DIW Wochenbericht 46 / 2019, S. 854
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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem jüngsten Urteil sowohl die Rechtmäßigkeit von Mitwirkungspflichten von Langzeitarbeitslosen bestätigt als auch die maximale Höhe von Kürzungen des Leistungsbezugs festgelegt. Demnach dürfen nach Verkündung des Gesetzes künftig keine Sanktionen mehr verhängt werden, die die Leistungen um mehr als 30 Prozent mindern, da sie mit Artikel 1 unseres Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) als unvereinbar erklärt wurden, also als verfassungswidrig. Auch die früher geltende starre Sanktionsdauer der Leistungsminderungen von drei Monaten kann durch vermehrte Prüfungen von außergewöhnlichen Härtefällen künftig verkürzt werden.
Die Kürzungen sollen nach Ansicht des Gerichts nicht dazu dienen, „regressiv Fehlverhalten zu ahnden“, sondern zur Mitwirkung anreizen, damit die existenzielle Bedürftigkeit vermieden und überwunden wird. Das bei Einführung der Hartz-IV-Gesetze mitunter vielfach geäußerte Handlungsprinzip „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ wurde staatlichen Institutionen nunmehr unmissverständlich untersagt.
Ob sich die von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil nach Verkündung des Urteils geäußerte Hoffnung erfüllt, dass nunmehr auch Rechtssicherheit sowie soziale Befriedung geschaffen wurde, wird primär davon abhängen, wie sich die Verwaltungspraxis der Jobcenter tatsächlich ändert.
Das Urteil könnte auch für die Große Koalition Anlass sein, gesetzliche Korrekturen vorzunehmen. Ohne neue gesetzliche Vorgaben wird die Arbeit der Jobcenter kompliziert und werden sicherlich viele Fälle vor Gericht enden, da künftig Sanktionen nicht mehr „zwingend“ für Jobcenter sind und Mitarbeitende der Jobcenter „außerordentliche Härten“ und „erkennbare Ausnahmekonstellationen“ bei LeistungsempfängerInnen berücksichtigen sollen. Einige Fragen wurden vom BVerfG nicht geklärt. Zum einen ist noch zu prüfen, ob Kürzungen bei Meldeversäumnissen – wenn Hartz-IV-Beziehende nicht zu Terminen erscheinen – verhältnismäßig und im Sinne der Urteilsbegründung wirksam sind, die Bedürftigkeit zu überwinden. Zum anderen müsste auch noch geklärt werden, ob die noch schärferen Sanktionen gegenüber unter 25-jährigen erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Auch der Abbruch einer Trainingsmaßnahme nach bereits einer Woche sollte nicht länger pauschal als sanktionsbewehrte Pflichtverletzung interpretiert werden. Hierzu benötigen die Jobcenter nunmehr „humanere“ gesetzliche Handlungsanleitungen, die vermutlich auch geringere Bürokratiekosten zur Folge haben.
Das BVerfG hat angemahnt, dass die Wirksamkeit von Sanktionen bisher nicht hinreichend erforscht sei. Zu Recht meldete das Gericht Zweifel an, dass Sanktionen „alternativlos“ und deren schrittweise Steigerung hinsichtlich ihrer Höhe gerechtfertigt sind. Die Politik muss dementsprechend prüfen, ob es humanere Formen beispielsweise arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, verbesserte Qualifizierungsangebote oder geringere Transferentzugsraten bei Aufstockenden gibt, die wirksamer als Sanktionen sind.
Mit welchen Methoden man eine solche Wirksamkeit von sozialpolitischen Maßnahmen wissenschaftlich erforschen kann, haben die diesjährig ausgezeichneten WirtschaftsnobelpreisträgerInnen eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Anhand wissenschaftlich begleiteter Feldexperimente mit einer Gruppe, die von Maßnahmen betroffen ist, und einer Kontrollgruppe könnte man innerhalb weniger Jahre die Wirksamkeit sowohl von Sanktionierungen, aber genauso auch die Wirksamkeit von vollkommener Sanktionsfreiheit – oder bedingungsloser Gewährung von Geldleistungen – empirisch ermitteln. Nur eine zweifelsfrei evidenzbasierte Begründung diverser Varianten von Sanktionen wird künftig gerichtsfest Grundrechte einschränken können.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Arbeit und Beschäftigung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-46-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/206705