„Good Bye, Alleinernährer“ und andere Entwicklungen 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung: Editorial

DIW Wochenbericht 38 / 2020, S. 697-698

C. Katharina Spieß

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In diesem Jahr feiern wir am 3. Oktober den 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Für viele stellte dieser Tag damals einen Neuanfang dar, verbunden aber auch mit Abschieden. In den vier Jahrzehnten getrennter Vergangenheit hatten sich die politischen und wirtschaftlichen Systeme, aber auch die gesellschaftlichen und kulturellen Werte sehr unterschiedlich entwickelt. Die Wiedervereinigung bedeutete gerade für viele Menschen der ehemaligen DDR einen radikalen Bruch mit dem bisherigen Leben.

Wenn heute Beispiele angeführt werden, was in der DDR besser lief als in der BRD, dann wird vielfach die Geschlechtergleichstellung angeführt. Fakt ist, dass die Erwerbsquote von Frauen im arbeitsfähigen Alter in der DDR sehr viel höher war als die von westdeutschen Frauen – zeitweise war sie sogar die höchste weltweit.

Inwiefern Frauen in der damaligen DDR tatsächlich gleichberechtigter waren, darüber wird auch heute noch vielfach diskutiert: So waren auch in der DDR Teilzeitpositionen überwiegend von Frauen besetzt und der Anteil von Frauen in Führungspositionen sehr gering.infoVgl. beispielsweise Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2015): 25 Jahre Deutsche Einheit. Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland (online verfügbar, abgerufen am 04.09.2020). Fakt ist aber auch, dass die ehemalige BRD beim Thema Gleichberechtigung im Erwerbsleben stark hinterherhinkte. Hier herrschte lange Zeit das Alleinernährermodell vor: Der Mann war in Vollzeit erwerbstätig, während Frauen mit Kindern in der Regel keiner entlohnten Arbeit nachgingen. Mit der Zeit setzte sich im Westen aber mehr und mehr das Zuverdienermodell durch: Frauen wurden zunehmend erwerbstätig – meist in Teilzeit.

Vielfach wurde davor gewarnt, dass die deutsche Einheit für Ostdeutschland zunächst einen Rückschritt in der Gleichstellung von Mann und Frau bedeute. Fraglich ist, ob sich dies bei der Erwerbstätigkeit bewahrheitet hat und inwiefern es Unterschiede zwischen den Kohorten je nach Herkunft gibt. Aufgrund von Unterschieden in der Erwerbstätigkeit sind naturgemäß auch Unterschiede in der Rente zu erwarten – zwischen Ost und West, zwischen Frauen und Männern. Darüber hinaus stellt sich sich aus aktuellem Anlass die Frage: Inwiefern führen unterschiedliche Erfahrungen mit Krisen in beiden Teilen Deutschland in den verschiedenen Generationen zu einer anderen Bewertung und einem anderen Erleben der Corona-Krise?

Wie sich die beiden Teile Deutschlands seit der Wiedervereinigung bei Erwerbstätigkeit, Rente und Wohlbefinden entwickelt haben, damit befassen sich die vier Berichte dieser Ausgabe.

In einem ersten Bericht untersuchen Denise Barth, Jonas Jessen, C. Katharina Spieß und Katharina Wrohlich die Berufstätigkeit von Müttern mit betreuungsbedürftigen Kindern und die Einstellungen zur Erwerbstätigkeit von Müttern. Es zeigt sich, dass sich die Erwerbstätigkeit in den vergangenen 30 Jahren in Ost- und Westdeutschland angeglichen hat. Dies geht einher mit einer steigenden Zustimmung zur Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kleinkindern – insbesondere im Westen. Gleichwohl sind nach wie vor Unterschiede in Hinblick auf das Erwerbsvolumen festzustellen: Mütter in Ostdeutschland arbeiten sehr viel eher Vollzeit als Mütter im Westen. Bemerkenswert ist, dass Frauen jüngerer Kohorten in beiden Landesteilen einer Vollzeiterwerbstätigkeit von Müttern mit Kleinkindern weniger zustimmen als ältere Kohorten. Es wird sich zeigen, ob sich dies mit dem geplanten weiteren Ausbau der Tagesbetreuung für Kita- und Grundschulkinder ändert.

Die Wiedervereinigung hat nicht nur im Osten zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen geführt. Wie der Zuzug von Menschen aus der ehemaligen DDR nach Westdeutschland die Erwerbstätigkeit von westdeutschen Frauen beeinflusst hat, damit befasst sich der zweite Beitrag von Sophia Schmitz und Felix Weinhardt. Das Ergebnis ist, dass insbesondere bereits erwerbstätige Frauen in Westdeutschland ihre Arbeitszeit erhöht haben, wenn kurz nach der Wiedervereinigung relativ viele Menschen aus der ehemaligen DDR zuzogen. Der Bericht findet keinen Beleg für die These, dass wirtschaftliche Veränderungen diese Effekte verursachten. Ein möglicher Erklärungsansatz dafür ist vielmehr, dass sich die sozialen und kulturellen Normen in westdeutschen Regionen durch den Zuzug veränderten, da für die Zugezogenen Familien- und Erwerbsarbeit besser vereinbar waren. In der DDR sozialisierte Menschen, die nach Westdeutschland gezogen sind, könnten neben dem Umfang der Erwerbstätigkeit also auch die Einstellungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Westdeutschland beeinflusst haben.

Der dritte Beitrag befasst sich mit dem Renteneinkommen und anderen Alterseinkommen in Ost- und Westdeutschland. Hermann Buslei, Johannes Geyer und Peter Haan zeigen, dass im Durchschnitt ostdeutsche Männer und noch ausgeprägter ostdeutsche Frauen höhere Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen als vergleichbare Personen in Westdeutschland. Der Unterschied bei den Frauen muss auch in Zusammenhang mit der höheren Erwerbstätigkeit derselben in Ostdeutschland gesehen werden. Dennoch beziehen die Westdeutschen insgesamt sehr viel höhere Alterseinkommen, wenn auch andere Einkommenskomponenten, insbesondere die privaten und betrieblichen Renten sowie die Vermögenseinkommen, berücksichtigt werden. Den heutigen Rentnerinnen und Rentnern, die vor allem in der DDR erwerbstätig waren, fehlte meist die Möglichkeit, Vermögen oder private Rentenanwartschaften aufzubauen. Um die jüngeren Generationen besser zu wappnen und die Renteneinheit voranzutreiben, empfehlen die Autoren beispielsweise eine geeignete Kombination aus verpflichtender privater oder betrieblicher Altersvorsorge und finanzieller Unterstützung durch den Staat.

Der vierte Bericht geht der Frage nach, inwiefern sich die Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland in Hinblick auf ihr Wohlbefinden unterscheidet. Dazu haben sich Stefan Liebig, Laura Buchinger, Theresa Entringer und Simon Kühne aktuelle Daten aus der Zeit des Corona-Lockdowns angeschaut. Zwar haben sich Ost- und Westdeutsche in Hinblick auf die allgemeine Lebenszufriedenheit in den vergangenen 30 Jahren deutlich angenähert, gleichwohl es noch Unterschiede gibt. Mit dem Beginn der Maßnahmen zum Infektionsschutz in der Corona-Krise zeigen sich aber wieder unterschiedliche Entwicklungspfade: Bei den Ostdeutschen steigt zunächst die Einsamkeit stärker an als im Westen – fällt aber wiederum rascher ab als im Westen. Im Osten lebende Frauen sind stärker mental betroffen als Männer und Frauen in Westdeutschland. Allerdings erweisen sich jüngere Kohorten im Osten krisenresilienter als ihre AltersgenossInnen im Westen und insbesondere ältere Generationen im Osten.

Insgesamt zeigen die vier Berichte, dass sich in den vergangenen 30 Jahren die beiden Teile Deutschlands angenähert haben, wenn es um die Erwerbstätigkeit und die Erwerbseinstellungen von Frauen und insbesondere Müttern geht. So haben sich Entwicklungen im Westen an die des Ostens angepasst, aber auch umgekehrt. Dennoch bleiben Unterschiede bestehen – vor allem beim Alterseinkommen. Die deutsche Einheit ist nach 30 Jahren vielfach vollzogen – dennoch müssen in manchen Bereichen noch die Folgen von Unterschieden in der Vergangenheit angegangen werden.

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