DIW Wochenbericht 7 / 2020, S. 100
get_appDownload (PDF 179 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 3.05 MB)
Zum ersten Mal wird in der deutschen Nachkriegsgeschichte ein Kandidat der Freien Demokratischen Partei (FDP) mit den Stimmen einer radikal rechten Partei zum Ministerpräsidenten gewählt. Es wäre klüger gewesen, dankend abzulehnen, anstatt die Wahl zum Ministerpräsidenten spontan anzunehmen. Gewiss, die Ablehnung einer solchen Wahl bedarf der Kraft der Zurückhaltung. Und das umso mehr, als die FDP nicht alle Tage die Chance hat, in Deutschland einen Ministerpräsidenten zu stellen. Hätte Thomas Kemmerich Charakterstärke bewiesen, wäre Deutschland einiges erspart geblieben.
Leider hat der Kandidat der FDP die Wahl angenommen. Die Folgen sind ein politisches Beben und ein weiterer Riss, der sich nun durch die Republik zieht. Aber nicht nur das. Viele Partnerländer blicken dieser Tage sorgenvoll nach Deutschland. Erst Ende Januar, also keine zwei Wochen vor diesem Tabubruch, hatte der deutsche Bundespräsident in Yad Vashem ein Versprechen des „Niemals wieder“ gegeben, wonach wir unter anderem „dem Gift des Nationalismus trotzen“ werden. Da ist es kein Wunder, wenn im Ausland kritisch hinterfragt wird, wie lange dieses Versprechen Bestand haben wird.
Die größte Gefahr eines solchen Versprechens liegt in seiner langsamen Erosion. Mit der letztwöchigen Wahl eines Ministerpräsidenten mit der Stimme eines mittlerweile sogar in der Bild-Zeitung als Neonazi bezeichneten Politikers setzt aus der Sicht vieler politischer Kommentatoren unserer Partnerländer nun die Erosion des von Bundespräsident Steinmeier gegebenen Versprechens wahrnehmbar ein.
Hierin liegt nicht nur ein politisches und gesellschaftliches Problem, hierin liegt auch ein ökonomisches Risiko. Denn: es geht um nichts weniger als um das Vertrauen in die zukünftige Entwicklung Deutschlands – ein unschätzbar hohes Gut, gerade auch im wirtschaftlichen Kontext.
Der zukünftige Wohlstand nicht nur Thüringens, sondern ganz Deutschlands hängt davon ab, dass es als Wirtschaftsstandort für Unternehmen attraktiv bleibt. Dafür braucht es Offenheit für Innovation und für Freihandel, offene Arbeitsmärkte und Kapitalströme. Ein Beispiel: Viele neue Unternehmen sind auf Plattformökonomien angewiesen. Für sie ist der Zugang von Fachkräften aus aller Welt nach Deutschland nicht nur wegen des Fachkräftemangels essentiell, ein offener Arbeitsmarkt ist vielmehr zentraler Bestandteil ihres Geschäftsmodells.
Insofern beschädigt die Wahl eines Ministerpräsidenten mit Stimmen einer Partei, die dezidiert gegen eine solche „offene Wirtschaftspolitik“ ist und vielmehr dafür wirbt, „den Fachkräftenachwuchs aus eigener Kraft großzuziehen“, das Vertrauen in die zukünftige politische Entwicklung nicht nur Thüringens, sondern ganz Deutschlands. Entsprechend ist nicht auszuschließen, dass zukünftig gerade innovative Unternehmen, auf die Deutschland angewiesen ist und die ihren Standort sehr flexibel auswählen können, ihre Standortentscheidung in Richtung Deutschland überdenken werden.
Naturgemäß wird man sich vor allem im Ausland fragen: Was kommt als nächstes? Wann wird das nächste Tabu gebrochen, wenn es um politischen Machterhalt geht? Wenn heute in Thüringen, warum dann nicht morgen im Bund? Solche Befürchtungen lassen sich gerade im Ausland nur sehr schwierig wieder einfangen und erfahren durch den angekündigten Rücktritt der CDU-Vorsitzenden noch zusätzliche Nahrung. Vor diesem Hintergrund ist das einhellige Entsetzen in Berlin und die Aussage der Bundeskanzlerin, dass der Tabubruch in Thüringen „unverzeihlich“ sei, ein wichtiges Zeichen. Es bleibt zu hoffen, dass die Wahl von Thüringen nur ein „Unfall“ war und nicht ein Versuchsballon für den nächsten Tabubruch. Wichtig wäre dafür allerdings auch, dass eine Regierungsbildung in Thüringen schnell möglich wird und nicht am weiteren Taktieren der tatsächlich bürgerlichen Parteien scheitert. Nach rascher Regierungsbildung sieht es derzeit leider jedoch nicht aus, was die politische Verdrossenheit der Bürger in Deutschland weiter erhöhen dürfte. Es wäre auch wirtschaftlich wichtig, wenn Thüringen rasch zu stabilen politischen Verhältnissen fände.
Themen: Regionalwirtschaft
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-7-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/219338