DIW Wochenbericht 38 / 2020, S. 721-729
Stefan Liebig, Laura Buchinger, Theresa Entringer, Simon Kühne
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„Insbesondere die Entwicklung der depressiven Gestimmtheiten sollte weiter beobachtet werden. Sollte sie weiter ansteigen, könnte dies bedeutsame gesellschaftliche Auswirkungen haben. In der öffentlichen Debatte sollte stärker betont werden, welche Fortschritte bei der Bekämpfung der Pandemie erzielt wurden, damit sich das Bild der Ausweglosigkeit nicht verfestigt.“ Stefan Liebig
Bei der Lebenszufriedenheit haben sich Ost- und Westdeutsche seit der Wiedervereinigung deutlich angenähert, wenn auch die in Ostdeutschland lebenden Menschen weiterhin weniger zufrieden sind als die in Westdeutschland. Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Krise könnte diese Annäherung nun umkehren. Untersuchungen auf Basis der SOEP-CoV-Befragung zeigen aber, dass dies nicht der Fall ist, gleichwohl aber Unterschiede in den Reaktionen zu beobachten sind. So steigen die Einsamkeit und die depressive Gestimmtheit bei den im Osten lebenden Menschen im April mit Beginn der Eindämmungsmaßnahmen zwar signifikant stärker als bei den im Westen lebenden Menschen, sinken dafür aber mit den Lockerungen auch wieder schneller. Differenziertere Analysen zeigen zudem, dass die psychische Verfasstheit auch mit Faktoren wie Einkommen, Geschlecht und Alter zusammenhängt. Im Osten lebende Frauen sind stärker psychisch in Mitleidenschaft gezogen als Männer und Frauen in Westdeutschland. Dafür erweist sich aber die junge, im Osten lebende Generation der unter 35-Jährigen als psychisch krisenfester als ihre Altersgenossen im Westen und insbesondere ältere Generationen im Osten.
Die zur Eindämmung der Corona-Pandemie eingeleiteten Maßnahmen und die damit verbundenen Einschränkungen limitieren nicht nur das ökonomische Leben, sondern greifen auch in die soziale und private Lebensgestaltung ein. Auch wenn viele Einschränkungen mittlerweile wieder gelockert wurden, können diese Einschnitte in die Lebensqualität maßgeblich für das individuelle Wohlergehen, die psychische Gesundheit und die allgemeine Lebenszufriedenheit sein. Umfragen in der ersten Hälfte des Jahres zeigen, dass sich die meisten Deutschen keine Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation machten.Carsten Schröder et al. (2020): Vor dem Covid-19-Virus sind nicht alle Erwerbstätigen gleich. DIW aktuell 41 (online verfügbar, abgerufen am 20.08.2020. Dies gilt für alle Online-Quellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt.). Hier gilt sicherlich auch, dass eine sehr große Mehrheit aufgrund der positiven ökonomischen Entwicklung der letzten Jahre und dem seit 2004 kontinuierlich ansteigenden Niveau der allgemeinen Lebenszufriedenheit gleichsam gut gerüstet ist.Jan Goebel, Markus Grabka und Stefan Liebig (2019): Wiederanstieg der Einkommensungleichheit – aber auch deutlich steigende Realeinkommen. DIW Wochenbericht 19, 343–353 (online verfügbar).
In diesem Zusammenhang wichtig ist jedoch die Beobachtung, dass die Pandemie nicht alle in gleicher Weise trifft, sondern einzelne Bevölkerungsgruppen, wie etwa Frauen oder bestimmte Altersgruppen, besonders betroffen sind. Auffällig ist dabei, dass eine in den öffentlichen Debatten in Deutschland seit nunmehr dreißig Jahren beständig präsente Konfliktlinie bislang wenig Beachtung gefunden hat: die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Immer noch bestehen zwischen Ost- und Westdeutschland ökonomische und strukturelle Unterschiede. Beispielsweise ist die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland geringer, die Arbeitslosenquote höher, das Durchschnittsalter höher und die Bevölkerungsdichte niedriger. Diese ökonomischen und strukturellen Unterschiede wirken sich auch auf das psychische Wohlbefinden der Einzelnen aus: Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit haben sich zwar über die letzten 30 Jahre angenähert, sind bei den in Ostdeutschland lebenden Menschen jedoch noch immer geringer als bei denen in Westdeutschland.Vgl. Maximilian Priem, Franziska Kaiser und Jürgen Schupp (2020): Zufriedener denn je – Lebensverhältnisse in Deutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall. ISI 64, 7–15 (online verfügbar).
Die durch die Corona-Pandemie hervorgerufene Krise geht mit massiven ökonomischen Belastungen sowie Einschränkungen der Freiheitsrechte in beiden Landesteilen einher. Gleichzeitig betrifft die Pandemie die Landesteile sehr unterschiedlich: Die Fallzahlen sind in Ostdeutschland weitaus geringer als in Westdeutschland.Vgl. auf der Website des Robert-Koch-Instituts: COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit (online verfügbar). Da die Vorbedingungen in beiden Landesteilen so unterschiedlich sind, ist damit zu rechnen, dass die Krise Unterschiede erneut verstärkt.
Dieser Bericht untersucht deshalb, ob im subjektiven Erleben und im subjektiven Umgang mit den Beschränkungen der aktuellen Pandemie Unterschiede zwischen den in Ost- und Westdeutschland lebenden Menschen deutlich werden und dementsprechend 30 Jahre nach der Vereinigung weiterhin eine „Mauer zwischen den Köpfen“ existiert.
Um die potentiell unterschiedlichen Auswirkungen der Corona-bedingten Einschränkungen auf die subjektive psychische Verfasstheit in Ost und West zu untersuchen, werden die Daten der SOEP-CoV-Studie verwendet. In dieser Studie des DIW Berlin und der Universität Bielefeld wurden ungefähr 6700 Haushalte, die regelmäßig an der Längsschnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) teilnehmen, telefonisch von April bis Juli 2020 befragt (Kasten). Von Interesse sind für diesen Bericht insbesondere vier Indikatoren, die grundlegende psychische Verfasstheiten erfassen. Diese verweisen darauf, wie Personen die Einschränkungen des sozialen Lebens im Allgemeinen und ihrer eigenen sozialen Kontakte wahrnehmen und damit emotional umgehen.
Die Datengrundlage dieses Berichts ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) und die darin eingebettete SOEP-CoV-Studie. Das SOEP ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 durchgeführt wird. Das SOEP enthält eine Vielzahl an Informationen zu den Befragten auf individueller und Haushaltsebene. Hierzu zählen neben soziodemografischen Charakteristika (Haushaltszusammensetzung, Wohnort, Alter und Geschlecht der Haushaltsmitglieder, Einkommen etc.) Informationen zum Erwerbsstatus (Arbeitszeit, Branche, Erwerbseinkommen, Anzahl der Mitarbeiter im Betrieb etc.) sowie Fragen zu Gesundheit, Sorgen oder Lebenszufriedenheit.Für mehr Informationen zum SOEP siehe Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 239(2), 345–360.
SOEP-CoV ist ein Verbundprojekt der Universität Bielefeld und dem SOEP am DIW Berlin, das seit dem 1. April 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förderaufrufs zur „Erforschung von COVID-19 im Zuge des Ausbruchs von Sars-CoV-2“ gefördert wird. Die SOEP-CoV-Studie richtet sich an alle Haushalte der SOEP-Kernstichproben, wobei in jedem Haushalt im Zeitraum von 1. April bis 5. Juli 2020 jeweils eine Person telefonisch zu ihrer beruflichen und familiären Situation, zu ihren Sorgen und ihrer Gesundheit sowie zu Erwartungen und Meinungen befragt wurde.Nähere Information zu SOEP-CoV finden sich unter http://www.soep-cov.de sowie im SOEP-CoV-Methodenpapier von Simon Kühne et al. (2020): The Need for Household Panel Surveys in Times of Crisis: The Case of SOEP-CoV. Survey Research Methods, 14(2), 195–203 (online verfügbar).
Die Analysen in diesem Wochenbericht beruhen auf den Angaben von 4330 Personen, die aktuell in den alten Bundesländern wohnen (West) und 1287 Personen aus den neuen Bundesländern (Ost). Die Daten der SOEP-CoV-Studie bieten bei der Analyse von Ost-West-Unterschieden zwei zentrale Vorteile: Erstens wurden zur Messung von Einsamkeit, depressiver Gestimmtheit und affektivem Wohlbefinden Indikatoren verwendet, die bereits seit einigen Jahren in der SOEP-Hauptstudie verwendet werden. Damit lässt sich nicht nur die Veränderung im Frühjahr 2020 im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren abschätzen, sondern auch feststellen, ob mögliche Unterschiede zwischen den Landesteilen kleiner oder größer wurden oder gleichgeblieben sind. Ein zweiter Vorteil der Daten besteht darin, dass die SOEP-Haushalte über einen längeren Zeitraum befragt wurden. Zwar wurde jeder Haushalt nur einmal befragt, doch erfolgte die Erhebung im Zeitraum der 14. bis 27. Kalenderwoche des Jahres 2020 in insgesamt neun zeitversetzten und im Umfang unterschiedlichen Tranchen.Die Feldzeit für Tranche 1 bis 4 betrug jeweils zwei Wochen (mit einer zusätzlichen Woche Nachbearbeitung), für Tranche 5 bis 9 jeweils eine Woche. Die folgenden Analysen stützen sich auf folgende Fallzahlen in den einzelnen Tranchen: Tranche 1 (KW 14–16) 1097 (West)/333 (Ost), Tranche 2 (KW 16–18) 1291/333, Tranche 3 (KW18–20) 616/205, Tranche 4 (KW 20–22) 379/150, Tranche 5 (KW 22–23) 198/58, Tranche 6 (KW 23–24) 194/63, Tranche 7 (KW 24–25) 180/52, Tranche 8 (KW 25–26) 191/50, Tranche 9 (KW 26–27) 184/43. Damit können Veränderungen im Zeitverlauf über die Haushalte hinweg beobachtet werden. Dies ist auch deshalb wichtig, weil der von SOEP-CoV erfasste Zeitraum im Prinzip drei Phasen abdeckt: Die Phase des kompletten Lockdowns vom 1. bis 18. April (Phase 1), die Phase der schrittweisen Öffnung in einzelnen Bundesländern vom 19. April bis 30. Mai (Phase 2) und schließlich die weitgehende auch bundesweite Lockerung vieler Einschränkungen ab dem 1. Juni bis 5. Juli (Ende der Befragung) (Phase 3).
Die vier Indikatoren Einsamkeit, depressive Gestimmtheit, affektives Wohlbefinden und positiver Bewertungsstil haben unterschiedliche Skalen: Die Einsamkeit wurde auf einer Skala von 0 bis 4 bewertet, die depressive Gestimmtheit auf einer Skala von 0 bis 12, das affektive Wohlbefinden auf einer Skala von 4 bis 20 und der positive Bewertungsstil auf einer Skala von 5 bis 20.
Dies ist erstens das Gefühl von Einsamkeit, das insbesondere in der Zeit des Lockdowns unmittelbar durch die Kontaktbeschränkungen bestimmt worden sein könnte. Zweitens beleuchtet dieser Bericht das affektive Wohlbefinden. Dieses erfasst, inwieweit die eigene Stimmungslage durch Gefühle der Traurigkeit, des Ärgers, der Angst und des Glücks bestimmt ist. Sowohl bei der Einsamkeit als auch beim affektiven Wohlbefinden geht es darum, die individuellen emotionalen Folgeeffekte und das subjektive Erleben der pandemiebedingten Einschränkungen des Alltags abzubilden. Die Einschränkungen der sozialen Kontakte, die darüber hinaus gehenden Verhaltensregeln (zum Beispiel das Tragen von Masken, Begrenzungen im Zugang zu Geschäften etc.) sowie die ständige Unsicherheit, sich zu infizieren, stellen eine neuartige Qualität von Stresssituationen dar, die sich auch in psychischen Krankheitssymptomen zeigen können.Jianyin Qui et al. (2020): A nationwide survey of psychological distress among Chinese people in the COVID-19 epidemic: implications and policy recommendations. General psychiatry, 33, e100213.
Gerade die allgegenwärtige Unsicherheit und Unausweichlichkeit der Situation gekoppelt mit fehlenden Handlungsmöglichkeiten sowie die eingeschränkten Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit nahestehenden Personen können die Entstehung depressiver Gestimmtheit begünstigen. Deshalb betrachtet dieser Bericht als dritten Indikator einer psychischen Verfasstheit die depressive Gestimmtheit, die sich in einem geringen Interesse, einer Niedergeschlagenheit und Nervosität sowie dem Gefühl äußert, das Nachdenken über Sorgen nicht stoppen zu können.
Der vierte Indikator ist die positive Bewertung von Stresssituationen. Die Forschung zu den Folgen von und dem Umgang mit Stresssituationen zeigt, dass die Übersetzung von Stresssituationen in psychische Krankheitssymptome damit zusammenhängt, wie Personen die Stresssituationen wahrnehmen und deuten.Susan Folkman und Judith T. Moskowitz (2000): Stress, Positive Emotion and Coping. Current Directions in Psychological Science, 9, 115-118; Richard G. Tedeschi, Crystal L. Park und Lawrence G. Calhoun (1998): Posttraumatic growth: Positive changes in the aftermath of crisis. Lawrence Erlbaum Associates Publishers; Raffael Kalisch et al. (2020): A generic solution for the operationalization and measurement of resilience and resilience processes in longitudinal observations: rationale and basic design of the MARP and LORA studies (doi: 10.31234/osf.io/jg238). Neben den belastenden Situationen selbst entscheidet die Art und Weise, wie die Situation subjektiv bewertet wird, ob Stress und darauf aufsetzende Krankheiten entstehen oder nicht. Ein positiver Bewertungsstil führt dazu, dass Stresssituationen weniger belastend erfahren werden. Dies schützt vor stressbedingten Erkrankungen und fördert die Resilienz, das heißt die psychische Widerstandsfähigkeit des Einzelnen.
Für die vier Indikatoren psychischer Verfasstheiten fragt dieser Bericht zunächst, ob sie sich zwischen im Osten und im Westen lebenden Menschen unterscheiden. Die Daten der SOEP-CoV-Studie erlauben es, dies zunächst für die Zeit vor dem Beginn der Pandemie zu betrachten – mit Ausnahme des positiven Bewertungsstils. Dazu kann auf unterschiedlich lange Zeitreihen zurückgegriffen werden.
Für die Indikatoren Einsamkeit und depressive Gestimmtheit zeigen die Daten einen Anstieg während der Pandemie im Vergleich zu den Vorjahren (Abbildung 1). Dieser Anstieg ist für die depressive Gestimmtheit allerdings nur im Vergleich mit dem Jahr 2019 signifikant und befindet sich während der Pandemie auf einem ähnlichen Niveau wie 2016.
Betrachtet man das Niveau des affektiven Wohlbefindens über einen längeren Zeitraum, so zeigt sich zunächst, dass sich dieses seit 2014 auf einem vergleichsweise stabilen Niveau in beiden Landesteilen bewegt (Abbildung 2). Bemerkenswert ist hier der Vergleich zur Folgezeit einer anderen „Krisenerfahrung“ – der Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009. In ihrer Folge sank das affektive Wohlbefinden deutlich ab – jedoch nicht unmittelbar, sondern zeitversetzt im Jahr 2010.
Am Verlauf der Linien für Ost- und Westdeutschland wird deutlich, dass es vor 2013 für mehrere Jahre statistisch signifikante Unterschiede zwischen Ost und West gab, sichtbar an den nicht überlappenden Konfidenzintervallen. In den vergangenen sieben Jahren finden sich derartige Unterschiede jedoch nicht mehr. Ein Zeichen dafür, dass sich die Lebensbedingungen in den beiden vormals getrennten Regionen angeglichen haben. Auch im Zuge der Corona-Krise ist das affektive Wohlbefinden bis Anfang Juli nicht merklich abgesunken.
Es ist möglich, dass die emotionalen und psychischen Folgen der Kontaktbeschränkungen und der darüber hinaus gehenden Maßnahmen erst mit deren Dauer und über die Zeit sichtbar oder wirksam werden. Es ist bekannt, dass insbesondere lang andauernde Stresssituationen zu psychischen oder auch physischen Krankheitssymptomen führen.Vgl. dazu etwa Ulfert Hapke et al (2013): Chronischer Stress bei Erwachsenen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 56(5-6), 749–754. Die Einschränkungen des sozialen Lebens verändern sich aber auch in dem hier betrachteten Zeitraum. Während in der ersten Phase des Lockdowns sehr weitreichende Beschränkungen sozialer Kontakte bestanden, wurden diese seit Mitte April schrittweise gelockert (Kasten).
Mit den vorliegenden SOEP-CoV-Daten kann die Entwicklung der psychischen Verfasstheiten im Zeitverlauf von April bis Juni 2020 für die beiden Regionen nachgezeichnet werden (Abbildung 3). Am Mittelwert des Indikators Einsamkeit für Ost- und Westdeutschland in den drei Phasen der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie wird deutlich,Bei den berichteten Mittelwerten handelt es sich um marginale Effekte auf der Grundlage eines linearen Regressionsmodells, wie es in Tabelle 1 berichtet wird. Es werden im Text nur solche Mittelwertunterschiede diskutiert, die in diesem Modell auch statistisch signifikant sind. dass das Einsamkeitsgefühl in der Zeit des Lockdowns (Phase 1) bei den in Ostdeutschland lebenden Menschen höher ist als bei den in Westdeutschland lebenden. Die depressive Gestimmtheit ist bei den in Ostdeutschland lebenden Menschen dagegen zunächst geringer. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass im Osten lebende Menschen, verglichen mit im Westen lebenden, Stresssituationen grundsätzlich weniger positiv bewerten.
Was die Entwicklung der wahrgenommenen Einsamkeit anbelangt, so nimmt diese über den Zeitverlauf erwartungsgemäß ab. Nach den Lockerungen der Kontaktbeschränkungen fühlen sich die Menschen in Ost- und Westdeutschland weniger einsam. Im Westen ist ein leichter Zeitverzug zu beobachten. Die Absenkung wird erst Anfang Juni sichtbarer und ist weniger stark als im Osten, weshalb im Juni das Einsamkeitsgefühl bei in Ostdeutschland lebenden Menschen geringer ist als bei in Westdeutschland lebenden Menschen. Eine naheliegende Ursache für diese Entwicklung in den Landesteilen ist sicherlich das unterschiedliche Vorgehen der einzelnen Bundesländer bei der Lockerung. In Ostdeutschland wurden Kontaktbeschränkungen schneller und weitreichender gelockert – auch aufgrund der geringeren Infektionszahlen.
Für das affektive Wohlbefinden liegen in der Phase des Lockdowns zunächst keine statistisch signifikanten Ost-West- Unterschiede vor. Im weiteren Verlauf der Pandemie sinkt es in beiden Landesteilen; auch hier ist die Entwicklung im Westen zeitversetzt. In beiden Regionen ist außerdem ein Anstieg der depressiven Gestimmtheit zu verzeichnen. Dieser Anstieg beginnt in Ostdeutschland bereits in der zweiten Aprilhälfte (Phase 2) unmittelbar nach dem Lockdown und setzt sich im Juni durch einen weiteren Anstieg fort. Auch hier ist für Westdeutschland ein zeitversetzter Anstieg der depressiven Gestimmtheit zu beobachten – dieser setzt erst im Juni ein. Zu diesem Zeitpunkt unterscheiden sich die beiden Regionen nicht mehr statistisch signifikant. Eine mögliche Erklärung ist, dass die mit der Pandemie einhergehenden Einschränkungen zunehmend als belastend empfunden werden und sich dieser anhaltende Stress beginnt, auf die Psyche auszuwirken.
Gleichzeitig wächst aber bei den in Ostdeutschland lebenden Menschen die Tendenz, sich mit der gegebenen Situation zu arrangieren. So liegt die positive Bewertung der vorliegenden Stresssituation in der dritten Phase der Corona-Beschränkungen um mehr als 0,5 Punkte und statistisch signifikant höher als in der ersten Phase. Die Ansicht, die Situation sei im Vergleich nicht so schlimm und man müsse sie akzeptieren, nimmt im Osten deutlich zu und erreicht in der dritten Phase das Niveau von Westdeutschland.
Insgesamt stützen die Befunde die These, dass die Einschränkungen während der Pandemie Auswirkungen auf die psychischen Verfasstheiten haben. Mit Dauer der Beschränkungen nimmt das affektive Wohlbefinden leicht ab, ein Zeichen dafür, dass diese mit zunehmender Dauer auch als stärker belastend wahrgenommen werden. Die Befunde zeigen auch, dass es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt. Zwar sind diese – im Fall der Einsamkeit und des affektiven Wohlbefindens – durchaus kongruent mit den unterschiedlichen Lockerungsstrategien der einzelnen Bundesländer in der zweiten Phase des hier betrachteten Zeitraums. Gleichwohl lassen sich auch Entwicklungen beobachten – etwa die Zunahme der depressiven Gestimmtheit und des positiven Bewertungsstils –, die darauf verweisen, dass Menschen in Ost- und Westdeutschland in eigener Weise auf die Pandemie reagieren.
Eine verallgemeinernde Rede von „den“ Ost- oder Westdeutschen erfasst 30 Jahre nach der Vereinigung nicht das gesamte Bild. Zum einen hat in den letzten Jahrzehnten eine beträchtliche Binnenmigration stattgefunden. Zum anderen hatte bereits die sozialwissenschaftliche Transformationsforschung der 1990er-Jahre früh darauf aufmerksam gemacht, dass schon in den ersten Jahren nach der Vereinigung Unterschiede in Mentalitäten, Einstellungen oder Präferenzen durch einzelne sozialstrukturelle Gruppen und deren Erfahrungen in der DDR sowie im Transformationsprozess getragen waren. Umso notwendiger ist eine differenzierte Betrachtung – gerade vor dem Hintergrund der neueren Diskussionen um „ostdeutsche Identitäten“Vgl. dazu etwa Jörg Ganzenmüller (2020): Ostdeutsche Identitäten: Selbst- und Fremdbilder zwischen Transformationserfahrung und DDR-Vergangenheit, in: Deutschland Archiv, 24.4.2020 (online verfügbar). und den spezifischen ostdeutschen Erfahrungen der letzten 30 Jahre – auch bei der Frage nach den durch die Pandemie verursachten psychischen Verfasstheiten. Deshalb sollen zunächst allgemeine strukturelle Bedingungsfaktoren, wie der zeitliche Verlauf der Pandemie, das Bildungsniveau, aber auch der Zusammenhang von psychischer Verfasstheit und dem verfügbaren Haushaltsnettoeinkommen untersucht werden.
Darüber hinaus stehen aber zwei Gruppen genauer im Fokus der Analysen, die in den öffentlichen Debatten der vergangenen Wochen als von der Pandemie besonders Betroffene diskutiert wurden: Frauen und jüngere Menschen. Frauen sind aufgrund der nach wie vor bestehenden Rollenverteilung von den Einschränkungen des Schulbetriebs sowie der Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und Pflegebedürftige stärker betroffen. Auch wenn es die Tendenz gibt, dass Männer ihren zeitlichen Aufwand für Hausarbeit und Kinderbetreuung insgesamt erhöhen, so gilt weiterhin, dass Frauen die Hauptlast in beiden Bereichen tragen.Sabine Zinn, Michaela Kreyenfeld und Michael Bayer (2020): Kinderbetreuung in Corona-Zeiten: Mütter tragen die Hauptlast, aber Väter holen auf. DIW aktuell 51 (online verfügbar). Untersuchungen zu Unterschieden in der psychischen Verfasstheit zwischen Ost- und Westdeutschland legen außerdem nahe, dass Unterschiede durch den weiblichen Teil der Bevölkerung verursacht werden. Auch wenn sich in den vergangenen Jahren in der Gesamtstichprobe der Befragten keine oder nur unwesentliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland finden, zeigt die gruppenspezifische Betrachtung, dass im Osten deutlich mehr Frauen (nicht aber Männer) als im Westen an psychischen Störungen erkrankten.Frank Jacobi et al. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Der Nervenarzt, 85(1), 77–87 sowie Robert Koch-Institut (Hrsg) (2014): Seelische Belastungen. Faktenblatt zu GEDA 2012: Ergebnisse der Studie Gesundheit in Deutschland aktuell 2012. RKI, Berlin (online verfügbar). Auch die Lebenszufriedenheit war bei Frauen in Ostdeutschland in den vergangenen Jahren noch niedriger als bei Männern.Felicitas Belok und Rainer Faus (2017): Kartographie der politischen Landschaft in Deutschland. Gutachten für die Friedrich-Ebert Stiftung. Die wichtigsten Ergebnisse in Ostdeutschland. Empirische Sozialforschung, 8.
Die zweite Gruppe sind jüngere Personen unter 35 Jahren. In dieser Gruppe finden sich junge Familien, die von den Einschränkungen in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen in besonderer Weise betroffen sind. Darüber hinaus beeinträchtigen die Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum und im kulturellen Bereich diese Altersgruppe besonders stark, da sie ein von den älteren Altersgruppen unterschiedliches Freizeitverhalten aufweisen. Die Betrachtung der Altersgruppe der unter 35-Jährigen – die Nachwendegeneration – ist darüber hinaus auch mit dem Blick auf die Frage nach bestehenden Ost-West-Unterschieden sinnvoll. So ist zum einen denkbar, dass sich Unterschiede vor allem in den älteren, DDR-sozialisierten Generationen finden, während sich jüngere Generationen mehr und mehr kulturell gleichen. Zum anderen ist es aber auch denkbar, dass sich die ökonomischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland insbesondere in der jüngeren Generation zunehmend in einer schlechteren psychischen Verfasstheit ausdrücken.Rainer Faus und Simon Storks (2019): Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten. OBS-Studie zur ersten Nachwendegeneration. OBS Arbeitsheft, 96.
Um die strukturellen Bedingungsfaktoren sowie mögliche Ost-West-Unterschiede in den psychischen Verfasstheiten der Frauen und den Angehörigen der Nachwendegeneration identifizieren zu können, wird auf Ergebnisse multivariater, linearer Regressionsschätzungen zurückgegriffen. Dabei wird zwischen erklärenden Variablen (Region, Phasen des Lockdowns, Geschlecht und Alter) unterschieden. Zusätzlich wird eine Reihe von Kontrollvariablen einbezogen (Bildung, Einkommen, Gesundheit und Wohnsituation) (Tabelle1).
Durchschnittliche Abweichungen vom Mittelwert der vier Indikatoren (lineares Regressionsmodell)1
Einsamkeit | Affektives Wohlbefinden | Depressive Gestimmtheit | Positiver Bewertungsstil | |
---|---|---|---|---|
Ost-West Unterschiede und Zeitverlauf | ||||
Wohnregion(Ost = 1) | 0,1578*** | 0,1067 | −0,2861* | −0,5859*** |
Zeitlicher Verlauf nach Region(Referenzzeitraum: 1. Phase, 1. bis 18. April) | ||||
West, 2. Phase(19. April bis 30. Mai) | −0,0166 | −0,0248 | 0,0703 | 0,0280 |
West, 3. Phase(1. Juni bis 5. Juli) | −0,2166*** | −0,3483** | 0,1938* | −0,0421 |
Ost., 2. Phase(19. April bis 30. Mai) | −0,1917*** | −0,3507* | 0,7171*** | 0,0984 |
Ost, 3. Phase(1. Juni bis 5. Juli) | −0,5241*** | −0,3190 | 0,3002+ | 0,5633** |
Kontrollvariablen | ||||
Alter (in Jahren) | −0,0048*** | 0,0000 | −0,0178*** | −0,0004 |
Geschlecht(Frau = 1) | 0,2546*** | −1,0973*** | 0,5446*** | 0,0651 |
Bildung (Referenz: niedrige Bildung) | ||||
Mittlere Bildungsabschlüsse | 0,0130 | 0,0420 | −0,2152** | 0,3362*** |
Höhere Bildungsabschlüsse | −0,0616+ | 0,1350 | −0,2713** | 0,7911*** |
Erwerbstätigkeit (=1) | −0,0129 | −0,1076 | −0,2942*** | 0,0415 |
Vorerkrankungen | 0,0767** | −0,2954*** | 0,1044 | −0,0935 |
Einkommensposition (Quintile des Haushaltsäquivalenzeinkommen) (Referenz: unterste 20 Prozent) | ||||
20–40 Prozent der Haushalte | 0,0024 | 0,5960*** | −0,4743*** | 0,4811*** |
40–60 Prozent | −0,0276 | 0,8654*** | −0,4951*** | 0,4279*** |
60–80 Prozent | −0,0540 | 0,9751*** | −0,7045*** | 0,4627*** |
Oberste 20 Prozent der Haushalte | −0,0865* | 1,0545*** | −0,7572*** | 0,6202*** |
Einpersonenhaushalte(Referenz: Mehrpersonenhaushalte) | 0,0222 | 0,0381 | −0,1042 | 0,1485+ |
Kinder im Haushalt(Referenz: keine Kinder) | 0,0953** | −0,0716 | −0,1177 | 0,1055 |
Entfernung der Wohnung von einer Großstadt (1 Whg. liegt im Großstadtzentrum …6 …60 km und mehr) | 0,0101 | −0,0213 | −0,0020 | −0,0507* |
Haushalt in Einfamilienhaus(Referenz: Mehrfamilienhaus) | −0,0556* | 0,3651*** | −0,2635*** | 0,2116* |
Wohnfläche in qm | 0,0001 | 0,0004 | −0,0013 | −0,0002 |
Konstante | 2,8355*** | 14,5337*** | 4,1131*** | 13,8367*** |
R2 | 0,0609 | 0,0815 | 0,0760 | 0,0350 |
N | 5777 |
1 Für Einsamkeit auf einer Skala von 0 bis 4, für affektives Wohlbefinden auf einer Skala von 4 bis 20, für positiven Bewertungsstil auf einer Skala von 5 bis 20 und für die depressive Gestimmtheit auf einer Skala von 0 bis 12.
Signifikanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,5, ** p < 0,01, *** p < 0,001
Lesehilfe: Bei den Werten zur Einsamkeit zeigt sich, dass das Alter ein signifikanter Faktor für Einsamkeit ist: Mit zunehmendem Alter geht die Einsamkeit pro Lebensjahr durchschnittlich um 0,0048 Punkte zurück (auf einer Skala von 0 bis 4), vorausgesetzt alle weiteren Variablen wie Geschlecht, Herkunft, Bildung, Einkommen etc. sind gleich.
Quellen: SOEP-CoV und SOEP v36 mit Vorabdaten 2019
Ein Blick auf die Ergebnisse zeigt zunächst, dass die untersuchten psychischen Verfasstheiten stark durch sozioökonomische Faktoren beeinflusst werden: So ist mit einem höheren Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen eine geringere Einsamkeit, ein höheres affektives Wohlbefinden, eine niedrigere depressive Gestimmtheit sowie eine positive Bewertung von Stresssituationen verbunden.
Dabei unterscheiden sich Frauen klar von Männern. Sie fühlen sich einsamer, berichten ein niedrigeres affektives Wohlbefinden und eine höhere depressive Gestimmtheit. Frauen in Ost- und Westdeutschland sind sich mit Blick auf Einsamkeit und affektives Wohlbefinden ähnlich (Tabelle 2). Sie unterscheiden sich zu Frauen in Westdeutschland jedoch in einem höheren Niveau an depressiver Gestimmtheit und einer geringeren positiven Bewertung von Stresssituationen.
Durchschnittliche Abweichungen vom Mittelwert der vier Indikatoren (lineares Regressionsmodell)1
Einsamkeit | Affektives Wohlbefinden | Depressive Gestimmtheit | Positiver Bewertungsstil | |||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
West | Ost | West | Ost | West | Ost | West | Ost | |
Geschlecht(Frau = 1) | 0,2600*** | 0,2477*** | −1,1488*** | −0,9348*** | 0,4720*** | 0,8270*** | 0,0407 | 0,1170 |
Altersgruppe der bis 35 Jährigen(Referenz: Älter 34 Jahre) | 0,1169*** | −0,0718 | 0,1466 | 0,5265** | 0,5424*** | 0,3097+ | −0,0849 | 0,8491*** |
Bildung (Ref. niedrige Bildung) | ||||||||
Mittlere Bildungsabschlüsse | 0,0159 | 0,0852 | −0,0088 | 0,1588 | −0,1271+ | −0,2538 | 0,4464*** | 0,0311 |
Höhere Bildungsabschlüsse | −0,0732* | 0,0078 | 0,1674 | −0,0238 | −0,2811** | −0,1947 | 0,7739*** | 0,8734*** |
Erwerbstätigkeit (=1) | 0,0340 | 0,1237* | −0,1529 | −0,0388 | 0,0089 | −0,3119* | −0,0445 | 0,3421* |
Vorerkrankungen | 0,0209 | 0,1967*** | −0,2217* | −0,4240** | 0,1027 | −0,0774 | −0,0648 | −0,1692 |
Einkommensposition(Referenz: unterste 20 Prozent) | ||||||||
20–40 Prozent der Haushalte | −0,0272 | −0,0147 | 0,5542*** | 0,7695*** | −0,3710*** | −0,9424*** | 0,3673** | 0,7943*** |
40–60 Prozent | −0,0321 | −0,1225+ | 0,7383*** | 1,2365*** | −0,4473*** | −0,8905*** | 0,2622+ | 0,8883*** |
60–80 Prozent | −0,0767+ | −0,0821 | 0,9514*** | 1,0732*** | −0,7196*** | −0,7216*** | 0,3377* | 0,7391** |
Oberste 20 Prozent der Haushalte | −0,1210* | 0,0736 | 1,0532*** | 1,0248*** | −0,7627*** | −0,6870** | 0,5496*** | 0,7738** |
Einpersonenhaushalte(Referenz: Mehrpersonenhaushalte) | 0,0011 | 0,0722 | 0,1296 | −0,2599 | −0,2093** | 0,0903 | 0,1592 | −0,0345 |
Kinder im Haushalt(Referenz: keine Kinder) | 0,1168*** | 0,2436*** | 0,0689 | −0,7301*** | −0,0504 | 0,5255** | 0,1276 | −0,1673 |
Entfernung der Wohnung von einer Großstadt (6 Entfernungskategorien) | 0,0251** | −0,0388** | −0,0167 | −0,0403 | −0,0062 | −0,0017 | −0,0095 | −0,1279** |
Haushalt in Einfamilienhaus(Referenz: Mehrfamilienhaus) | −0,0712* | 0,0009 | 0,3313*** | 0,5322** | −0,2900*** | −0,1352 | 0,2689** | 0,0940 |
Wohnfläche in qm | −0,0000 | −0,0002 | 0,0005 | 0,0026 | −0,0008 | −0,0068** | −0,0005 | −0,0009 |
Konstante | 2,5408*** | 2,6827*** | 14,5255*** | 14,4054*** | 2,8106*** | 3,1327*** | 13,7931*** | 13,2870*** |
R2 | 0,0533 | 0,105 | 0,0805 | 0,1088 | 0,0640 | 0,1263 | 0,0256 | 0,0936 |
1 Für Einsamkeit auf einer Skala von 0 bis 4, für affektives Wohlbefinden auf einer Skala von 4 bis 20, für positiven Bewertungsstil auf einer Skala von 5 bis 20 und für die depressive Gestimmtheit auf einer Skala von 0 bis 12.
Anmerkung: gewichtet (vgl. https://www.soep-cov.de/Gewichtung/)
Signifikanzniveaus: + p < 0,10, * p < 0,5, ** p < 0,01, *** p < 0,001
Lesehilfe: In der Corona-Krise leiden Frauen in Ost und West stärker unter Einsamkeit als Männer. Frauen sind im Westen 0,2600 und im Osten 0,2477 Punkte auf einer Skala von 0 bis 4 einsamer als Männer, vorausgesetzt alle weiteren Variablen wie Alter, Herkunft, Bildung, Einkommen etc. sind gleich.
Quellen: SOEP-CoV und SOEP v36 mit Vorabdaten 2019; eigene Berechnungen.
Da sich auch die Männer im Osten bei Letzterem von ihren Geschlechtsgenossen im Westen unterscheiden, verweist dies auf eine ostdeutsche Befindlichkeit. Und: Im Osten lebende Männer zeigen ein deutlich geringeres Niveau an depressiver Gestimmtheit als im Westen lebende Männer. Mit Blick auf die depressive Gestimmtheit gibt es somit eine größere Kluft zwischen den Geschlechtern in Ostdeutschland.Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden auch dort sichtbar, wo Kinder im Haushalt sind. Frauen fühlen sich in diesen Haushalten einsamer als Männer, Männer hingegen weisen ein niedrigeres affektives Wohlbefinden und ein höheres Niveau an depressiver Gestimmtheit auf. Auch die Sicht auf Stresssituationen ist unterschiedlich: Während Frauen eine positivere Perspektive einnehmen im Vergleich zu Frauen ohne Kinder im Haushalt, unterscheiden sich die Männer von ihren Geschlechtsgenossen ohne Kindern durch eine negativere Perspektive.
Lassen sich ähnliche Muster auch für die Nachwendegeneration in Ost- und Westdeutschland feststellen? Der Befund ist differenziert. Zunächst gibt die Gruppe der unter 35-Jährigen in Ost- und Westdeutschland im Mittel eine höhere depressive Gestimmtheit an, aber auch ein höheres affektives Wohlbefinden und eine positive Bewertung von Stresssituationen als die Gruppe der über 35-Jährigen (Tabelle 1). Betrachtet man die innerdeutschen Unterschiede genauer (Abbildung 4), so ist die jüngere Altersgruppe in Ostdeutschland weniger einsam und bewertet Stresssituationen tendentiell positiver als ihre AltersgenossInnen im Westen (Tabelle 2). Diese Unterschiede könnten teilweise auch durch junge BinnenmigrantInnen verursacht worden sein. Da in den vorliegenden Analysen der Wohnort als Gruppierungsvariable dient, zählen zu den im Osten lebenden unter 35-Jähigen auch die progressiven im Westen geborenen und dann in den „hippen“ Osten gezogenen Menschen. Aktuelle Analysen zeigen, dass die retrospektiv eingeschätzte Lebenszufriedenheit bei genau dieser Personengruppe am höchsten ist.Theresa Iglauer, Jürgen Schupp und Maximilian Priem (2021): Subjektives Wohlbefinden und Sorgen. In: Statistisches Bundesamt, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) (Hrsg.): Datenreport 2020. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (im Erscheinen).
Umgekehrt gilt, dass die im Osten lebenden Vorwendegenerationen nicht nur im Vergleich zu ihren Gleichaltrigen im Westen, sondern vor allem auch im Vergleich zur Nachwendegeneration im Osten Stresssituationen weniger positiv bewerten. Für die übrigen Indikatoren affektives Wohlbefinden und depressive Gestimmtheit lassen sich hingegen keine Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland und den Altersgruppen beobachten.
In den Jahren seit der Wiedervereinigung hatten sich die Lebenszufriedenheit und das Wohlbefinden in Ost- und Westdeutschland immer weiter angenähert. Stellen die Herausforderungen der Corona-Pandemie diese Entwicklung nun in Frage? Die Analysen zeigen insgesamt, dass sich die Unterschiede in der psychischen Verfasstheit zwischen den in Ost- und Westdeutschland lebenden Menschen während der durch die Pandemie verursachten Krise nicht weiter verschärft haben. Doch zeigen sich mit den Lockdown-Maßnahmen in den Monaten April bis Anfang Juli 2020 unterschiedliche Entwicklungspfade für Ost- und Westdeutschland. So steigen bei in Ostdeutschland lebenden Menschen die Einsamkeit und mit Verzögerung auch die depressive Gestimmtheit stärker an als bei in Westdeutschland lebenden Menschen, sinken aber auch schneller wieder ab.
Darüber hinaus zeigen detailliertere Analysen, dass Frauen in Ost und West schlechtere psychische Verfasstheiten aufweisen als die Männer, die im Osten lebenden Frauen aber von depressiver Gestimmtheit stärker betroffen sind als Frauen im Westen. Dagegen ist die jüngere Generation der unter 35-Jährigen in Ostdeutschland weniger depressiv gestimmt als ihre im Westen lebenden AltersgenossInnen. Auch zeigt die im Osten lebende Nachwendegeneration eine deutlich höhere Tendenz, in Krisensituationen auch Chancen zu sehen. Die Vermutung liegt nahe, dass gerade die Nachwendegeneration im Osten eine höhere Resilienz bei Veränderungen hat.
Darüber hinaus zeigt sich, dass sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland affektives Wohlbefinden, depressive Gestimmtheit und positiver Bewertungsstil sehr eng mit der ökonomischen Situation der untersuchten Haushalte verbunden sind. Mit einem höheren Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen steigt das affektive Wohlbefinden auch in der Pandemie, Einsamkeit und depressive Gestimmtheit sind niedriger.
Zudem verweisen die Ergebnisse erneut auf die besonders belastete Situation von Frauen und Familien mit Kindern. Eine verlässliche Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen reduziert den Analysen zufolge die Belastung und die damit verbundenen psychischen Beeinträchtigungen.
Insbesondere die Zunahme depressiver Gestimmtheiten sollte zukünftig weiter beobachtet werden. Zwar liegt sie aktuell noch auf dem Niveau von 2016, könnte aber – sollte sie weiter ansteigen – bedeutsame gesellschaftliche Auswirkungen haben. Hier gilt es, in der öffentlichen Debatte auch die Fortschritte bei der Bekämpfung der Ausbreitung der Pandemie stärker zu betonen, damit sich das Bild der Ausweglosigkeit nicht verfestigt. Was die Situation der jüngeren Altersgruppen anbelangt, so zeigen sich diese aktuell durchaus als anpassungsfähig an die Krise. Dies ist erkennbar daran, dass die Tendenz zunimmt, sich mit der Situation zu arrangieren. Doch sollte diese Bereitschaft nicht überstrapaziert werden. Die Politik muss deshalb auch weiterhin Sorge dafür tragen, dass es trotz der notwendigen Vorkehrungen zur Eindämmung des Virus Möglichkeiten des sozialen Kontaktes und der Freizeitgestaltung gibt.
Themen: Wohlbefinden, Gesundheit
JEL-Classification: I14
Keywords: German reunification, covid-19, corona, mental health, well-being, resilience
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-38-5
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/226720