Entgegen verbreiteter Vorstellungen kommt nur eine kleine Minderheit aller Vollzeitbeschäftigten in Deutschland auf einen so geringen Bruttolohn, dass sie unter eine der Mindestlohngrenzen fallen würden, wie sie gegenwärtig diskutiert werden. So haben nur 7 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten einen Lohn von weniger als 7,50 Euro je Stunde; und 3 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten mit so einem niedrigen Lohn leben in Haushalten, in denen keine weiteren Erwerbseinkommen anfallen. Zu diesem Ergebnis kommt das DIW Berlin in einer aktuellen Studie, die auf den Daten des Sozio-ökonomischen Panels von 2006 beruht. "Bei den Geringverdienern handelt es sich vor allem um geringfügig Beschäftigte, Rentner, Schüler und Studenten sowie Arbeitslose, die sich etwas hinzuverdienen", sagte DIW-Experte Karl Brenke. Allerdings gibt es große regionale Unterschiede. Gering Entlohnte finden sich vor allem in den neuen Bundesländern – und dort auch nicht selten unter den Vollzeitbeschäftigten. Die Einführung eines generellen Mindestlohnes würde sich vor allem in Ostdeutschland bemerkbar machen – auf dem Arbeitsmarkt und in Form von Preissteigerungen auch auf den Gütermärkten mit schwer zu kalkulierenden Folgen.
Unter den Beziehern von Arbeitslosengeld II gibt es nicht wenige (etwa 1,5 Millionen), die einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Zum Teil handelt es sich dabei um Selbständige, die durch den Bezug der Unterstützung auch in den Genuss einer Krankenversicherung kommen. Bei den allermeisten erwerbstätigen Beziehern von Arbeitslosengeld II handelt es sich indes um Arbeitnehmer mit reduzierter Arbeitszeit, die sich ein Zubrot verdienen. Das hängt damit zusammen, dass von der Unterstützungsleistung starke Anreize ausgehen, lediglich einem Midi- oder Midi-Job nachzugehen. Die Zahl der vollzeitbeschäftigten Bezieher von Arbeitslosengeld II beläuft sich lediglich auf ungefähr 300.000 Personen. Ein Mindestlohn in der Höhe, wie er gegenwärtig diskutiert wird, würde ihnen kaum weiterhelfen, weil sie im Schnitt bereits auf einen höheren Lohn kommen: Der mittlere Lohn dieser Gruppe lag im Jahr 2006 bei 9 Euro je Stunde. Das liegt daran, dass sie meist in größeren Haushalten leben, deren Einkommen durch das Arbeitslosengeld II aufgestockt wird. "Das von den Befürwortern eines flächendeckenden Mindestlohns vorgebrachte Argument, dass vom Arbeitslohn der Lebensunterhalt zu bestreiten sein müsse, zieht deswegen nicht, weil der Bedarf eines Haushaltes von der Zahl seiner Mitglieder abhängt. Die Höhe der Löhne kann sich aber nicht an der Größe eines Haushaltes orientieren, sondern nur an der Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer," so Karl Brenke. Überdies wird bei der gegenwärtigen Mindestlohndebatte außer Acht gelassen, dass der Staat schon seit Jahrzehnten bedürftigen Arbeitnehmerhaushalten finanziell unter die Arme gegriffen hat – etwa mit Wohngeld. Nach der Einführung des Arbeitslosengeldes II ging die Zahl der erwerbstätigen Wohngeldempfänger drastisch zurück. Das hängt auch damit zusammen, dass für viele die Unterstützung durch das Arbeitslosengeld II höher ausfällt als durch das Wohngeld. Diese Haushalte können zu den Gewinnern der Arbeitsmarktreform gezählt werden.