vor allem die Atommächte China und Russland.
In Deutschland stießen Forderungen nach Laufzeitverlängerung bestehender AKWs zuletzt auf Ablehnung der Betreiberfirmen.Vgl. Jacob Schlandt (2019): Die Nutzung der Kernenergie hat sich erledigt. Der Tagesspiegel online, Ausgabe vom 5. Juni 2019 (online verfügbar). Die Netzentkopplung der verbleibenden sieben deutschen AKWs (9,5 Gigawatt Leistung) erfolgt nach aktueller Planung wie vorgesehen. Das AKW Philippsburg geht Ende 2019 vom Netz, die Blöcke in Brokdorf, Gundremmingen-C und Grohnde Ende 2021 und Isar-2, Emsland und Neckarwestheim-2 im Jahr 2022 (Abbildung 1).
Auch auf europäischer Ebene sollten nach wirtschaftlichem Ermessen weder Neubauten von Atomkraftwerken noch Laufzeitverlängerungen erfolgen. Auch sind durch den Verzicht auf Atomkraft keine Einschränkungen der Versorgungssicherheit zu erwarten.Vgl. Claudia Kemfert et al. (2015): Europäische Klimaschutzziele sind auch ohne Atomkraft erreichbar. DIW Wochenbericht Nr. 45, 1063–1070 (online verfügbar). Die installierte Leistung würde in der EU ohne Laufzeitverlängerungen und bei Berücksichtigung der technischen Lebensdauer von 40 Jahren deutlich zurückgehen (Abbildung 2).Für AKWs, die nach 1978 ans Netz gingen und somit jetzt schon über 40 Jahre alt sind, wurden die aktuellen Abschaltdaten berücksichtigt. Belgien: Doel-3 im Jahr 2022, Tihange-2 im Jahr 2023, Doel-1/2/4 und Tihange-1/3 im Jahr 2025. Niederlande: Borssele im Jahr 2033. Schweden: Ringhals-2 im Jahr 2019, Ringhals-1 im Jahr 2020. Vereinigtes Königreich: Hinkley-Point B-2, Hunterston B-1, Hunterston B-2 und Hinkley-Point B-1 im Jahr 2023, Hartlepool A-1/2, Heysham A-1/2 im Jahr 2024, Dungeness B-1/2 im Jahr 2028, Torness-1/2, Heysham B-1/2 im Jahr 2030, Sizewell B im Jahr 2035. Finnland: Loviisa im Jahr 2021. Deutschland: bis 2022. Bereits bis 2025 würde sie um die Hälfte auf 54 Gigawatt (GW) sinken. Zehn Jahre später wären dann nur rund 14 GW im europäischen Netz. Die restlichen AKW-Betreiber wären hauptsächlich im Osten Europas angesiedelt, in Tschechien, Rumänien und der Slowakei. Diese Reaktoren sind technisch auf 30 Jahre ausgelegt und teilweise ohne Sicherheitsbehälter gebaut.Vgl. Thomas Halverson (1993): Ticking Time Bombs: East Bloc Reactors. Bulletin of the Atomic Scientists 49 (6), 43–48 (online verfügbar).
Auch in den USA, mit knapp 100 Reaktoren der größte Atomstromproduzent weltweit, hat die Atomkraft niemals private Investoren in einem wettbewerblichen Umfeld anziehen können.Vgl. Ben Wealer et al. (2017): Nuclear Energy Policy in the United States: Between Rocks and Hard Places. IAEE Energy Forum Second Quarter 2017, 25–29. Viele Reaktoren unterliegen einer Kostenzuschlagsregulierung (sogenannte Cost-Plus-Regulierung), welche den Betreibern eine auskömmliche Rendite garantiert. Die Kosten hierfür werden auf den Strompreis umgelegt. Wie in Europa ist inzwischen nicht nur die Investition, sondern auch der Betrieb von AKWs in vielen Fällen verlustbringend. Bereits heute sind laut einer Studie des MIT 35 Atomkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 58 GW unrentabel.Hiervon befinden sich 14 GW in deregulierten Strommärkten und 44 GW in regulierten Märkten; vgl. Geoffrey Haratyk (2017): Early Nuclear Retirements in Deregulated U.S. Markets: Causes, Implications and Policy Options. Energy Policy 110, 150–166 (online verfügbar). Dies führt landesweit zu Abschaltplänen. Zwischen 2013 und 2018 wurden sieben AKWs (5,3 GW Kapazität) vom Netz genommen. Weitere Pläne zur Außerbetriebnahme belaufen sich auf neun Reaktoren mit 8,7 GW an Leistung. Zugleich ist in den USA auch eine Welle an Forderungen nach Subventionen entstanden, die u.a. in den Staaten New York und Illinois bereits erfolgreich war. Im Mittelpunkt steht dabei das Instrument von Zero Emission Credits (ZECs). So zog der vormalige Atomriese Exelon, nach Einführung der ZECs in New York und Illinois, angekündigte Außerbetriebnahmen zurück (Kraftwerke Clinton, Quad Cities, Ginna).Vgl. Schneider et al (2018), a.a.O., S. 100.
Die wirtschaftshistorische Betrachtung zeigt, dass Elektrizität hauptsächlich als Kuppelprodukt genutzt wurde. Die treibende Kraft waren militärische Entwicklungen und Interessen, vor allem die Erzeugung von waffenfähigem Plutonium als auch – insbesondere in den USA in den 1950er Jahren – die Entwicklung von Druckwasserreaktoren als U-Boot-Antriebstechnik.Vgl. Alvin M. Weinberg (1956): Today‘s Revolution. Bulletin of the Atomic Scientists 12 (8), 299–302.
Die wenigen derzeitigen Investitionen in Atomkraftwerke in Europa und OECD-Ländern produzieren absehbar flächendeckend Verluste in bis zu zweistelliger Milliardenhöhe.Vgl. Ben Wealer et al. (2018): Cost Estimates and Economics of Nuclear Power Plant Newbuild: Literature Survey and Some Modelling Analysis. IAEE Energy Forum Special Issue 2018, 43–45 (online verfügbar); sowie Casimir Lorenz et al. (2016): Atomkraft ist nicht wettbewerbsfähig – Auch im Vereinigten Königreich und Frankreich ist Klimaschutz ohne Atomkraft möglich. DIW Wochenbericht Nr. 44, 2047–1054 (online verfügbar). So stiegen die Kosten des AKW Olkiluoto-3 in Finnland von ursprünglich geschätzten drei Milliarden Euro (1995) auf über elf Milliarden Euro. Dies entspricht, Stand 2018, etwa 7200 Euro pro kW (Abbildung 1). In Frankreich ist nach massiven Kostensteigerungen und regelmäßigen Berichten über fehlende Reaktorsicherheit das gesamte Atom-Ausbauprogramm des Energiekonzerns Electricité de France (EdF) in Frage gestellt. Darüber hinaus dürften die hohen Schulden des Konzerns (über 40 Milliarden Euro) zu einer vollständigen Verstaatlichung führen, wenn ein Bankrott vermieden werden soll.Vgl. Par Pierre Le Hir und Nabil Wakim (2019): Après le nouveau retard de l’EPR de Flamanville, la filière nucléaire dans l’impasse. Le Monde online vom 20. Juni 2019 (online verfügbar). Von den beiden Investitionsprojekten in den USA wurde eines nach Verdopplung der Kosten aufgegeben (UC Summers, Virginia). Beim anderen (Vogtle, Georgia) stiegen die Kosten von ursprünglich 14 Milliarden US-Dollar, entsprechend etwa 6200 US-Dollar pro kW, im Jahr 2013 auf geschätzte 29 Milliarden US-Dollar im Jahr 2017, entsprechend etwa 9400 US-Dollar pro kW.
In Folgenden wird mittels eines Investitionsmodells die Rentabilität eines Atomkraftwerks unter unterschiedlichen energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen untersucht. Hierbei handelt es sich um eine rein privatwirtschaftliche Perspektive, die externe Kosten außer Acht lässt, etwa für dauerhafte Lagerung von Atommüll.
Das Modell betrachtet eine große Anzahl möglicher Ausprägungen der folgenden drei Rahmenbedingungen: Erstens der Großhandelspreis für Strom, welcher zwischen 20 und 80 Euro pro Megawattstunde (MWh) variiert wird. Dies entspricht der aktuellen Situation in Europa sowie einer konservativen Abschätzung der mittelfristigen Preisentwicklung. Je höher der Strompreis, umso höher sind die zukünftigen Erlöse für einen Kraftwerksbetreiber.Langfristige Preisprognosen auf Strommärkten sind schwierig, weil sich fundamentale Aspekte ändern können, wie zum Beispiel das Marktdesign. Eine Indikation liefert der Preis für Baseload-Futures in Deutschland. Im Juli 2019 liegt dieser für die Jahre 2020 bis 2023 um 50 Euro pro MWh; vgl.. Daten auf der Webseite der Strombörse European Energy Exchange (online verfügbar). Das heißt, Marktteilnehmer rechnen mit einem Preis in dieser Größenordnung. Andererseits wurden in den letzten Jahren auch Preise im Bereich von unter 30 Euro pro MWh beobachtet. In diesem Sinne ist die Spanne von 20 bis 80 Euro pro MWh konservativ, weil sie höhere Preise und somit höhere Erlöse für Kraftwerksbetreiber einschließt. Zweitens die spezifischen Investitionen, die auf Basis aktueller Schätzungen bzw. Kostenentwicklungen zwischen 4000 und 9000 Euro pro kW variiert werden (Abbildung 1). Sowie drittens die gewichteten Kapitalkosten (weighted average cost of capital, WACC), die zwischen vier und zehn Prozent variiert werden.Die gewichteten Kapitalkosten (WACC) sind der durchschnittliche Gesamtkapitalkostensatz eines Unternehmens. Der WACC berechnet sich aus dem arithmetischen Mittel der Eigen- und Fremdkapitalkostensätze, gewichtet nach den jeweiligen Anteilen von Eigen- und Fremdkapital am Gesamtkapital. Weitere Kosten belaufen sich auf etwa 90 Euro pro kW und Jahr für Instandhaltung und zwölf Euro pro MWh für Betrieb und den Kernbrennstoff.Vgl. Nadira Barkatullah und Ali Ahmad (2017): Current Status and Emerging Trends in Financing Nuclear Power Projects. Energy Strategy Reviews 18 , 127–140 (online verfügbar). Für die Reaktoren wird eine Laufzeit von 40 Jahren angenommen. Die Analyse geht von einem exemplarischen Atomkraftwerk mit einer elektrischen Leistung von 1000 MW aus.
Eine Monte-Carlo-Simulation ermittelt den Nettobarwert, auch als Kapitalwert oder net present value (NPV) bezeichnet, für eine große Zahl an Kombinationen der unsicheren Variablen. Dabei wird jeweils eine zufällige Ausprägung jeder unsicheren Größe aus einer Gleichverteilung innerhalb der gegebenen Grenzen gezogen und in die Formel für den Nettobarwert eingesetzt. Dieser Schritt wird 100000 Mal wiederholt. Der Nettobarwert stellt zukünftige Erlösströme den heutigen und zukünftigen Kosten gegenüber. Weil beide Größen auf die Gegenwart abgezinst sind, gibt er den gegenwärtigen Wert einer Investition an. Je höher der Nettobarwert, umso rentabler ist die Investition aus einzelwirtschaftlicher Perspektive. Ist der Nettobarwert negativ, ergibt sich aus einer Investition ein erwarteter Verlust. Durch die Simulation einer Vielzahl möglicher Kombinationen der unsicheren Einflussgrößen kann der mögliche Ergebnisraum gut abgeschätzt werden.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Investition in allen Fällen beträchtliche betriebswirtschaftliche Verluste generiert (Abbildung 2). Der (gewichtete) gemittelte Nettobarwert beläuft sich auf rund minus 4,8 Milliarden Euro. Selbst im besten Fall beträgt der Nettobarwert ungefähr minus 1,5 Milliarden Euro. Unter allen Annahmen zu den unsicheren Variablen ist Atomkraft in keinem Fall rentabel. Dies gilt selbst für konservative Annahmen mit hohen Strompreisen, niedrigen Kapitalkosten und niedrigen spezifischen Investitionen.
Weitet man die Perspektive auf eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung aus, so wird ersichtlich, dass über die hohen privatwirtschaftlichen Kosten hinaus hohe externe Kosten und Risiken entlang der Wertschöpfungskette vorliegen. Dies betrifft Strahlen-Emissionen bei Uranbergbau, mögliche Strahlen-Emissionen beim Betrieb, den langwierigen und technich anspruchsvollen Rückbau, die ungeklärte Frage der langfristigen Lagerung von Atomabfällen sowie das Risiko der Proliferation (Kasten 2). Ein großer Teil dieser Kosten wird von der Allgemeinheit getragen. Zuletzt wird dies dadurch deutlich, dass Betreiber von AKWs nicht gegen die Risiken von Unfällen versichert sind. Weltweit gibt es keine Organisation, welche die Finanzdienstleistung einer Versicherung anbietet.Vgl. Jochen Diekmann (2011): Verstärkte Haftung und Deckungsvorsorge für Schäden nuklearer Unfälle – Notwendige Schritte zur Internalisierung externer Effekte. Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht 34 (2), 111–132.
Aufgrund der intensiven und langlebigen Radioaktivität sowie der damit verbundenen Risiken für menschliches Leben und die Natur kann Atomkraft nicht als saubere Energiequelle bezeichnet werden. Dies umfasst die gesamte Wertschöpfungskette. Bei der Gewinnung von Uranerz fallen großer Mengen radioaktiver Erzabfälle an, welche bis heute ganze Landstriche unbrauchbar machen.Beispiele sind der Uranabbau in der DDR (Gebiet Aue), in Frankreich sowie in Niger, wo das französische Staatsunternehmen Orano seit 40 Jahren Uran abbaut, vgl. Gabrielle Hecht (2017): Being Nuclear: Africans and the Global Uranium Trade. Cambridge, London. Durch die Spaltung von Uran und Plutonium bei der Stromerzeugung entsteht radioaktive Strahlung in Form von Teilchenstrahlung mit potentieller Gefährdung für die menschliche Gesundheit. Eine Vielzahl von Studien stellt einen Zusammenhang her zwischen der Ansiedlung von Atomkraftwerken und dem Risiko von Kindern in der Umgebung, an Krebs oder Leukämie zu erkranken.Vgl. Peter Kaatsch et al. (2007): Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie). Mainz, Salzgitter (online verfügbar).
Auch die nach dem Leistungsbetrieb verbleibende Strahlengefahr durch Kontamination von Anlagen und Gebäuden führt beim Rückbau von Atomkraftwerken zu erheblichen Risiken. Diese wurden bisher in ihrer technischen Komplexität und finanziellen Bewertung weit unterschätzt und in der energiepolitischen Diskussion weitgehend ignoriert. 70 Jahre nach Beginn der kommerziellen Nutzung von Atomkraftwerken zur Stromerstellung sind weltweit erst 19 der 173 abgeschalteten AKWs (Stand 2018) vollständig rückgebaut. Frühe Atomkraftländer mit großen Kapazitäten wie Großbritannien, Kanada und Frankreich haben noch keinen Reaktor rückgebaut. Der Rückbau von Calder Hall, dem ersten britischen kommerziellen AKW, das bereits 1953 in Betrieb genommen wurde, reicht weit in das 21. Jahrhundert hinein. Der Rückbau des französischen AKWs, Chinon-A soll bis 2056 andauern, mehr als ein Jahrhundert nach Baubeginn.Vgl. Schneider et al. (2018), a.a.O. In Deutschland werden bei den zwei größeren und weitgehend rückgebauten AKWs Gundremmingen-A und Würgassen noch Gebäude für die Zwischenlagerung oder die Verpackung von Atommüll genutzt. Somit können diese Gebäude noch nicht aus dem Atomrecht entlassen werden. Vgl. Ben Wealer, Jan Paul Seidel und Christian von Hirschhausen (2019): Decommissioning of Nuclear Power Plants and Storage of Nuclear Waste: Experiences from Germany, France, and the UK. In: Reinhard Haas, Lutz Mez und Amela Ajanovic (Hrsg.): The Technological and Economic Future of Nuclear Power. Wiesbaden, 261–286 (online verfügbar).
Ebenso wurde die Herausforderungen der langfristigen Lagerung atomarer Abfälle bisher weitgehend vernachlässigt, sodass bis heute kein langfristiges Lager für hochradioaktive Abfälle in Betrieb ist. In Ländern wie Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den USA läuft die Standortsuche bereits seit Jahrzehnten.Vgl. Achim Brunnengräber und Mirands Schreurs (2015): Nuclear Energy and Nuclear Waste Governance Perspectives after the Fukushima Nuclear Disaster. In: Achim Brunnengräber et al. (Hrsg.): Nuclear Waste Governance. An International Comparison. Wiesbaden; sowie Maria Rosaria Di Nucci et al. (2018): The Technical, Political and Socio-Economic Challenges of Governing Nuclear Waste. In: Achim Brunnengräber et al. (Hrsg.): Challenges of Nucelar Waste Governance. An International Comparison Volume II. Wiesbaden. Finnland ist das erste Land mit einer Baugenehmigung für ein langfristiges Lager, welches in den 2020er Jahren in Betrieb gehen könnte. In Deutschland wurde zwar mit dem Standortauswahlgesetz von 2016 ein neuer, umfassender Anlauf gemacht. Dieser Prozess wird jedoch – sollte er erfolgreich ausgehen – noch viele Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Bis dahin stellt die Zwischenlagerung hoch radioaktiver Abfälle ein hohes Risiko an einer großen Anzahl von Orten dar.
Obwohl schwere Reaktorunfälle selten sind, sind ihre Folgen katastrophal. So ermittelten WissenschaftlerInnen der Max-Planck-Gesellschaft ein Jahr nach der Fukushima-Katastrophe, dass ähnliche Unfälle alle zehn bis 20 Jahre passieren könnten, 200 Mal häufiger als bisher angenommen.Vgl. J. Lelieveld, D. Kunkel, M.G. Lawrence (2012): Global Risk of Radioactive Fallout after Major Nuclear Reactor Accidents. Atmospheric Chemistry and Physics 12 (9). 4245–4258 (online verfügbar). Beinahe-Unfälle bzw. Vorboten von möglichen Kernschmelzen sind wesentlich häufiger als von der Atomwirtschaft behauptet.Die Atomregulierungsbehörde NRC in den USA dokumentiert für den Zeitraum 2006–2016 61 Ereignisse und 102 Zustände, die einen möglichen Zusammenbruch des Systems hervorrufen und so zu einer Kernschmelze hätte führen können. Unabhängige ExpertInnen kommen jedoch zu einer anderen Analyse. So hat die NRC nicht nur die drei riskantesten Beinahe-Unfälle des letzten Jahrzehnts nicht registriert, sondern auch weitere 100 Beinahe-Unfälle. Vgl. Jim Riccio (2016): Nuclear Near Misses: A Decade of Accident Precursors at U.S. Nuclear Plants. Washington DC (online verfügbar). Besonders gefährdet sind hierbei ältere Reaktoren. Weltweit wird die Verlängerung der Laufzeit alter Reaktoren von 40 auf 50 oder bis zu 80 Jahre diskutiert.Vgl. Steve Clemmer et al. (2018): The Nuclear Power Dilemma. Declining Profits, Plant Closures, and the Threat of Rising Carbon Emissions. Report commissioned by Union of Concerned Scientists. Cambridge, USA (online verfügbar); Jan Haverkamp (Hrsg.) (2014): Lifetime extension of ageing nuclear power plants: Entering a new era of risk. Report commissioned by Greenpeace (online verfügbar). Da Atomkraftwerke auf eine Laufzeit von 30 oder 40 Jahren ausgelegt sind, führt dies zu erheblicher Materialbelastung und -ermüdung und erhöht somit die Unfallgefahr erheblich.Vgl. Haverkamp (2014), a.a.O., S. 10. Als Beispiele können die Problemreaktoren in Tihange (Belgien) und Fessenheim (Frankreich) dienen, beide in direkter Grenznähe zu Deutschland. Auch das AKW Dukovany in der Slowakei, 100 Kilometer nördlich von Wien gelegen, erregt Besorgnis: Zum einen ist es wie viele frühere Sowjet-Reaktoren ohne Sicherheitsbehälter gebaut worden und somit besonders risikoreich.Als Sicherheitsbehälter oder auch Containment wird die gasdichte Umhüllung um einen Kernreaktor und, abhängig von der Reaktortechnik, dessen Kreislauf- und Nebenanlagen bezeichnet. Ziel ist es, dass nach einem Störfall keine radioaktiven Stoffe in die Umgebung entweichen können. Zum anderen erhöht sich das Unfallrisiko durch die unbegrenzte Laufzeitverlängerung von Block 1, der ursprünglich 2025 nach vierzigjähriger Laufzeit abgeschaltet werden sollte.
Ein weiteres, wichtiges Risiko im Kontext der Atomkraft ist die Proliferation, also die Verbreitung von Atomwaffen. Der Acheson-Lilienthal Report konstatierte bereits 1946, dass die Wertschöpfungsketten der Entwicklungen der Atomenergie für friedliche Zwecke und für Atomwaffen zum Großteil austauschbar und voneinander abhängig sind.Vgl. Chester I. Barnard et al. (1946): A Report on the International Control of Atomic Energy. Washington DC. (online verfügbar). In der letzten Jahren finden Studien wieder zu dieser Erkenntnis zurück.Vgl. Andy Stirling und Phil Johnstone (2018): A Global Picture of Industrial Interdependencies Between Civil and Military Nuclear Infrastructures. SPRU Working Paper Series SWPS-2018-13 (online verfügbar). Die Erzeugung von Strom durch Atomkraft ist die wichtigste Triebkraft für die Proliferation bzw. Verbreitung von Atomwaffen und radioaktivem Material.Amory B. Lovins, L. Hunter Lovins und Leonard Ross (1980): Nuclear Power and Nuclear Bombs. Foreign Affairs 58 (5), 1137–1177 (online verfügbar). Einige Länder wie Indien, Pakistan, Nordkorea aber auch Israel haben sich unter dem Vorwand des „zivilen“ Einsatzes von Atomkraft Atomwaffen beschafft.Lutz Mez (2012): Nuclear Energy–Any Solution for Sustainability and Climate Protection? Energy Policy 48, 56–63 (online verfügbar). Wenn eine nukleare Infrastruktur vorhanden ist und das Material für Waffen in Anreicherungs- oder Wiederaufbereitungsanlagen, in Militärreaktoren, sogenannten Dual-Use-Reaktoren, oder Schnellen Brütern produziert wird, ist es nur eine Frage des politischen Willens bis zur Entscheidung zum Bau von Atomwaffen.
Zuletzt handelt es sich bei Atomkraft unter Berücksichtigung des gesamten Lebenszyklus (Bau, Betrieb, Rückbau der Anlage, Uranabbau, Brennelemente Herstellung) mitnichten um eine CO2-freie Technologie. Eine Metastudie ermittelt einen Mittelwert für die Treibhausgas-Emissionen von Atomkraftwerken von 66 Gramm CO2-Äquivalenten pro kWh. Dies entspricht etwa 20 Prozent der Emissionen eines Gaskraftwerks.Benjamin K. Sovacool (2008): Valuing the greenhouse gas emissions from nuclear power: A critical survey. Energy Policy 36 (2008). 2950–2963 (online verfügbar).
In den USA begrenzt das Price-Anderson-Gesetz die Haftung der US-Atomindustrie im Falle eines Unfalls auf 9,1 Milliarden US-Dollar. Dies sind weniger als zwei Prozent der bis zu 560 Milliarden US-Dollar, die einen schwere Atomkatastrophe an Schaden anrichten könnte.Vgl. NIRS und WISE (2005): Nuclear Power: No Solution to Climate Change. Nuclear Monitor 621/622 (online verfügbar). Die restlichen 98 Prozent der Kosten müssten von der Allgemeinheit getragen werden. Das Price-Anderson-Gesetz diente als Blaupause für die nukleare Unfallgesetzgebung in den meisten Ländern mit Atomreaktoren sowie für internationale Konventionen. Im Falle eines Reaktorunfalls wird demnach nur der Anlagenbetreiber haftbar gemacht. Dies reduziert die Kosten für den Bau eines Reaktors, da somit alle Lieferanten für fehlerhafte Anlagenteile, die möglicherweise später zur Unfallursache erklärt würden, vom möglichen Risiko entlastet werden.Vgl. Tomas Kaberger (2019): Economic Management of Future Nuclear Accidents. In: Reinhard Haas, Lutz Mez und Amela Ajanovic (Hrsg.): The Technological and Economic Future of Nuclear Power. Wiesbaden, 211 – 220 (online verfügbar).
Eine Studie des Versicherungsforums Leipzig hat die potenziellen Prämien für eine adäquate Unfallversicherung für AKW-Betreiber ermittelt.Vgl. Versicherungsforum Leipzig (2011): Berechnung einer risikoadäquaten Versicherungsprämie zur Deckung der Haftpflichtrisiken, die aus dem Betrieb von Kernkraftwerken resultieren. Eine Studie im Auftrag des Bundesverband Erneuerbare Energie e.V. (BEE). Leipzig (online verfügbar). Diese lägen zwischen vier und 67 Euro je Kilowattstunde (kWh). Zum Vergleich: Der aktuelle Endkundenpreis für Strom liegt bei ungefähr 0,30 Euro pro kWh, also um den Faktor zehn bis 200 niedriger.
Atomkraftbefürworter verweisen gerne auf laufende technologische Entwicklungen, die in Zukunft zu einer Wirtschaftlichkeit von Atomkraft führen könnten. Hierzu zählen insbesondere sogenannte AKWs der vierten Generation sowie Mini-AKWs (small modular reactors, SMRs). Diese Konzepte sind keineswegs neu sondern gehen beide auf die Frühphase der Atomkraft in den 1950er Jahren zurück.Vgl. Weinberg (1959), a.a.O. Damals wie heute gibt es keine Perspektiven für eine wirtschaftliche Durchsetzung dieser Technologien.
Reaktoren der vierten Generation sind überwiegend sogenannte Schnelle Brüter, welche zwar eine stärkere Ausnutzung des Kernbrennstoffs ermöglichen, sich jedoch bis heute als technisch schwer kontrollierbar und ökonomisch unrentabel erweisen.Vgl. Amory B. Lovins (1973): The Case against the Fast Breeder Reactor: An Anti-Nuclear Establishment View. Bulletin of the Atomic Scientists 29 (3), 29–35 (online verfügbar); Thomas B. Cochran et al. (2010): It’s Time to Give Up on Breeder Reactors. Bulletin of the Atomic Scientists 66 (3), 50–56 (online verfügbar). Die Mehrzahl der größeren Schnellen Brüter, die in den 1970er Jahren entwickelt wurden, ist bereits abgeschaltet.Hierzu zählen z.B. Superphénix in Frankreich oder Monju in Japan. Das deutsche Projekt „Schneller Brüter“ Kalkar, welches nie zur Ausführung kam, konnte immerhin in einen Vergnügungspark konvertiert werden, dem Wunderland Kalkar (online verfügbar). Darüber hinaus fördert dieser Reaktortyp die Proliferation von hochangereichertem, waffenfähigem Uran bzw. Plutonium im Kontext der Wiederaufarbeitung von Brennstoffen. Dies macht das Material unmittelbar für militärische Zwecke zugänglich.Lovins et al. (1980), a.a.O. Auch von anderen Typen der vierten Generation sind keine technologischen bzw. ökonomischen Durchbrüche zu erwarten.Vgl. M.V. Ramana (2016): The checkered operational history of high-temperature gas-cooled reactors. Bulletin of the Atomic Scientists 72 (3), 171–179 (online verfügbar); Benjamin K. Sovacool und M.V. Ramana (2015): Back to the Future: Small Modular Reactors, Nuclear Fantasies, and Symbolic Convergence. Science, Technology, & Human Values 40 (1), 96–125 (online verfügbar).
Die SMRs („AKWs für den Vorgarten“) gehen auf Entwicklungen der 1950er Jahre zurück, insbesondere den Versuch, die Atomkraft als Antriebstechnologie für Militär-U-Boote nutzbar zu machen. Jedoch sind auch neuere Ansätze zur Entwicklung von SMRs nicht als Ersatz für größere Anlagen geeignet. Zum einen stellen sich, wie bei allen AKWs, bis heute ungelöste Fragen der Sicherheit. Da die Standardisierung von Reaktoren ein Schlüsselparameter bei der Herstellung von SMR ist, müssten zum anderen weltweit Vorschriften harmonisiert werden, was kurz- und mittelfristig schwierig oder gar unmöglich ist.Vgl. Tristano Sainati, Giorgio Locatelli und Naomi Brookes (2015): Small Modular Reactors: Licensing Constraints and the Way Forward. Energy 82, 1092–1095 (online verfügbar).
Die am DIW Berlin erarbeiteten wirtschaftshistorischen und betriebswirtschaftlichen Analysen zeigen, dass Atomkraft in der Vergangenheit privatwirtschaftlich unrentabel war, es in der Gegenwart ist und auch zukünftig sein wird.
Zwischen 1951 und 2017 wurden 674 Atomreaktoren gebaut, jedoch keiner unter wettbewerblichen Bedingungen. In den Fällen, in denen privates Kapital in die Atomwirtschaft floss, wurde es durch hohe Subventionen angereizt. Eine Wende von der Militär-Atomwirtschaft der Nachkriegszeit in eine kommerzielle Nutzung erfolgte nicht, sodass der Boom staatlich finanzierter AKWs bereits in den 1960er Jahren zum Erliegen kam. Die betriebswirtschaftliche Investitionsrechnung bestätigt den Befund: Eine Investition in einen neues, exemplarisches AKW mit 1000 MW elektrischer Leistung führt durchschnittlich zu Verlusten knapp fünf Milliarden Euro. Neben fehlender Wirtschaftlichkeit liegen hohe Risiken in Bezug auf die Proliferation waffenfähigen Materials und die Freisetzung von Strahlung vor, wie die Unfälle in Harrisburg (1977), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) zeigen. Atomkraft stellt daher keine relevante Option für eine wirtschaftliche, klimafreundliche und nachhaltige Energieversorgung dar.
Die Energie-, Klima- und Industriepolitik sollte daher auf einen raschen Ausstieg aus der Atomkraft hinwirken. Von Subventionen oder besonderen Tarifierungen für Laufzeitverlängerungen ist abzuraten, weil sie das risikobehaftete und unwirtschaftliche System fortschreiben. Dies gilt natürlich umso stärker für Neubauten. Die Budgets für Forschung an neuen Reaktortypen sollten gestrichen werden.
Das Narrativ „Atomkraft für Klimaschutz“ ist alt, aber heute genauso unzutreffend wie in den 1970er Jahren. Die Beschreibung von Atomkraft als „saubere“ Energie ignoriert die erheblichen Umweltrisiken und nicht zu vernachlässigenden Emissionen über die Prozesskette hinweg. Die deutsche Bundesregierung sollte in der EU und anderen Organisationen mit deutscher Beteiligung diesem Narrativ entgegenwirken.
Themen: Klimapolitik, Gesundheit, Energiewirtschaft
JEL-Classification: L51;L95;Q48
Keywords: nuclear power, net present value, profitability, economic history
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-30-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/202020