DIW Wochenbericht 11 / 2020, S. 173
Ben Wealer, Erich Wittenberg
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Herr Wealer, welche Rolle spielt die Atomkraft aktuell in der globalen Primärenergieversorgung? Aktuell spielt die Atomkraft eine geringe Rolle. Im Jahr 2018 hatte sie einen Anteil von rund vier Prozent an der Primärenergieversorgung. Auch der Anteil an der globalen Stromversorgung ist mit aktuell rund zehn Prozent erstaunlich gering. Den maximalen Anteil an der Stromversorgung hatte die Atomkraft 1996 mit 17 Prozent. Seitdem ist er kontinuierlich gesunken.
Wie entwickelt sich die Zahl der Atomkraftwerke? Weltweit sind aktuell 417 Atomkraftwerke am Netz. Die Höchstphase der Neubauten war in den 60er- und 70er-Jahren, mit 35 bis 37 Neubauten pro Jahr. Seitdem ist die Zahl gesunken. Wichtig ist anzumerken, dass der Atomboom dieser Zeit bereits vor Three Mile Island und Tschernobyl zum Erliegen kam. Es waren also nicht die Atomunfälle, die die Industrie geschwächt haben, sondern die Stagnation begann schon vorher.
Wie ist es um der Zustand der bestehenden Atomkraftwerke bestellt? Die bestehenden Atomkraftwerke werden immer älter. Aktuell liegt der Durchschnitt bei rund 30 Jahren. Die meisten Kraftwerke davon sind auf eine technische Lebensdauer von 40 Jahren ausgelegt. Teilweise werden aber auch Laufzeitverlängerungen vergeben. Aber der Trend, dass mehr Kraftwerke abgeschaltet werden als tatsächlich ans Netz kommen, wird sich in den nächsten Jahren verstärken. Bis 2030 gehen wir davon aus, dass mindestens noch einmal 207 Kraftwerke vom Netz gehen.
Oft hört man, dass viele Länder ein großes Interesse an der Neueinführung der Atomkraft hätten. Was ist da dran? Das ist ein weit verbreitetes Narrativ der Industrie. Aktuell haben wir nur in vier Ländern Neubauten. Das sind Belarus, die Türkei, Bangladesch und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Was sind ihre Motive? Oft wird gesagt, dass man aus Klimaschutzgründen auf Atomkraft umsteigen sollte, was einfach nicht stimmt. Man kann schon sagen, dass Atomstrom CO2-ärmer ist als beispielsweise Kohlestrom, aber es handelt sich hier mitnichten um eine saubere Energiequelle. Oft wird auch die Grundlast oder eine sicherere und kostengünstigere Energieproduktion angeführt. Aber auch das stimmt nicht, denn Atomkraft ist die teuerste Art Strom zu produzieren.
Was könnten die wahren Gründe sein, wenn sich Atomkraft nicht rechnet? Eine wichtige Motivation für diese Länder ist immer auch Prestigedenken. Wir haben weltweit nur 31 Länder, die Atomstrom produzieren. Das ist eigentlich ein elitärer Club von Industrienationen, und natürlich haben viele Länder die Absicht, in diesen Club reinzukommen. Andere Motivationen können auch militärisch geprägt sein. Auffallend ist dabei, dass es sich bei den Neueinsteigern um weniger demokratische Staaten handelt.
Wie sieht es auf der Angebotsseite aus? Hier lässt sich eine Verschiebung der Schwerpunktländer beobachten. Einige der klassischen Anbieter, zum Beispiel aus Frankreich oder den USA, sind pleite. Das Unternehmen, das heute hauptsächlich Atomkraftwerke anbietet, ist das russische Staatsunternehmen Rosatom, und das dominiert heute fast den gesamten Reaktormarkt.
Wie sollte sich Deutschland in dieser Situation verhalten? Deutschland sollte sich in den internationalen Organisationen dafür einsetzen, dass man die Perspektive wechselt. Man sollte sich nicht auf den möglichen Neubau von Kraftwerken fokussieren, sondern den Blick auf die Bereiche legen, die in den nächsten Jahrzehnten relevant sind. Das sind vor allem der Rückbau und die ungelösten Fragen der Lagerproblematik. Hierauf soll der Fokus liegen und nicht auf etwaigen Neubauten in den verschiedensten Ländern.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Konjunktur, Energiewirtschaft
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-11-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/219355