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Wie Corona soziale Ungleichheiten aufdeckt und verschärft: Kommentar

DIW Wochenbericht 29 / 2020, S. 524

Shan Huang

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„The Great Equalizer“ – als den „großen Gleichmacher“ hatte unter anderem der New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo das Corona-Virus zu Anfang der Pandemie bezeichnet. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass das Gegenteil der Fall ist: Gerade Menschen mit einem schlechteren sozioökonomischem Status sind überproportional betroffen. Das Virus macht gesundheitliche Ungleichheiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen in erschreckender Weise sichtbar – und verschärft sie.

In Deutschland haben die jüngsten Ausbrüche in Gütersloh, Berlin-Neukölln oder Starnberg gezeigt, dass diejenigen Menschen am schwersten vom Virus betroffen sind, die ohnehin sozial benachteiligt werden: Menschen mit prekären Beschäftigungen, mit Zuwanderungshintergrund und Asylsuchende. Auch hinter den anhaltenden „Black Lives Matter“-Protesten steht die Erkenntnis, dass ethnische Minderheiten besonders schwere Verläufe erleiden: Den Centers for Disease Control and Prevention zufolge ist die altersadjustierte Hospitalisierungsrate in den USA vier- bis fünffach höher. Erhebungen von Public Health England haben ergeben, dass die adjustierte Mortalitätsrate in Großbritannien für ethnische Minderheiten doppelt so hoch ist.

Soziale Ungleichheit verzerrt aber auch das Bild gemeldeter Covid-19-Fälle, unter anderem durch Unterschiede im Zugang zum Gesundheitssystem und zu Corona-Tests. Besonders sichtbar ist eine Selektion von Testungen im US-amerikanischen Gesundheitswesen. Studien der Harvard Kennedy School und der Columbia University deuten an, dass in Vierteln der Stadt New York mit mehr Armut oder einem höheren Anteil afroamerikanischer oder eingewanderter Bevölkerung nicht nur die Testwahrscheinlichkeit niedriger ist, sondern auch die Testpositivraten deutlich höher sind. Diese Ungleichheiten können sich dadurch ergeben, dass Infektionen unter sozial Schwächeren systematisch untererfasst werden, bis einzelne schwere Verläufe erkannt werden.

Im Vergleich zu den USA verfügt Deutschland über ein umfassendes gesetzliches Gesundheitssystem, das in der Regel allen Einwohnerinnen und Einwohnern offen steht. Dennoch erfolgt die Nutzung der Angebote nicht von allen Menschen gleichermaßen. So gab die Gesundheitsberichterstattung des Bundes im Jahr 2015 an, dass die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bei Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland seltener erfolgt, beispielsweise aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren oder als Folge von Diskriminierungserfahrungen. Dieselben Mechanismen können auch eine Untererfassung milder Covid-19-Fälle abseits großer Ausbrüche beispielsweise bei Zuwanderinnen und Zuwanderern verursachen. Dazu bedingen Faktoren wie die Furcht vor Stigmatisierung oder dem Verlust des Arbeitsplatzes eine Selbstselektion bei diagnostischen Testungen.

Der in Bayern geplante besonders niedrigschwellige Zugang zu Corona-Tests ist vor dem Aspekt sozioökonomischer Barrieren ein vielversprechender Ansatz. In der Auswertung der Fallzahlen sollte allerdings scharf zwischen individueller Diagnostik, die aufgrund der beschriebenen Selektionsmechanismen ein verzerrtes Bild der Bevölkerung wiedergibt, und der Beobachtung des Infektionsgeschehens unterschieden werden. Beide Zielsetzungen sind wichtig, müssen aber getrennt voneinander betrachtet werden. Methodisch am einfachsten ließe sich eine Trennung durch separate, repräsentative und randomisierte Stichprobentestungen erreichen. Um Kapazitäten zu schonen, könnten beispielsweise Pooling-Testverfahren, bei denen der Virusnachweis in einem Probenpool erfolgt, genutzt werden.

Es ist Aufgabe der Politik, Nutzen und Kosten möglicher politischer Maßnahmen abzuwägen und Entscheidungen zu fällen. Hierfür bilden die gemeldeten Fallzahlen eine wichtige Datengrundlage. Besonderes Augenmerk muss auch darauf gelegt werden, sich durch die Krise noch weiter verschärfende Disparitäten auszugleichen. Umso notwendiger ist es, dass politische Entscheidungen nicht auf Daten basieren, in denen die am stärksten gefährdeten Mitglieder der Gesellschaft unterrepräsentiert sind.

Der Beitrag ist am 11. Juli 2020 in der Frankfurter Rundschau erschienen.

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