DIW Wochenbericht 17 / 2020, S. 311
Alexander S. Kritikos, Erich Wittenberg
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Herr Kritikos, Sie haben untersucht, wie sich das Wahlverhalten zwischen den Bundestagswahlen 2013 und 2017 verändert hat. Müssen wir uns von dem Begriff der Volkspartei verabschieden? Wenn es darum geht, dass eine Partei von einem sehr großen Anteil der Bevölkerung gewählt wird, dann ja, denn SPD und CDU kommen zusammen nur noch auf etwas mehr als 50 Prozent, sie waren auch einmal bei 90 Prozent. Wenn es darum geht, dass die Wählerschaft einer Partei den Querschnitt der Bevölkerung abbildet, dann nein, denn die Wählerschaft von Union und SPD ist der Zusammensetzung aller Wahlberechtigten immer noch sehr ähnlich.
Welche Parteien konnten von den Stimmenverlusten der Unionsparteien profitieren? Folgt man der Vorstellung, dass die Wählerschaft vornehmlich innerhalb eines Lagers wechselt, würde die Unionswählerschaft wohl in erster Linie zur AfD abwandern. Das konnten wir aber nur teilweise beobachten. 25 Prozent der von der Union abgewanderten Wählerschaft ist bei der AfD gelandet, alle anderen sind zu anderen Parteien gegangen. Am stärksten hat die FDP profitiert.
Wohin ist die Wählerschaft der SPD abgewandert? Die ehemalige Wählerschaft der SPD hat sich noch breiter über alle Parteien gestreut. Man würde auch hier vermuten, dass sie stärker zu den Grünen und zur Linken abwandern, aber das können wir so nicht bestätigen. Union und FDP haben mehr Stimmen von der SPD-Wählerschaft abgezogen.
Die AfD hat in der kurzen Zeit ihres Bestehens starke Veränderungen durchgemacht. Trifft das auch auf ihre Wählerstruktur zu? Definitiv. Die AfD war 2013 noch eher eine Partei der Akademikerinnen und Akademiker sowie der Menschen im öffentlichen Dienst. Heutzutage ist die AfD vor allem eine Ostpartei, sowie eine Partei, die überwiegend von Männern gewählt wird und von Menschen, die in einfachen Berufen arbeiten.
Inwieweit hat sich die Wählerstruktur bei den Grünen, der Linken und der FDP verändert? Bei den Grünen war die geringste Veränderung zu beobachten. Sie sind aber noch westlicher geworden, und sie sind die weiblichste Partei. Interessanterweise gelingt es der Linken immer mehr, sich der Wählerstruktur der Grünen anzunähern. Sie haben es geschafft, inzwischen auch unter Akademikerinnen und Akademikern zu reüssieren und sich besser als in der Vergangenheit im Westen zu platzieren. Die FDP wiederum ist in Ostdeutschland stärker geworden. Ihr ist es wie auch der Linken gelungen, sich zu verjüngen, und sie hat bei den Tätigkeiten mit mittlerem Qualifikationsniveau stark zugelegt.
Wie sieht es aus, wenn man das Wahlverhalten nach dem Alter differenziert? Auffallend ist, dass Union und SPD bei Personen im Ruhestand am besten reüssieren. Hingegen ist die Wählerschaft der Grünen im Vergleich zu allen anderen 2017 nach wie vor die jüngste gewesen, inzwischen aber dicht gefolgt von der Linken und der FDP.
Welches Fazit können Sie nach Ihrer Analyse der Wählerwanderungen ziehen? Erstens ist deutlich geworden, dass die Volksparteien mit ihrem Versuch, es allen Wahlberechtigten recht machen zu wollen, zuletzt nur noch eingeschränkt Erfolg hatten. Zweitens bestätigt sich das Rechts-Links-Lagerdenken heutzutage kaum mehr. Die Wählerschaft wandert viel mehr über alle Lager hinweg. Drittens ist es wichtig hervorzuheben, dass wir jetzt sieben Parteien im Parlament haben. Viele haben die Befürchtung, dass damit eine gewisse Unregierbarkeit einhergeht. Ich denke, dass sieben Parteien durchaus auch in der Lage sein können, die Demokratie wieder mit mehr Leben zu versehen und dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Interessen im Parlament besser ausgeglichen werden können, als dies früher etwa mit vier Parteien der Fall war.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Gender, Bildung, Arbeit und Beschäftigung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-17-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/219373