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Die Zeit ist reif für einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik: Kommentar

DIW Wochenbericht 34 / 2019, S. 604

Claus Michelsen

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Die deutsche Wirtschaft ist im zweiten Quartal leicht geschrumpft, wie das Statistische Bundesamt vergangene Woche bekannt gab. Dies hat sich in den vergangenen Monaten bereits mehr und mehr abgezeichnet. Die Unsicherheit aus dem in Washington angezettelten Handelskonflikt zwischen den USA und China ist Gift für die Weltwirtschaft, von der Deutschlands Exportmodell so sehr abhängt. Die Exporte nach Fernost waren bislang aber vergleichsweise stabil – die viel akuteren Probleme liegen vor der Haustür: Die drohenden Verwerfungen und die Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Brexit wirken sich bereits jetzt dämpfend auf die deutschen Exporte in das Vereinigte Königreich aus. Und auch die Nachfrage aus Italien hat – wohl auch infolge der dortigen politischen Situation – spürbar nachgelassen.

Sinkt das Bruttoinlandsprodukt auch im laufenden dritten Quartal, befände sich die deutsche Wirtschaft in einer technischen Rezession – zum ersten Mal seit der Jahreswende 2012/2013. Entsprechend groß ist die Aufregung – nicht zu Unrecht, denn die Konjunktur hat sich hierzulande tatsächlich spürbar abgekühlt, auch wenn die Binnenwirtschaft nach wie vor solide läuft, der Arbeitsmarkt noch ganz gut dasteht und auf den Baustellen weiterhin ordentlich rangeklotzt wird.

Letztlich ist es aber gar nicht wirklich entscheidend, ob die deutsche Wirtschaft tatsächlich in eine technische Rezession rutscht oder knapp an ihr vorbeischrammt. So oder so ist die Zeit mehr denn je reif, einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik einzuleiten. Die Bundesregierung sollte die Spielräume in den öffentlichen Kassen sinnvoll nutzen und eine Agenda für die Modernisierung des Standorts Deutschland verfolgen. Dies würde nicht nur die Wachstumsperspektiven verbessern, sondern auch das Vertrauen der Unternehmen stärken, was deren Investitionsbereitschaft erhöht und kurzfristig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stützt. Ein solches Programm bestünde aus drei Teilen.

Erstens müsste das Dogma der schwarzen Null überwunden werden. Denn die Gelegenheit ist dank historisch niedriger Zinsen günstig wie nie zuvor, um wichtige Investitionen, die die deutsche Wirtschaft zukunftsfest machen, umzusetzen. Der Staat sollte mehr Geld ausgeben, um beispielsweise Projekte der Energie- und Mobilitätswende, im Bereich der Digitalisierung, aber auch auf dem Wohnungsmarkt voranzubringen. Die öffentlichen Investitionen sollten dafür nicht nur für ein oder zwei, sondern für zehn oder 15 Jahre um ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder 30 Milliarden Euro pro Jahr erhöht werden, bestenfalls abgesichert durch eine langfristige politische Vereinbarung mit den Oppositionsparteien. Nicht abgerufene Gelder sollten in einen Investitionsfonds überführt werden. Eine solch langfristige Perspektive würde Planungssicherheit bei allen Beteiligten schaffen. In diesem Zusammenhang sollte auch die Schuldenbremse reformiert oder gar abgeschafft werden, denn sie droht immer mehr zu einer Investitionsbremse zu werden. Sie fokussiert allein auf die Staatsausgaben und ignoriert die öffentlichen Vermögen – was nicht zielführend ist, wenn die Wachstumsperspektiven der deutschen Wirtschaft langfristig in Takt sein sollen.

Als zweites Element sollten private Investitionen gefördert werden. Dabei helfen mehr öffentliche Investitionen, die private nach sich ziehen. Zusätzlich sollten aber auch die Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionsausgaben verbessert und steuerliche Anreize für Innovationen geschaffen werden. Und schließlich brauchen drittens die Kommunen mehr Unterstützung: Diese stellen einen großen Teil der Infrastruktur in Deutschland bereit, können vielfach aber aufgrund hoher Schulden diesen Aufgaben nicht mehr vollumfänglich nachkommen. Sie sollten mithilfe des Bundes entschuldet werden, damit vor allem die besonders klammen Kommunen die finanzielle Kraft für Investitionen zurückerhalten. Dabei geht es auch darum, die Regionen in Deutschland nicht noch weiter auseinanderdriften zu lassen, Stichwort gleichwertige Lebensbedingungen.

Die Zeit ist reif für einen Kurswechsel, technische Rezession hin oder her.

Dieser Text ist in Teilen als Gastbeitrag von Claus Michelsen, DIW-Präsident Marcel Fratzscher und Christian Odendahl, Chefökonom am Centre for European Reform (CER), am 12. August 2019 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.

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