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Evolution statt Revolution: Interview

DIW Wochenbericht 47 / 2019, S. 864

Stefan Bach, Erich Wittenberg

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Herr Bach, in diesem Jahr wird das deutsche Steuersystem 100 Jahre alt. Wie sah damals der Start aus? Vor 100 Jahren war der Erste Weltkrieg verloren und der Staat in eine große Finanzklemme geraten. Das Steuersystem war veraltet und vor diesem Hintergrund gab es eine umfassende Steuer- und Finanzreform, die bis heute unser Steuersystem prägt. Man hat eine moderne Einkommensteuer eingeführt mit schon damals sehr hohen Steuersätzen, man hat die Unternehmensbesteuerung reformiert und auch die indirekten Steuern ausgeweitet. Die Steuerbelastung verdoppelte sich und wurde bis zum Zweiten Weltkrieg weiter erhöht.

Welche Elemente dieser Reform verloren im Laufe der Zeit an Bedeutung? Seit den 1950er Jahren bewegt sich die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung auf heutigem Niveau. Ausgeweitet wurde die soziale Sicherung und deren Finanzierung über Sozialbeiträge. Auffällig ist, dass in früheren Epochen die vermögensbezogenen Steuern eine viel größere Bedeutung hatten. Seit den 1950er Jahren hat der Anteil dieser Steuern am Steueraufkommen deutlich abgenommen.

Wie hat sich die gesamtwirtschaftliche Steuerquote in den letzten 100 Jahren entwickelt? Die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt stieg bis zum Zweiten Weltkrieg auf über 24 Prozent. Sie hat sich seitdem relativ konstant entwickelt und schwankte meist zwischen 22 und 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Sozialbeiträge haben sich seitdem verdoppelt und machen heute einen beträchtlichen Teil der gesamtwirtschaftlichen Einnahmen aus.

Was war die grundlegendste Änderung, beziehungsweise Reform des bestehenden Systems in den letzten 100 Jahren? Seit den 1950er Jahren gab es immer wieder größere Diskussionen über grundlegende Steuerreformen. Tatsächlich gab es auch eine Reihe von Reformen in den einzelnen Elementen des Steuersystems, etwa die Mehrwertsteuerreform in den 1960er Jahren, als man auf das heutige System übergegangen ist. Dann gab es in den 1970er Jahren immer wieder Diskussionen zur Reform der Einkommensteuer und der Unternehmensbesteuerung und dann in den 1990er und 2000er Jahren die Reformen unter Rot-Grün, bei denen die Steuersätze gesenkt und die Bemessungsgrundlagen verbreitert wurden.

Wie geht es weiter? Die Geschichte zeigt, dass grundlegende Reformen schwierig sind, und dass gleichzeitig der wirtschaftliche und soziale Wandel immer wieder neue Herausforderungen mit sich bringt. Heute sind das die Digitalisierung, die Internationalisierung, die demographische Alterung oder der Klimawandel. Das sind alles Dinge, die sich entweder unmittelbar auf das Steuersystem auswirken oder auf die Finanzierungssituation des Staates und damit auf den Bedarf von Steuern und Abgaben.

Sollte das bestehende System weiterentwickelt werden oder braucht es ein vollkommen anderes? Eine echte Revolution des Steuersystems ist nur in besonderen Situationen möglich und sinnvoll, wie das vor 100 Jahren der Fall war. Seitdem hat sich das Steuersystem evolutionär weiterentwickelt und das wird es mit Blick auf die Herausforderungen, die wir derzeit sehen, auch künftig tun. Es gibt natürlich die Sehnsucht nach der grundlegenden Steuerreform und es gab immer wieder Ansätze, sozusagen am grünen Tisch ein gerechteres und effizienteres Steuersystem neu zu entwickeln. Das ginge aber mit großen politischen und wirtschaftlichen Problemen einher. Daher Evolution statt Revolution.

Das Gespräch führte Erich Wittenberg.

O-Ton von Stefan Bach
Evolution statt Revolution - Interview mit Stefan Bach

Stefan Bach

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Staat

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