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Mehrheit der Geflüchteten hat höhere Bildung im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft

DIW Wochenbericht 34 / 2020, S. 563-570

Cornelia Kristen, Christoph Spörlein, Regine Schmidt, Jörg Welker

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  • Die Bildung von Zugewanderten wird häufig im Kontext des Ziellands bewertet, da sie dort für den Erfolg am Arbeitsmarkt wichtig ist
  • Der Stellenwert eines mitgebrachten Abschlusses kann jedoch in der Herkunftsgesellschaft ein anderer sein
  • In diesem Bericht wird die Bildung von Zugewanderten daher mit der Bildung sowohl im jeweiligen Herkunftsland als auch im Zielland Deutschland verglichen
  • Häufig haben Geflüchtete einen aus deutscher Perspektive niedrigen Abschluss; dennoch sind die meisten gleich oder höher gebildet als die Hälfte ihrer Herkunftsgesellschaft
  • Zielländer sollten in die weitere Bildung der sehr jungen Bevölkerungsgruppe Geflüchteter investieren

„Ein anderswo erworbener mittlerer Bildungsabschluss kann in einer Herkunftsgesellschaft, in der nur wenige einen mittleren Abschluss ­erreichen, einen anderen Stellenwert haben als in einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik, in der die Mehrheit mindestens über einen mittleren Abschluss verfügt.“ Cornelia Kristen

Die Bildungsabschlüsse von MigrantInnen werden typischerweise anhand der im Zielland geltenden Standards eingeordnet. Weniger Beachtung findet dagegen die Stellung, die diese Qualifikationen im jeweiligen Herkunftsland haben. In diesem Beitrag wird die mitgebrachte Bildung verschiedener Gruppen von Zugewanderten mit den Bildungsverteilungen des jeweiligen Herkunftslands und mit der Bildungsverteilung in Deutschland verglichen. Die Auswertungen zeigen, dass Geflüchtete im Vergleich zu den meisten anderen gegenwärtigen Migrantengruppen über eine im Schnitt geringere formale Bildung verfügen. Die Ergebnisse belegen außerdem, dass Geflüchtete mit einem für deutsche Verhältnisse niedrigen absoluten Bildungsniveau besser gebildet sein können als die Mehrheit in ihrer Herkunftsgesellschaft. Dies kann sich positiv auf den Integrationserfolg in Deutschland auswirken.

Die von Zugewanderten mitgebrachte Bildung spielt für ihre Integration eine zentrale Rolle. Anderswo erworbene Abschlüsse werden dabei meistens aus dem Blickwinkel des Ziellands betrachtet. Das absolute Qualifikationsniveau steht dabei im Vordergrund (absolute Bildung). Da die mitgebrachte Bildung im Zielland eingesetzt wird, ist diese Perspektive naheliegend. Die Einordnung alleine vor dem Hintergrund des Ziellands lässt jedoch weitere Aspekte der erworbenen Bildung, die für die individuelle Integration relevant sein können, außer Acht.

In der Literatur werden mindestens drei Gründe genannt, die für eine ergänzende Berücksichtigung des Herkunftslands sprechen:infoChristoph Spörlein und Cornelia Kristen (2019a): Why we should care about regional origins: Educational selectivity among refugees and labor migrants in Western Europe. Frontiers in Sociology 4 (39). Da Bildungssysteme sich voneinander unterscheiden, sind die in verschiedenen Ländern erworbenen Abschlüsse nicht unmittelbar miteinander vergleichbar. Zudem muss das gleiche Niveau formaler Bildung nicht zwangsläufig in allen Ländern für die gleichen Kompetenzen stehen. Darüber hinaus hängt die Frage, welchen gesellschaftlichen Stellenwert ein bestimmter Bildungsabschluss hat, auch davon ab, wie viele Personen das Bildungssystem mit diesem Abschluss verlassen. Ein mittlerer Abschluss ist beispielsweise in einer Gesellschaft, in der nur wenige eine solche Qualifikation erwerben, mehr wert als in einer Gesellschaft, in der die meisten ein mittleres Bildungsniveau erreichen.

Eine Einordnung der Qualifikation in die Herkunftsgesellschaft (relative Bildung) erlaubt es somit, die mitgebrachten Qualifikationen differenzierter zu beschreiben und die herkömmliche, auf das Zielland bezogene Perspektive zu ergänzen. Zudem kann die Stellung des jeweiligen Bildungsabschlusses im Herkunftsland Aufschluss über andere, nicht erfasste Merkmale von Zugewanderten geben, die für Integrationsprozesse relevant sind.

Dieser BerichtinfoDer vorliegende Bericht beruht auf folgender Publikation: Christoph Spörlein et al. (2020): Selectivity profiles of recently arrived refugees and labour migrants in Germany. Soziale Welt 71 (1–2), 54–89. Diese Publikation ist aus dem von der DFG geförderten Projekt „Origins matter: Immigrant selectivity in Western Europe“ hervorgegangen. vereint beide Perspektiven, indem er die mitgebrachten Bildungsabschlüsse von MigrantInnen vor dem Hintergrund des Herkunftslands und des Ziellands einordnet. Der Fokus liegt auf Geflüchteten.infoObschon der Bericht Geflüchtete in den Fokus stellt, sollte nicht übersehen werden, dass das Gros der gegenwärtigen MigrantInnen aus anderen Ländern, anderen Motiven und unter anderen rechtlichen Rahmenbedingungen in die Bundesrepublik einreist. Quantitativ am bedeutsamsten ist der Zuzug aus Ländern der Europäischen Union. Sie werden mit Zugewanderten verglichen, die aus anderen Gründen und unter anderen rechtlichen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren in die Bundesrepublik gekommen sind. Hierzu gehören Personen, die als ArbeitsmigrantInnen, zur Ausbildung oder im Zuge der Familienzusammenführung zugewandert sind.

Die Analysen beruhen auf Daten zu Geflüchteten (IAB-BAMF-SOEP-Befragung von GeflüchteteninfoSiehe dazu in dieser Ausgabe des DIW Wochenberichts den Kasten im Editorial von Cornelia Kristen und C. Katharina Spieß (2020): Fünf Jahre danach: Eine Zwischenbilanz zur Integration von Geflüchteten. DIW Wochenbericht Nr. 34, 559–562.), die zwischen den Jahren 2013 und 2016 in die Bundesrepublik gekommen sind. Außerdem werden im Vergleich dazu andere Gruppen von Neuzugewanderten analysiert, die zum Zeitpunkt der Befragung maximal fünf Jahre in Deutschland gelebt haben (Mikrozensus 2008–2014).infoFür die Identifikation dieser Personen wird im Mikrozensus die Nationalität in Kombination mit dem Zeitpunkt des Zuzugs genutzt. Aus den Angaben zur Nationalität wird außerdem auf das Herkunftsland geschlossen. Insgesamt werden so MigrantInnen aus 25 Ländern in die Analyse einbezogen. Die Bildungsverteilungen der jeweiligen Herkunftsländer werden anhand einer Vielzahl weiterer länderspezifischer Datensätze geschätzt (Kasten 1).

Integrated Microdata Series International (IPUMS, online verfügbar): Zensusdaten für Frankreich (2011), Niederlande (2011), Italien (2011), USA (2010).

Multiple Indicator Cluster Surveys (MICS, online verfügbar): Survey-Daten, bereitgestellt durch UNICEF für Afghanistan (2011), Irak (2011), Syrien (2006).

United Nations database (UNdata, online verfügbar): Aggregierte Verteilungen für Bulgarien (2011), China (2010), Griechenland (2011), Großbritannien (2011), Kasachstan (2010), Kroatien (2010), Marokko (2010), Österreich (2011), Polen (2011), Portugal (2011), Rumänien (2011), Russland (2010), Spanien (2011), Thailand (2010), Türkei (2011), Ukraine (2001), Ungarn (2011).

Eritrea Population and Health Survey (EPHS, online verfügbar): Aggregierte Verteilungen für Eritrea (2010).

In der Analyse wird sowohl die absolute also auch die relative Bildung betrachtet. Als absolute Bildung werden die erzielten Bildungsqualifikationen bezeichnet und in gruppenspezifischen Anteilswerten ausgewiesen. Die in den verschiedenen Ländern erworbenen Abschlüsse lassen sich hierzu in eine etablierte internationale Klassifikation überführen (Kasten 2).

Die nationalen Bildungsabschlüsse werden anhand der ISCED 1997 Standardklassifikation für das BildungsweseninfoVgl. UNESCO (2006): International Standard Classification of Education. ISCED 1997 (online verfügbar). (Tabelle) eingeordnet. Unterschieden werden die Bildungsniveaus Elementarbereich/kein Schulbesuch, Primarbereich, Sekundarbereich I und II, postsekundärer nicht-tertiärer Bereich sowie tertiäre Bildung. Für die Darstellung der absoluten Bildung (Abbildung 1) wird das ISCED-Niveau 4 aufgrund zumeist geringer Fallzahlen dem Sekundarbereich II zugewiesen; in den Analysen zur relativen Bildung (Abbildung 2) wird ISCED 4 als eigenständige Kategorie berücksichtigt.

Tabelle: ISCED 1997 Standardklassifikation für das Bildungswesen mit Einordnung des deutschen Bildungssystems

Kategorie Beschreibung Einordnung in Deutschland
ISCED 0 Elementarbereich Kein Schulbesuch Keine abgeschlossene Grundschulbildung; kein Schulbesuch Krippen-/Kitabereich
ISCED 1 Primarbereich Üblicherweise 4 bis 6 Jahre Schulbildung Grundschule
ISCED 2 Sekundarbereich I Üblicherweise 8 bis 11 Jahre Schulbildung (ab ISCED 1) Haupt- oder Realschule, Unterstufe: Gesamtschule, Gymnasium; mittlerer Schulabschluss
ISCED 3 Sekundarbereich II Üblicherweise 12 bis 13 Jahre Schulbildung (ab ISCED 1) Oberstufe: Gesamtschule, Gymnasium; (Fach-)Abitur; Lehre
ISCED 4 Postsekundärer nicht-tertiärer Bereich Typischerweise berufsvorbereitende Programme oder Programme,die auf tertiäre Bildung vorbereiten; ISCED 3 als Eingangskriterium Abitur und Lehre
ISCED 5, 6 Tertiäre Bildung Tertiäre Bildungsprogramme Bachelor- oder Masterstudium an Hochschulen oder Universitäten, Promotionsstudium

Die relative Bildung bezeichnet für jedes Individuum die Position, die es in der geschlechts- und altersspezifischen Bildungsverteilung der Vergleichsgesellschaft einnimmt. Als Vergleichsgesellschaften werden im ersten Schritt das jeweilige Herkunftsland und im zweiten Analyseschritt das Zielland Deutschland herangezogen. Der sogenannte Selektivitätsindex beschreibt die individuelle Position in einer Gesellschaft und kann Werte zwischen null und eins annehmen.infoMathieu Ichou (2014): Who they were there: Immigrants educational selectivity and their children’s educational attainment. European Sociological Review 30 (6), 750–765. Bei einem Wert von 0,8 hat eine Person ebenso viel oder mehr Bildung erworben als 80 Prozent der Vergleichsbevölkerung gleichen Alters und gleichen Geschlechts. Das Individuum ist also relativ gesehen besser gebildet als die meisten Personen in der Vergleichsgesellschaft. In der Literatur spricht man bei Werten ab 0,5 von positiver Selektivität, bei Werten unterhalb von 0,5 von negativer Selektivität. Mit diesen Begriffen wird beschrieben, ob sich eine Person in der oberen oder unteren Hälfte der jeweiligen Verteilung befindet. Damit sind jedoch keine Wertungen bestimmter Bildungsergebnisse verbunden.

Geflüchtete haben geringere absolute Bildung

Geflüchtete weisen im Schnitt eine vergleichsweise niedrige absolute Bildung auf (Abbildung 1). Ins Auge fällt insbesondere der hohe Anteil an Personen, die keine formale Bildung oder höchstens eine Bildung auf Grundschulniveau aufweisen (35 Prozent). Dieser Anteil beläuft sich bei den übrigen MigrantInnen auf lediglich zehn Prozent.

Ansonsten haben unter den Geflüchteten 24 Prozent einen Abschluss auf Ebene der Sekundarbildung II erreicht, was im deutschen Kontext dem (Fach-)Abitur oder einem mittleren schulischen Abschluss mit Lehre entspricht. Unter den übrigen Zugewanderten sind es 35 Prozent. Über einen tertiären Abschluss, was einem (Fach-)Hochschulabschluss entspricht, verfügen 21 Prozent der Geflüchteten und 30 Prozent der anderen MigrantInnen.

Betrachtet man die einzelnen Herkunftsgruppen, lässt sich eine deutliche Heterogenität sowohl innerhalb der verschiedenen Gruppen Geflüchteter als auch innerhalb der übrigen Migrantengruppen feststellen (Abbildung 1).infoIn bisherigen Berichten der Datenproduzenten werden Angaben zu den mitgebrachten Bildungs­­abschlüssen zumeist für die Geflüchteten insgesamt ausgewiesen. Eine frühe Publikation, die kurz nach der ersten Erhebung erfolgte, nimmt eine Differenzierung nach Herkunftsgruppen vor: Herbert Brücker, Nina Rother und Jürgen Schupp (2017): IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016: Studiendesign, Feldergebnisse sowie Analysen zu schulischer wie beruflicher Quali­fikation, Sprachkenntnissen sowie kognitiven Potentialen. DIW Politikberatung kompakt 123, Berlin: DIW (online verfügbar, abgerufen am 10. Juni 2020). Die dort veröffentlichten Anteile beruhen auf einer eigens für den Bericht generierten Bildungsvariable, die in dieser Form jedoch nicht in den Datensatz aufgenommen wurde. Die im vorliegenden Bericht präsentierten Befunde beziehen sich dagegen auf die Bildungsvariable, die im veröffentlichten Datensatz enthalten ist. Aufgrund dieser unterschiedlichen Variablen kommt es zu Abweichungen in den Anteilen. Fasst man die Anteile der Personen ohne Bildung mit den Anteilen der Personen mit Primarschulbildung zusammen, so ergibt sich für Geflüchtete aus Syrien ein Anteil von 26 Prozent, für Geflüchtete aus dem Irak ein Anteil von 48 Prozent, für Geflüchtete aus Eritrea ein Anteil von 52 Prozent und für Geflüchtete aus Afghanistan ein Anteil von 56 Prozent. SyrerInnen schneiden damit im Vergleich der Geflüchteten untereinander besser ab. Dieses Ergebnis wird auch durch die vergleichsweise höheren Anteile von Personen mit einem sekundären beziehungsweise tertiären Abschluss bestätigt. So liegen die Anteile an HochschulabsolventInnen unter SyrerInnen bei 26 Prozent, unter IrakerInnen bei 18 Prozent, unter AfghanInnen bei acht Prozent und unter EritreerInnen bei sieben Prozent.

Gleichzeitig zeigt sich eine große Varianz innerhalb der übrigen Migrantengruppen. Greift man exemplarisch den tertiären Bereich heraus, so wird deutlich, dass unter Neuzugewanderten aus Westeuropa und Nordamerika der Hochschulabschluss mit meist über 40 Prozent weit verbreitet ist. Die entsprechenden Anteile für OsteuropäerInnen liegen zwischen 18 und 46 Prozent. Für MigrantInnen aus Marokko und der Türkei ergeben sich mit acht und 13 Prozent geringere Werte.

Mehrheit der Geflüchteten gehört zur höher gebildeten Hälfte der Herkunftsgesellschaft

Die bisherige Analyse hat die absolute Bildung, also die erzielten Abschlüsse, losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext betrachtet. Um einzuordnen, welche Bedeutung den Qualifikationen in der Herkunftsgesellschaft zukommt, wird im Folgenden die relative Bildung in Bezug zum jeweiligen Herkunftsland analysiert.

Für jede zugewanderte Person wird hierzu ein sogenannter Selektivitätswert, der die Position dieser Person in der Bildungsverteilung des Herkunftslands angibt, berechnet. Als zusammenfassendes Maß lässt sich außerdem analysieren, wie groß der Anteil der zugewanderten Personen ist, die gleich viel oder mehr Bildung als die Hälfte der Bevölkerung im Herkunftsland erworben haben (Selektivitätswert größer oder gleich 0,5). Unter den aus Eritrea stammenden Geflüchteten sind dies beispielsweise 52 Prozent (Abbildung 2).

Anhand dieser Anteile lässt sich ein Kontrast zwischen der relativen Bildung im Kontext des Herkunftslands und der zuvor beschriebenen absoluten Bildung erkennen: Obwohl Geflüchtete eine im Schnitt geringe absolute Bildung mitbringen (Abbildung 1), haben sie im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft in vielen Fällen mehr Bildung erworben. Besonders deutlich wird dies bei den nach Deutschland eingewanderten SyrerInnen, unter denen 75 Prozent zur gebildeteren Hälfte der syrischen Bevölkerung gehören. Auch unter den afghanischen Geflüchteten sind 66 Prozent gleich oder höher gebildet als die Hälfte der in Afghanistan verbliebenen Personen. Ein aus der Perspektive westlicher Gesellschaften geringes Niveau an absoluter Bildung ist also durchaus mit einer vergleichsweise hohen Stellung in der Bildungsverteilung der Herkunftsgesellschaft vereinbar.

Bildung der Geflüchteten im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft sehr heterogen

Die zusammenfassenden Anteile erlauben eine grobe Charakterisierung der Zusammensetzung der verschiedenen Gruppen. Werden die Verteilungen der Selektivitätswerte in den Migrantengruppen jedoch detailliert betrachtet, können daraus weitere Erkenntnisse gewonnen werden. Die Kurven zur Verteilung der Selektivitätswerte zeigen, welche Werte besonders häufig auftreten (Abbildung 2). Erhebungen der Kurven nach oben verweisen darauf, dass eine größere Zahl der betrachteten MigrantInnen Selektivitätswerte in dem jeweiligen Bereich aufweist, während eher flache oder lediglich leicht gewölbte Verläufe anzeigen, dass weniger Personen die zugehörigen Selektivitätswerte aufweisen. Für Personen aus Westeuropa und Nordamerika finden sich beispielsweise deutliche Erhebungen im oberen Teil der Verteilungen. Unter den MigrantInnen aus diesen Ländern sind demnach viele Personen mit einer vergleichsweise hohen Bildung im Kontext des Herkunftslands. Trotz dieser Häufungsbereiche finden sich auch in den übrigen Teilen der Verteilung Personen aus den jeweiligen Herkunftsländern. Es gibt also stets auch bedeutende Anteile von MigrantInnen, die eine weniger gute Bildung im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft haben. Eine übergreifende Charakterisierung der jeweiligen Migrantengruppe greift demnach zu kurz.

Für die Geflüchteten gilt diese Beobachtung in besonderer Weise, da sich für sie vergleichsweise flache Kurvenverläufe mit allenfalls moderaten Häufungsbereichen (zum Beispiel bei EritreerInnen und IrakerInnen im unteren Bereich der Verteilung oder bei SyrerInnen im oberen Bereich) ergeben. Insgesamt zeigen sich vielfältige und variierende Muster, die verdeutlichen, dass in allen Migrantengruppen relativ höher und niedriger gebildete Individuen vertreten sind. Die Variation innerhalb der Gruppen entlang des Selektivitätsspektrums ist dabei meist größer als zwischen den Gruppen.

Relative Bildung der Geflüchteten unterscheidet sich je nach Vergleichsgesellschaft stark

Die Verteilungen der Selektivitätswerte in Bezug auf das Zielland illustrieren, dass Geflüchtete meist weniger Bildung erworben haben als dies für die deutsche Gesellschaft typisch ist (Abbildung 3). Dieses Ergebnis zeigt sich in den Kurvenverläufen, die bei den Geflüchteten am unteren Ende der Verteilungen ausgeprägte Häufungen aufweisen. Unter den SyrerInnen sind 39 Prozent, unter den IrakerInnen 23 Prozent, unter den AfghanInnen 20 Prozent und unter den EritreerInnen zwölf Prozent mindestens so gebildet wie die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland.

Die Charakterisierung der mitgebrachten relativen Bildung hängt also in starkem Maße davon ab, welche Bevölkerung als Vergleichspunkt herangezogen wird. Dies wird deutlich, wenn die Verteilungen mit Bezug zu Herkunfts- und Zielland übereinandergelegt werden (Abbildungen 2 und 3). Bei den Geflüchteten resultieren gänzlich gegenläufige Einschätzungen.

Für keine der Migrantengruppen aus Nordamerika, Westeuropa und Osteuropa bestehen derart deutliche Abweichungen zwischen einer auf das Herkunftsland und einer auf das Zielland bezogenen Betrachtung. Auch die Differenzen zwischen den Anteilen der Personen mit Selektivitätswerten über 0,5 sind bei den Geflüchteten größer (zwischen 36 und 46 Prozentpunkten) als bei Neuzugewanderten aus Nordamerika, Westeuropa und Osteuropa (zwischen einem und 17 Prozentpunkten). Lediglich die Selektivitätsprofile von MigrantInnen aus der Türkei, Marokko und Thailand weisen eine gewisse Ähnlichkeit zu denen der Geflüchteten auf. Auch für sie fallen die Kurven am unteren Ende der Verteilungen stärker auseinander.

Relative Bildung im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft kann mit Integrationserfolg zusammenhängen

In der Migrationsforschung wird vermutet, dass sich MigrantInnen in ausgewählten Merkmalen von Personen aus den Herkunftsländern unterscheiden, die nicht abwandern. Diese Unterschiede können für andere, in der Regel nicht erfasste Einflüsse stehen, etwa für motivationale Attribute wie das Durchhaltevermögen, für kognitive und andere Fähigkeiten oder für den Zugang zu weiteren relevanten Ressourcen.infoIchou (2014), a.a.O; Spörlein und Kristen (2019a), a.a.O. Die relative Bildung im Vergleich zum Herkunftsland kann demzufolge auch zusätzliche Aspekte abbilden, die über die in der absoluten Bildung enthaltenen Voraussetzungen hinausgehen und die letztlich für die Integration am Zielort relevant sein können.

Dafür sprechen Befunde, die zeigen, dass die sogenannte Bildungsselektivität einen eigenständigen Einfluss auf Prozesse der Eingliederung hat. MigrantInnen, die eine höhere relative Bildung (höhere Selektivitätswerte) in Bezug zur Herkunftsgesellschaft aufweisen, erlernen die Sprache des Ziellands zügiger als Individuen mit einer niedrigeren relativen Bildung (niedrigere Selektivitätswerte).infoChristoph Spörlein und Cornelia Kristen (2019b): Educational selectivity and language acquisition among recently arrived immigrants. International Migration Review 53 (4), 1148–1170. Außerdem wurden entsprechende Vorteile für die Gesundheit, für den Arbeitsmarkterfolg und für die Bildung der zweiten Generation nachgewiesen.infoFür die Gesundheit vgl. Mathieu Ichou und Matthew Wallace (2019): The healthy immigrant effect: The role of educational selectivity in the good health of migrants. Demographic Research 40 (4), 64–94; für den Arbeitsmarkt vgl. Garnett Picot, Feng Hou und Hanqing Qiu (2016): The human capital model of selection and immigrant economic outcomes. International Migration 54 (3), 73–88; für die Bildung der zweiten Generation vgl. Cynthia Feliciano und Yader R. Lanuza (2017): An immigrant paradox? Contextual attainment and intergenerational educational mobility. American Sociological Review 82 (1), 211–241; Ichou (2014), a.a.O. All dies spricht dafür, dass die Stellung der Bildung im Kontext des Herkunftslands zusätzliche Aspekte abbilden kann, die für den individuellen Integrationserfolg im Zielland von Bedeutung sind.

Fazit: Zusätzliche Investition in die Bildung von Geflüchteten im Zielland sinnvoll

In diesem Bericht wird die Bildung von Zugewanderten in den Bildungskontext des Herkunfts- und Ziellands eingeordnet. Der Vergleich mit der Bundesrepublik ist relevant, weil anderswo erworbene Abschlüsse in der Regel gemäß den Standards des Lands bewertet werden, in dem sie eingesetzt werden. In modernen westlichen Gesellschaften reicht eine geringe formale Bildung meist nicht aus, um Zugang zu einer qualifizierten Beschäftigung zu erhalten. Attraktive Positionen lassen sich nur dann realisieren, wenn entsprechende Abschlüsse vorliegen. Sofern also Geringqualifizierte nach der Migration keine zusätzliche Bildung erwerben, bleiben ihre Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt begrenzt.

Die Betrachtung der mitgebrachten Bildungsabschlüsse aus der Perspektive des jeweiligen Herkunftslands ermöglicht eine differenziertere Einschätzung der Bildung. Dies gilt insbesondere für Gesellschaften, in denen die Bildungsexpansion noch nicht so weit fortgeschritten ist und in denen das Bildungsniveau unter dem des Ziellands liegt. Dies betrifft die Herkunftsländer der hier betrachteten Geflüchteten in besonderer Weise, weshalb die Einschätzungen je nach gewähltem Vergleichspunkt so unterschiedlich ausfallen.

Die Literatur hat gezeigt, dass eine gute relative Bildung im Vergleich zum Herkunftsland die Integration im Zielland positiv beeinflussen kann. Offen ist jedoch, ob eine günstige Positionierung in der Bildungsverteilung des Herkunftslands auch Nachteile im Zielland kompensieren kann, die mit einer geringen formalen Bildung einhergehen. Für ein erfolgreiches Agieren in modernen Gesellschaften ist ein Mindestmaß an absoluter Bildung erforderlich. Daher sind die Zielländer gut beraten, für den weiteren Bildungserwerb Anreize zu schaffen und diesen zu unterstützen – erst recht, wenn es sich wie im Falle der Geflüchteten um eine sehr junge und nach absoluten Maßstäben vergleichsweise gering gebildete Population handelt.

Cornelia Kristen

DIW Fellow in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel



JEL-Classification: F22;J15;J24;O15
Keywords: refugees, labor migrants, new immigrants, human capital, educational selectivity, self-selection
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-34-2

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/226722

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