Zweite Corona-Infektionswelle erfasst deutsche Wirtschaft: Editorial

DIW Wochenbericht 50 / 2020, S. 922-923

Claus Michelsen, Paul Berenberg-Gossler, Marius Clemens, Geraldine Dany-Knedlik, Hella Engerer, Marcel Fratzscher, Max Hanisch, Simon Junker, Laura Pagenhardt, Sandra Pasch

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  • Deutsche Wirtschaft weiterhin auf Achterbahnfahrt: Nachdem es im Sommer unerwartet stark aufwärts ging, schrumpft Bruttoinlandsprodukt zum Jahresende wieder
  • Wirtschaftsleistung sinkt in diesem Jahr um voraussichtlich 5,1 Prozent; DIW-Prognose sieht für 2021 Wachstum von 5,3 Prozent und für 2022 von 2,6 Prozent
  • Vorkrisenniveau wäre gegen Ende des Jahres 2021 erreicht, wenn man Infektionsgeschehen im Laufe des Winters in Griff bekommt – Risiken sind allerdings beträchtlich
  • Viele wichtige Handelspartner Deutschlands in noch weitaus größeren Schwierigkeiten, lediglich USA, China und Japan sorgen für kleine Lichtblicke im Auslandsgeschäft
  • Öffentliche Haushalte in diesem Jahr mit Rekorddefizit von 186 Milliarden Euro, eingeschlagener Investitionspfad sollte dennoch konsequent weiterverfolgt werden

„Trotz des Rekorddefizits in den öffentlichen Haushalten: Es wird sehr wahrscheinlich günstiger sein, jetzt die Krise entschlossen mit finanzpolitischen Maßnahmen zu bekämpfen, als dagegen anzusparen, um eine Staatsschuldenkrise vermeiden zu wollen. Die zeichnet sich aktuell nämlich nicht ab.“ Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef

Die weltwirtschaftliche Entwicklung wird weiterhin durch das grassierende Corona-Virus belastet. Die Verbesserung der Situation im Sommer, als sich die deutsche Wirtschaft im ersten Halbjahr 2020 nach einem Minus von zusammengenommen knapp zwölf Prozent auch dank der finanzpolitischen Hilfsmaßnahmen kräftig erholte, hat sich als trügerisch erwiesen. In den Herbstmonaten traf die zweite Corona-Infektionswelle auch die deutsche Wirtschaft und stoppte den Erholungsprozess abrupt. Deutschland hat wie viele andere Länder mit erneuten Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens reagiert, wenngleich diese nicht so weitreichend sind wie im Frühjahr. Die Risiken für die Unternehmen, deren Solvenz und die Arbeitsmarktentwicklung sind dennoch weiterhin enorm. Die immer dünnere Eigenkapitaldecke vieler Unternehmen und die geringeren verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte dürften die Nachfrage nach Investitions- und langlebigen Konsumgütern erneut dämpfen. Auch wichtige Handelspartner – allen voran im Euroraum – sind schwer in Mitleidenschaft gezogen und dürften zumindest vorübergehend wieder weniger Produkte „Made in Germany“ nachfragen. Allein die Entwicklung Chinas, der USA und die der japanischen Wirtschaft sind Lichtblicke im Auslandsgeschäft.

Das DIW Berlin geht angesichts des überraschend starken Aufholprozesses im Sommer nunmehr davon aus, dass die Wirtschaftsleistung Deutschlands in diesem Jahr um nur rund 5,1 Prozent sinken dürfte und ein kräftiges Aufholen im kommenden Jahr zu einem Wachstum von 5,3 Prozent und im Jahr 2022 von 2,6 Prozent führen wird. Im zugrundeliegenden Szenario wird angenommen, dass die Neuinfektionen im Laufe des Winters erfolgreich eingedämmt werden können und Impfstoffe gegen das Corona-Virus kurz vor der breiten Zulassung stehen. Mit zunehmendem Impfschutz könnte im Frühjahr dann erneut eine kräftige Erholung der deutschen Wirtschaft einsetzen. Auch wird davon ausgegangen, dass Unternehmensinsolvenzen, Kreditausfälle und erhebliche Anstiege der Arbeitslosigkeit auch durch die wirtschaftspolitischen Hilfsmaßnahmen vermieden werden können und die Krise nicht auf den Finanzsektor übergreift. Dies würde andernfalls die Gefahr bergen, dass Banken in Schieflage geraten und schlussendlich eine Staatsschuldenkrise in Ländern mit hohen Schuldenstandsquoten entsteht.

Diese Annahmen stellen auch die wesentlichen Risiken für die Prognose dar – es ist durchaus möglich, dass sich eines oder mehrere der genannten Risiken materialisieren. Vor allem ist fraglich, ob das Infektionsgeschehen trotz der Erfolge in der Impfstoffentwicklung kontrolliert werden kann. Gelingt dies nicht und ziehen sich die gesellschaftlichen Einschränkungen weit in den Frühling, dürfte die Wirtschaftsleistung im Jahr 2021 global um 1,7 Prozent geringer ausfallen. In Deutschland dürften es 1,5 Prozent sein.

Dass dies bislang vermieden werden konnte, hängt auch mit der weltweit äußerst expansiven Geld- und Finanzpolitik zusammen, die größere Teile der Einkommensverluste aufgefangen hat. Die Bundesregierung hat im Sommer ein umfangreiches Konjunkturprogramm beschlossen, welches das Bruttoinlandsprodukt in diesem und im kommenden Jahr mit 1,3 beziehungsweise 1,5 Prozent stützen dürfte. Hinzu kommen die umfangreichen „November- und Dezemberhilfen“, die einen großen Teil der Verluste in den durch den erneuten Lockdown betroffenen Geschäftsbereichen ausgleichen dürften. Verlängert wurden das Kurzarbeitergeld und die Überbrückungshilfen, die den Unternehmenssektor stabilisieren. Dies schlägt auf die Schuldenstandsquote Deutschlands durch, die Ende dieses Jahres bei 69 Prozent liegen dürfte.

In den Beschlüssen sind auch zahlreiche Positionen zur Stärkung der öffentlichen und privaten Investitionstätigkeit enthalten. Letztere dürfte in der Krise besonders stark sinken, da die Absatzperspektiven eingetrübt, die Kapazitäten unterausgelastet und die notwendigen Eigenkapitalpuffer für die Modernisierung des Kapitalstocks deutlich geschrumpft sind. Auch in Hinblick auf die Schuldentragfähigkeit ist es wichtig, die Wachstumskräfte im Land zu stärken und damit die Schuldenlast zu senken. Studien zeigen, dass in wirtschaftlichen Krisen und im Umfeld niedriger Zinsen die öffentliche Investitionstätigkeit erhebliche private Investitionen nach sich zieht. Vor allem die Bereiche öffentlicher Forschung und Entwicklung, Ausgaben im Bildungssektor und im Bereich der Infrastruktur entfalten mittelfristig kräftige Wachstumsimpulse. Angesichts des hohen Bedarfs in vielen Bereichen der öffentlichen Infrastruktur ist es richtig, wie bereits im Konjunkturprogramm angelegt, diese Bereiche zu stützen und die Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand verstetigt auszuweiten. Es besteht – wie auch schon vor der Corona-Krise vielfach diskutiert – zudem erheblicher zusätzlicher Bedarf für öffentliche Investitionen, die bislang nicht in der Finanzplanung abgebildet sind. Hierzu zählen investive Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Bildung, die Dekarbonisierung und Digitalisierung, aber auch im Bereich der Infrastruktur. Bis zum Jahr 2030 wären hierfür zusätzlich zu den bereits beschlossenen Maßnahmen weitere 220 Milliarden Euro notwendig. Eine entsprechend auf die Stärkung und Transformation des Standorts ausgerichtete Wirtschaftspolitik erscheint daher nicht nur mit Blick auf die langfristige Krisenbewältigung sinnvoll.

Die Diskussionen über die finanzpolitische Konsolidierungsstrategie haben bereits eingesetzt und dürften den politischen Diskurs im kommenden Jahr prägen. Es ist keinesfalls klar, dass die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form geeignet ist, gleichzeitig die öffentlichen Schulden zurückzuführen und eine Modernisierung des Wirtschaftsstandorts zuzulassen. Vielmehr könnte bei einer schnellen Rückkehr zu den Regelungen der Schuldenbremse die zukünftige Ausgabenpolitik eingeschränkt werden. Ein solcher Konsolidierungspfad würde den Spielraum für die notwendige Investitionstätigkeit deutlich schmälern und den Modernisierungsprozess aufhalten. Für investive Zwecke ist eine Nettokreditaufnahme gut zu rechtfertigen, solange die Rendite der Projekte die Kapitalkosten übersteigt. Im derzeitigen Umfeld niedriger Zinsen und unterausgelasteter Kapazitäten ist dies vielfach der Fall. Vorschläge für eine Reform der Schuldenregel liegen zahlreich auf dem Tisch und reichen von einer Orientierung an der Zinslast über die Berücksichtigung von symmetrischen Investitionsregeln bis hin zu einer nominalen Ausgabenregel. Diese sollten jetzt intensiv diskutiert werden, um den Freiraum für die notwendigen Modernisierungsinvestitionen zu schaffen.

Laura Pagenhardt

Doktorandin in der Abteilung Makroökonomie

Geraldine Dany-Knedlik

Leitung Prognose und Konjunkturpolitik in der Abteilung Makroökonomie

Hella Engerer

Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt

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