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Wirecard: Mehr Sein als Schein muss wieder in Mode kommen: Kommentar

DIW Wochenbericht 28 / 2020, S. 508

Dorothea Schäfer

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Mehr Sein als Schein ist in den letzten 30 Jahren aus der Mode gekommen, fatalerweise und trotz des Platzens der New-Economy-Blase um die Jahrtausendwende. Nur allzu gerne lassen wir uns weiterhin blenden. Offensichtlich wusste man das bei Wirecard und hat es sich virtuos zu Nutze gemacht. Niemand wollte genau hinschauen. Niemand wollte es sich mit dem deutschen Stern am Fintech-Himmel und seinen Fans verderben: nicht die Wirtschaftsprüfer, nicht die BaFin, nicht die Deutsche Bundesbank als operative Bankenaufsicht der Wirecard Bank, nicht die kreditgebenden Banken und auch nicht die institutionellen Anleger, unter denen sich so illustre Namen wie Goldman Sachs, Morgan Stanley, die Société Générale, Blackrock, Citigroup, die Deutsche-Bank-Tochter DWS und Union Investment befinden. Weggeschaut hat auch die Deutsche Börse, die Wirecard am 24. September 2018 feierlich in den Dax und damit in die Riege der deutschen „Blue-Chips“ aufnahm. Inzwischen ist die Aktie nur noch rund ein Prozent ihres damaligen Kurses wert.

Doch schon damals hätte ein Blick auf die Leerverkäufe die Aufsichtsbehörden skeptisch machen müssen. Positionen in meldepflichtiger Höhe wurden bereits im März 2012 auf den damaligen TecDax-Wert platziert. Insgesamt sind im Bundesanzeiger bis dato mehr als 500 Anzeigen von substanziellen Leerverkaufspositionen registriert. 2016, dem Jahr mit den ersten handfesten Gerüchten über Unregelmäßigkeiten und bevor Wirecard in den Dax aufgenommen wurde, finden sich 123 Positionen. Die niedrigste Anzahl von Anzeigen gab es mit nur 13 im Jahr 2018. Im Februar 2019 hat die BaFin Leerverkäufe auf die Wirecard-Aktie temporär verboten, nachdem die Financial Times über Bilanzmanipulationen berichtet hatte. Allein in diesem Jahr registriert der Bundesanzeiger bis Ende Mai 108 Positionen. Im Bundesanzeiger müssen Netto-Leerverkaufspositionen erst angezeigt werden, wenn sie mindestens 0,5 Prozent des ausgegebenen Aktienkapitals umfassen. Die insgesamt getätigten Leerverkäufe dürften daher noch um einiges höher liegen.

Das Gewinnpotential von Leerverkäufen besteht darin, die geliehenen Aktien teuer zu verkaufen, um sie nach Kursabsturz möglichst günstig wieder erwerben und an den Leihgeber zum Stichtag zurückgeben zu können. Mit dem Eingehen ihrer Positionen attestieren Leerverkäufer der betreffenden Aktie potentielle Schwäche. Sie können mit dem Verkauf der geliehenen Aktien aber auch selbst mit dazu beitragen, dass der Kurs sinkt. In besonderen wirtschaftlichen Stresssituationen, wie beispielsweise zu Beginn des Lockdowns, kann es daher durchaus gerechtfertigt sein, Leerverkäufe generell oder branchenweise für eine gewisse Zeit zu verbieten. Ein Verbot für eine einzelne Aktie, wie es die BaFin temporär für Wirecard ausgesprochen hat, ist hingegen sehr ungewöhnlich.

Entscheidende Auswirkungen dürfte der Schritt der BaFin dennoch nicht gehabt haben. Bei Wirecard haben die Wetten auf den Kursabsturz weder die Bilanzfälschung selbst noch die Aufnahme in den Dax verhindert. Und sie schärfte auch nicht die Wachsamkeit von Aufsichtsbehörden, Banken und Wirtschaftsprüfern, obwohl die Leerverkäufe bereits 2012 eingesetzt hatten und jahrelang in wachsender Zahl zu beobachten waren. Sie haben aber vermutlich dazu beigetragen, dass Anlegerinnen und Anleger mit schwächeren Nerven die Aktie bereits früh wieder aus dem Portfolio geworfen haben. Sie haben nun entweder keine oder nur geringe Verluste erlitten, haben also indirekt von den Leerverkäufen profitiert.

Viele haben sich des fahrlässigen Durchwinkens schuldig gemacht, wo doch genaues Hinsehen und hartnäckiges Misstrauen angebracht gewesen wären. Wenn also Leerverkäufe kein ausreichendes Warnsignal und Korrektiv – zumindest für die Aufsichtsinstanzen – sind, worauf können wir uns dann noch verlassen? Das Prinzip „Mehr Sein als Schein“ sollte uns alle wieder leiten. Wirecard kann der Warnschuss gewesen sein, der die Sinne dafür wieder schärft, dass es schwarze Schafe im Finanzsektor besonders leicht haben und sie auch im Gewand der jungen Fintech-Branche daherkommen können.

Der Beitrag ist am 5. Juli 2020 im Tagesspiegel erschienen.

Dorothea Schäfer

Forschungsdirektorin Finanzmärkte in der Abteilung Kommunikation

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