30 Jahre deutsche Einheit: Vieles ist erreicht – einiges bleibt noch zu tun: Editorial

DIW Wochenbericht 39 / 2020, S. 737-738

Kristina van Deuverden

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Als vor 30 Jahren, am 3. Oktober 1990, der Tag der Deutschen Einheit zum ersten Mal gefeiert wurde, fiel die wirtschaftliche Bestandsaufnahme recht bescheiden aus: Die Wirtschaftskraft erreichte in den neuen Ländern gerade mal ein Drittel des westdeutschen Niveaus, die Infrastruktur war marode, die meisten Unternehmen waren nur wenig wettbewerbsfähig. In der Folge nahm die Arbeitslosigkeit schnell zu. Vieles ist seither geschehen, Ost- und Westdeutschland haben sich deutlich angenähert. Die Wirtschaftskraft, gemessen als durchschnittliche Bruttowertschöpfung einer erwerbstätigen Person, liegt heute bei 80 Prozent des westdeutschen Niveaus. Fast haben die neuen Länder das wirtschaftsschwächste westdeutsche Land, das Saarland, eingeholt.

Auf dem Weg dorthin flossen beträchtliche Geldmittel – private wie öffentliche – von West nach Ost. Im ersten Beitrag zeigt Kristina van Deuverden, wie sich dies in den Haushalten der neuen Länder und ihren Kommunen niedergeschlagen hat. Die mit dem Aufbau Ost verbundenen hohen Ausgaben – insbesondere für den Aufbau der Infrastruktur – gingen anfangs mit erheblichen Defiziten und schnell steigender Verschuldung einher. Nach der Einbeziehung der neuen Länder in den Finanzausgleich im Jahr 1994, vor allem aber mit dessen Neuregelung im Jahr 2005, setzte dann allerdings ein Konsolidierungsprozess ein, der die neuen Länder bald deutlich besser dastehen ließ als die alten. Trotz der heute – nicht nur im Vergleich zu den alten Ländern – günstigen Ausgangsposition sind ihre Aussichten für die nächsten 30 Jahre aber eher verhalten. Dies zeigt ein Szenario, bei dem der geltende Rechtsstand zur Verteilung der Steuern und zu möglichen Verschuldungsspielräumen, plausible Annahmen zum künftigen Wirtschaftswachstum sowie die voraussichtliche Bevölkerungsentwicklung zugrunde gelegt werden: Die öffentlichen Ausgaben werden in den neuen Ländern dauerhaft hinter denen in den alten Ländern zurückbleiben müssen. Dies setzt die neuen Länder permanent unter Sparzwang, was leicht zu Lasten wichtiger, wachstumspolitischer Ausgaben gehen kann.

Im zweiten Beitrag untersuchen Heike Belitz, Martin Gornig und Alexander Schiersch die Ost-West-Produktivitätslücke in der Industrie. Sie zeigen anhand der Totalen Faktorproduktivität, dass der Rückstand der ostdeutschen Unternehmen im Effizienzniveau immer noch bei gut 20 Prozent liegt. Die strukturellen Unterschiede zwischen beiden Landesteilen – hinsichtlich der Bedeutung einzelner Industriezweige, der Ausstattung mit großen Unternehmen und der Gewichtung ländlicher und städtischer Räume – haben allerdings kaum Einfluss darauf. Entscheidend dafür sind immer noch bestehende Produktivitätsunterschiede zwischen gleichartigen Unternehmenstypen. Gerade unter den kleinen Unternehmen fehlen im Osten die sogenannten Hidden Champions, die in ihren Nischen internationale Marktführer sind. Ihre Entwicklung braucht Zeit, so dass auch künftig nur mit langsamen Fortschritten bei der Produktivitätsangleichung zu rechnen ist. Bei großen Unternehmen weisen ostdeutsche Unternehmen teilweise – insbesondere in Branchen mittlerer Technologieintensität – bereits ähnliche, zuweilen sogar bessere Produktivitätswerte auf als ihre westdeutschen Pendants. Insgesamt gibt es von ihnen aber noch zu wenige. In der Unterstützung der Ansiedlung und des Wachstums solcher Großunternehmen liegen Chancen zur Beschleunigung der Produktivitätsentwicklung der ostdeutschen Industrie.

Im dritten Beitrag zeigt Konstantin Kholodilin schließlich, dass der Aufholprozess auf dem Wohnungsmarkt schon recht weit gediehen ist. Die zentrale Planwirtschaft der DDR stellte die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum zwar sicher, allerdings war dieser häufig von relativ niedriger Qualität. Auch auf dem Wohnungsmarkt hatten die privaten Haushalte nur sehr eingeschränkte Freiheiten bei ihren Konsumentscheidungen. Dies hat sich vielfach geändert. So hat sich die Wohnraumversorgung deutlich verbessert und die Wohnfläche pro Person zugenommen. Davon profitierten jedoch vor allem die oberen Einkommensschichten, denn der Wohnraum hat sich spürbar verteuert. Die Mietbelastung in den neuen Ländern hat beinahe das westdeutsche Niveau erreicht, wohingegen die Einkommen noch immer deutlich hinter denen in Westdeutschland herhinken. Dennoch hat die Zufriedenheit mit der Wohnsituation bei Mieterhaushalten aller Einkommensschichten zugenommen.

Wie meist bei Vergleichen stehen auch in den Beiträgen in diesem Heft die Unterschiede im Vordergrund. Dabei darf nicht übersehen werden, dass – wenn auch mit etwas Verzögerung – die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte ist. Die Annäherung ist deutlich, die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern spürbar gesunken und die Lebenszufriedenheit der Menschen in Deutschland ist in beiden Landesteilen ähnlich hoch. In Ostdeutschland gibt es heute Regionen, deren Wirtschaftskraft höher als der westdeutsche Durchschnitt ist. Die Grenzen verlaufen mittlerweile immer weniger zwischen Ost und West und mehr und mehr zwischen städtischen Regionen und dem ländlichen – eher wirtschafschwachen – Raum.

Dies weist auf einen Punkt hin, der allen Beiträgen gemein ist: Die Ursachen für noch bestehende Unterschiede reichen oft weit in die Vergangenheit zurück und münden in langfristigen Trends, die nur schwer und nur langsam abgeändert werden können. Dabei ist nicht allein an die Folgen von 40 Jahren deutscher Teilung zu denken, wie beispielsweise die nach wie vor geringeren Vermögen oder die geringere Anzahl von alteingesessenen Unternehmen mit dem Potential zum Hidden Champion. Es sind auch noch weiter zurückgehende historische Entwicklungen, wie die geringe Zahl von Städten und der große Anteil des ländlichen Raumes in Ostdeutschland, was die durchschnittliche Wirtschaftskraft für sich genommen mindert. Hinzu kommen neuere Entwicklungen seit der deutschen Einheit, wie der Aderlass bei der Bevölkerung. Die hohen Verluste an vor allem jungen Menschen lassen die Bevölkerung in Zukunft deutlich stärker schrumpfen als im bundesdeutschen Durchschnitt. Dies belastet das künftige Wachstumspotential der ostdeutschen Wirtschaft spürbar und lässt den Anspruch der neuen Länder am gesamtdeutschen Steuerkuchen immer weiter zurückgehen.

Gerade weil die noch bestehenden Unterschiede langlebige Ursachen haben, ist es wichtig, gegenzusteuern. Dazu können Investitionen und regionalpolitisch motivierte Fördermaßnahmen beitragen, die gezielt auf erfolgversprechende Produktionscluster gerichtet sind. Dazu brauchen die Länder und Kommunen in den neuen Ländern wiederum haushaltspolitischen Spielraum. Zumindest fortgesetzte Bevölkerungsverluste sollten bei der Steuerverteilung im Finanzausgleich berücksichtigt werden.

Kristina van Deuverden

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Vorstand

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