DIW Wochenbericht 52/53 / 2020, S. 989-997
Alexander Kriwoluzky, Laura Pagenhardt, Malte Rieth
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„In der aktuellen Corona-Krise dürften sich die fiskalpolitischen Regeln wie die deutsche Schuldenbremse bewährt haben. Wichtig ist nur, dass die Schuldenbremse, auch durchaus mit wünschenswerten Veränderungen, wiedereingesetzt wird. Nur so kann der positive Effekt fiskalischer Regeln auch für künftige Krisen bewahrt werden.“ Alexander Kriwoluzky
Weltweit haben sich 91 Länder Fiskalregeln auferlegt, um die Staatsverschuldung und/oder das Haushaltsdefizit zu begrenzen. Wie sich diese Fiskalregeln auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung nach Krisen auswirken, untersucht dieser Bericht anhand von vergangenen Naturkatastrophen. Demnach schneiden Länder mit Fiskalregeln besser nach solchen Schocks ab als Länder ohne Regeln. Bruttoinlandsprodukt, privater Verbrauch und Investitionen entwickeln sich deutlich und anhaltend besser: Sie liegen zwei bis vier Prozentpunkte höher und zwar über zwei bis vier Jahre. Schlüsselfaktor dafür ist wohl die Finanzpolitik, die vor allem dann expansiv sein kann, wenn die Fiskalregeln Ausnahmen vorsehen. Dies steht im Einklang mit der Idee, dass die Regeln in guten Zeiten den finanzpolitischen Spielraum schaffen, der in schlechten Zeiten verwendet werden kann. In der aktuellen Corona-Pandemie hat sich demnach beispielsweise die deutsche Schuldenbremse der letzten Jahre bewährt. Allerdings muss ihre Aussetzung zeitnah wieder zurückgefahren werden, um für künftige Krisen gewappnet zu sein.
Im Zuge der weltweiten Corona-Pandemie machen die Lockdowns, aber auch die weiteren Eindämmungsmaßnahmen großangelegte Unterstützung für Haushalte und Unternehmen erforderlich. Dies führt dazu, dass sich so gut wie alle Staaten enorm verschulden. Fiskalische Regeln, wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt in der EU oder die Schuldenbremse in Deutschland, mussten daher zumindest temporär ausgesetzt werden. Der Deutsche Bundestag hat die Aussetzung auch für kommendes Jahr jüngst verlängert. Weltweit wächst die Sorge, dass diese Verschuldung nicht mehr abgebaut werden kann und die fiskalischen Regeln damit zur Farce verkommen, wenn sie nicht eingehalten werden.
91 Länder hatten im Jahr 2015 (letzter Stand) Fiskalregeln in Form von numerischen Zielvorgaben für Haushaltsaggregate wie Schulden, Defizite, Ausgaben oder Einnahmen. Ihr Hauptziel besteht darin, den Anstieg der Staatsverschuldung zu begrenzen. Die fiskalischen Maßnahmen bilden damit weltweit einen zunehmend wichtigen Rahmen und werden von internationalen Organisationen und supranationalen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) empfohlen.Vgl. beispielsweise OECD (2015): Governments should target prudent debt levels and fiscal rules will help get there. Pressemitteilung vom 3. Juli 2015 (online verfügbar, abgerufen am 11. Dezember 2020. Dies gilt für alle Online-Quellen in diesem Bericht).
In der empirischen Literatur gibt es einen wachsenden Konsens darüber, dass Fiskalregeln die Staatsverschuldung wirkungsvoll begrenzen und damit auch die Staaten politisch stabilisieren.Vgl. zum Beispiel Alberto Alesina und Andrea Passalaqua (2016): The political economy of government debt. Handbook of Macroeconomics Vol. 2, 2599–2651. Gleichzeitig wird in der theoretischen Literatur und von politischen Entscheidungsträgern oft befürchtet, dass die Selbstverpflichtung zur Schuldenstabilisierung die Flexibilität, in Krisenzeiten effizient zu reagieren, aushebelt. Dieser potenziell unerwünschte Effekt fiskalischer Regeln ist in der Forschung bisher weniger beachtet worden. Aber angesichts des größten negativen wirtschaftlichen Schocks seit dem Zweiten Weltkrieg, der Covid-19-Pandemie, ist er wohl ebenso wichtig.
Fiskalische Regeln können einen wichtigen Einfluss darauf haben, wie schnell sich eine Wirtschaft von Schocks erholt. Einerseits könnten Beschränkungen der Verschuldung und/oder der Ausgaben die Regierung daran hindern, schnell und flexibel auf Katastrophen zu reagieren. Wenn andererseits fiskalische Regeln zur Schuldenstabilisierung in guten Zeiten beitragen und gleichzeitig durch entsprechende Klauseln genügend Flexibilität im Krisenfall ermöglichen, könnten sie den Handlungsspielraum der Regierung bei der Reaktion auf Schocks sogar erweitern.
In dem Bericht wird daher untersucht, wie Länder mit fiskalischen Regeln im Vergleich zu Ländern ohne diese Regeln abschneiden, wenn sie von großen negativen Schocks getroffen werden. Als Maß für solche Schocks werden Naturkatastrophen verwendet (Kasten).
Naturkatastrophen haben einen großen Einfluss auf die Wirtschaft durch die Zerstörung von Sachkapital und langlebigen Konsumgütern. Stürme und Überschwemmungen sind aufgrund der globalen Klimaveränderungen außerdem zunehmend wichtige Triebkräfte makroökonomischer Schwankungen. Darüber hinaus bieten sie sich als Schockmaß an, da die Existenz einer Fiskalregel keinen Einfluss darauf hat, ob Naturkatastrophen eintreten oder nicht. Somit können sie für die empirische Analyse als exogen angenommen werden, wodurch kausale Aussagen ermöglicht werden.
Für die Untersuchung wird die Datenbank EM-DAT des Centre for Research on the Epidemiology of Disasters (CRED) verwendet. Die Datenbank vereint Daten aus verschiedenen Quellen (wie UN-Organisationen, Regierungen, Versicherungsgesellschaften und Presseagenturen) und enthält unter anderem Informationen über meteorologische, geophysikalische und klimatologische Katastrophen, die sich seit 1900 weltweit ereignet haben. Damit ein Ereignis gemeldet wird, muss eines der folgenden Kriterien erfüllt sein: zehn oder mehr Todesfälle; 100 oder mehr Betroffene, Verletzte oder Obdachlose; das Land hat den Notstand ausgerufen oder um internationale Hilfe gebeten. Die Datenbank liefert Informationen über die menschlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen, das Anfangsdatum der Katastrophe und die Dauer. In Anlehnung an die Literatur über die makroökonomischen Folgen von Naturkatastrophen wird als Schockmaß der geschätzte direkte Schaden an Eigentum, Ernten und Vieh (in US-Dollar) verwendet.Ilan Noy (2009): The macroeconomic consequences of disasters. Journal of Development Economics 88 (2), 221–231. Um die Analyse auf unerwartete und exogene Schocks für die Wirtschaft zu konzentrieren, werden nur diejenigen Arten von Katastrophen verwendet, die plötzliche und unmittelbare Auswirkungen haben. Dies sind Erdbeben, Erdrutsche, Überschwemmungen und Stürme.Das Ausmaß der Katastrophe wird durch das vierteljährliche nominale BIP in US-Dollar ein Jahr vor dem Ereignis standardisiert, um die Schocks zwischen den Ländern vergleichbar zu machen.
Es werden zudem vierteljährliche makroökonomische Daten für 68 Länder für den Zeitraum vom ersten Quartal 1970 bis zum vierten Quartal 2018 verwendet. Um sich auf die Auswirkungen großer Schocks zu konzentrieren, werden nur die 50 Prozent der Naturkatastrophen mit den größten Schäden genutzt. Ausreißer werden entfernt. Dies ergibt insgesamt 1 026 Schocks mit einem geschätzten Schaden zwischen 0,03 Prozent und 4,55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Davon treten 320 Schocks in Ländern mit einer fiskalischen Regel auf.
Aus den jährlichen Daten zu fiskalpolitischen Regeln des IWF wird für die empirische Analyse ein einfacher Indikator in Quartalsfrequenz erstellt, der gleich eins ist, wenn ein Land eine oder mehrere fiskalische Regeln eingeführt hat. Der Indikator unterscheidet nicht zwischen der Anzahl oder der Art der fiskalischen Regel und berücksichtigt auch nicht die Stringenz der Durchsetzung.
In einem ökonometrischen Panelmodell werden die Reaktionen der abhängigen Variablen auf einen Schock (Impulsantworten) über vier Jahre berechnet. Die zentralen Koeffizienten in der Schätzgleichung sind die Parameter für die Interaktionen zwischen dem Schock und der Indikatorvariable für fiskalische Regeln. Diese Koeffizienten messen den Unterschied zwischen den dynamischen Auswirkungen der Schocks unter fiskalischen Regeln und ohne solche Regeln (Abbildung 3).
Um die schockabsorbierende Wirkung der Fiskalregeln von anderen potenziell relevanten Eigenschaften der jeweiligen Länder zu trennen, werden das Entwicklungsniveau und die Effektivität der Regierung als alternative schockabsorbierende Mechanismen berücksichtigt. Dafür werden diese ebenfalls mit der Schockvariable interagiert. Darüber hinaus fließen in die Berechnung der Auswirkungen von Naturkatastrophen folgende Kontrollvariablen ein: der Grad der Verstädterung, die Bevölkerungsdichte, ein Maß für den Grad der Demokratie und das Wechselkursregime Diese werden mit einer Verzögerung von vier Quartalen aufgenommen, um eine Rückkopplung mit den Katastrophenschocks zu verhindern. Zudem gibt es Länderkonstanten, um zeitinvariante Ländermerkmale (wie die Gefährdung durch Katastrophen und das anfängliche Entwicklungsniveau) zu berücksichtigen, und Jahreskonstanten, um nicht beobachtbare, zeitvariable Faktoren zu berücksichtigen (zum Beispiel globales Wachstum und Inflation oder Klimawandel).
Der IWF definiert fiskalische Regeln als „langanhaltende Beschränkung der Fiskalpolitik durch numerische Grenzen für öffentliche Haushaltsaggregate“.Andrea Schaechter et al. (2012): Fiscal rules in response to the crisis. Toward the next-generation’ rules: A new dataset. IMF Working paper Nr. 12/187 (online verfügbar). Es werden vier Arten von fiskalischen Regeln unterschieden. Erstens begrenzen Verschuldungsregeln die öffentliche Verschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und stellen damit eine direkte Verbindung zur Schuldentragfähigkeit her. Ihnen fehlt jedoch oft eine kurzfristige Vorgabe, und sie können zu einer prozyklischen Finanzpolitik führen: Wenn eine Wirtschaft von einem Schock getroffen wird und die Schuldenregel bindet, verhindert sie notwendige Ausgaben und Investitionen. Schuldenregeln kommen in 75 Ländern zur Anwendung, darunter fallen beispielsweise die Mitglieder der Europäischen Union.
Zweitens gibt es Regeln für den Haushaltssaldo (Defizitregeln), die das strukturelle, das konjunkturbereinigte oder das gesamte Defizit einer Regierung einschränken. Während diese Regeln präzisere operative Leitlinien beinhalten, ist eine Anpassung in wirtschaftlich schwachen Zeiten ebenfalls oft nicht leicht. Derartige Regeln sind komplex, da es verschiedene Definitionen von Defiziten gibt, was es schwierig macht, ihre Eingrenzung zu kommunizieren und zu überwachen. Angewendet werden Defizitregeln in 77 Ländern, so hat zum Beispiel Deutschland über die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakt hinaus eine eigene, striktere Defizitregel, die die strukturelle Neuverschuldung des Bundes auf 0,35 Prozent des nominalen BIPs begrenzt.
Drittens begrenzen Ausgaberegeln die Gesamtausgaben, die Primärausgaben oder die laufenden Ausgaben der Regierung. Zu guter Letzt legen Einnahmeregeln Unter- beziehungsweise Obergrenzen für Staatseinnahmen fest. Da sie nicht direkt auf die Schulden abzielen, besteht bei diesen beiden Regeln nicht die Gefahr, dass Ausgaben zu prozyklisch getätigt werden. Sie werden dennoch seltener verwendet: Ausgaberegeln gibt es in 44 Ländern, beispielsweise in Russland. Einnahmeregeln kommen nur in 14 Ländern zur Anwendung, darunter Frankreich.
Angesichts der verschiedenen Vor- und Nachteile werden in der Praxis häufig zwei oder mehr fiskalische Regeln kombiniert. Darüber hinaus können die Regeln sowohl auf nationaler als auch auf supranationaler Ebene eingeführt werden. Zum Beispiel hat die Europäische Union 1992 den Stabilitäts- und Wachstumspakt eingeführt, der sowohl den Verschuldungsgrad anteilig am BIP auf 60 Prozent als auch das jährliche Haushaltsdefizit ihrer Mitglieder auf drei Prozent begrenzt. Darüber hinaus gibt es in mehreren europäischen Ländern Regeln auf nationaler Ebene, beispielsweise die deutsche Schuldenbremse.
Fiskalregeln sind in den letzten 30 Jahren immer verbreiteter geworden (Abbildung 1). Im Jahr 1990 gab es erst in sieben Ländern eine solche Regel; im Jahr 2015 (letzter Stand)war diese Zahl auf 91 angestiegen. Dabei sind Schulden- und Defizitregeln am häufigsten.
Der IWF stellt eine Datenbank mit jährlichen Daten zur Verfügung (Kasten), die neben der Art und dem Einführungsjahr fiskalischer Regeln auch Informationen über deren Rechtsgrundlage und Überwachung liefert. Darüber hinaus enthält sie Ausnahmeklauseln der Regeln, die Situationen definieren, in denen eine Abweichung von den Vorgaben zulässig ist. Dies kann im Falle von Naturkatastrophen oder Pandemien von besonderer Bedeutung sein.
Um die unterschiedlichen Reaktionen von Ländern mit und ohne Fiskalregeln auf Naturkatastrophen abzuschätzen, wird ein Panelmodell verwendet (Kasten). Die Schätzungen zeigen große Unterschiede zwischen den beiden Ländergruppen (Abbildung 2). Vor allem erhöht sich die Produktion in Ländern mit Fiskalregeln stärker, nachdem sie von einem Schock getroffen wurden. Das Wachstum geht anfänglich nur sehr leicht zurück und die anschließende Erholung ist stark. Die Produktion steigt anhaltend und deutlich über das Niveau vor dem Schock. Im Gegensatz dazu sinkt das BIP in Ländern ohne fiskalische Regeln und kehrt lediglich auf das Niveau von vor dem Schock zurück; es gibt kein Überschießen. In ähnlicher Weise steigt der private Konsum in der ersten Ländergruppe deutlich an, während er in Ländern ohne Fiskalregeln infolge der Naturkatastrophe zunächst sinkt und sich auch danach nur allmählich erholt. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Importen. Die privaten Investitionen nehmen in beiden Gruppen zu, aber der Anstieg ist stärker und länger anhaltend in Ländern mit fiskalischen Regeln. Bei den Exporten zeigt sich ein umgekehrtes Bild.
Schließlich steigen die öffentlichen Ausgaben in beiden Gruppen etwa eineinhalb Jahre lang nach der Katastrophe an. Danach kehren sie in Ländern ohne Regeln wieder zum Trend zurück, während sie in Ländern mit fiskalischen Vorgaben weiter steigen. Zusammengenommen zeigen die Ergebnisse, dass fiskalische Regeln die Absorption negativer wirtschaftlicher Schocks deutlich verbessern.
Um zu testen, ob die Auswirkungen der Regeln auf die wirtschaftliche Dynamik nach Naturkatastrophen statistisch signifikant sind, werden als nächstes die Unterschiede zwischen beiden Ländergruppen berechnet. Es ergibt sich ein ähnliches Bild (Abbildung 3). Das BIP und, mit Ausnahme der Exporte, alle seine Verwendungskomponenten sind in Ländern mit fiskalischen Regeln nach einer Naturkatastrophe signifikant höher. Die Unterschiede sind groß und anhaltend: Sie liegen zwischen zwei bis vier Prozentpunkten und halten zwei bis vier Jahre an. Abgesehen vom ersten Quartal ist die Produktion deutlich höher in Ländern mit Regeln. Die Differenz nach drei Jahren beträgt etwa zwei Prozentpunkte. Vor allem der private Konsum trägt ab dem ersten Quartal zur höheren Wirtschaftsleistung bei. Die Differenz bei den privaten Investitionen ist zunächst geringer. Sie nimmt ab dem zweiten Quartal in Ländern mit Fiskalregeln zu, ab dem dritten Quartal sogar signifikant. Die Investitionen vergrößern den BIP-Unterschied zu den Ländern ohne Regeln.
Eine detaillierte Analyse für die vier unterschiedlichen Fiskalregeln zeigt, dass die Ergebnisse vor allem von Ländern getrieben werden, die Schulden- und Defizitregeln haben. Für Einnahme- und Ausgaberegeln ergeben sich qualitativ ähnliche Muster, die Ergebnisse sind aber statistisch weniger signifikant.
Ein Schlüsselfaktor für diese Unterschiede dürfte die Reaktion der Finanzpolitik auf den Schock sein. Die öffentlichen Gesamtausgaben sind in Ländern mit fiskalischen Regeln deutlich und anhaltend höher. Der Unterschied ist auch ökonomisch bedeutsam: Er steigt auf knapp 20 Prozentpunkte und liegt auch nach vier Jahren noch zehn Prozentpunkte höher. Insbesondere der Staatskonsum, die Subventionen und die sonstigen Ausgaben, unter die auch Katastrophenhilfen fallen, treiben die fiskalische Expansion (Abbildung 4). Auffällig ist vor allem die Entwicklung der Subventionen, also der staatlichen Transfers an öffentliche und private Unternehmen für Güter und Dienstleistungen.Staatliche Transfers an Haushalte sind in der Regel nicht in dieser Kategorie enthalten, es sei denn, die Haushalte fungieren als Produzenten. Stattdessen sind diese Transfers Teil der Sozialleistungen und anderen Ausgaben. Diese Kategorien sind in Ländern mit Fiskalregeln ebenfalls höher nach dem Schock. Diese Kategorie macht im Länderdurchschnitt nur etwa drei Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben aus, aber die Unterschiede in der Reaktion auf den Schock zwischen den beiden Gruppen sind groß. Sie belaufen sich auf bis zu 40 Prozentpunkte.
Zahlen Regierungen für Schäden an Investitionsgütern aufgrund von Naturkatastrophen, fällt dies hauptsächlich in die Kategorie der sonstigen Ausgaben. Dazu gehören außerdem Zahlungen und Schenkungen an Einzelpersonen, private gemeinnützige Institutionen, nichtstaatliche Stiftungen oder Unternehmen. Im Falle von Naturkatastrophen umfasst die Kategorie auch staatlich gekaufte Waren und Dienstleistungen, die direkt an die privaten Haushalte für den Endverbrauch verteilt werden, sowie außerordentliche Kapitaltransfers für Schäden oder Verletzungen, die durch die Katastrophen entstanden sind und nicht durch Versicherungen gedeckt sind. In fortgeschrittenen Volkswirtschaften machen die sonstigen Ausgaben zwar nur fünf Prozent der staatlichen Gesamtausgaben aus, in Schwellenländern sind es hingegen bis zu 25 Prozent. Für diese Kategorie ist der Unterschied in den Reaktionen am größten: 100 Prozentpunkte nach etwa einem dreiviertel Jahr.
Schließlich lassen die Unterschiede bei den Verläufen von Gesamtsaldo, Zinsen und Kreditprämien nach dem Schock vermuten, warum die Finanzpolitik in Ländern mit fiskalischen Regeln expansiver ist. Das Gesamtdefizit ist in diesen Ländern um vier Prozentpunkte höher. Trotzdem sind die Zinsen auf zehnjährige Staatsanleihen, ein Maß für die Finanzierungsbedingungen der Länder, deutlich niedriger. Auch die Spreads bei den Credit Default Swaps, die das Kreditrisiko von Staaten messen, sind geringer. Zusammengenommen könnten die Unterschiede in der öffentlichen Solvenz und dem Marktzugang des Staates die expansivere fiskalpolitische Reaktion erklären.
Ein Blick in die empirische Literatur zu Fiskalregeln unterstützt diese Schlussfolgerung: Es gibt immer mehr Belege dafür, dass die Regeln die öffentlichen Schulden langfristig reduzieren und somit zu nachhaltigen öffentlichen Finanzen beitragen.Friedrich Heinemann, Marc-Daniel Moessinger und Mustafa Yeter (2018): Do fiscal rules constrain fiscal policy? A meta-regression-analysis. European Journal of Political Economy 51, 69–92. Diese wiederum ermöglichen es den Regierungen, in Stresssituationen günstiger Schulden aufzunehmen. Dies wäre ein möglicher Grund, warum Länder mit fiskalischen Regeln ihre Ausgaben stärker ausweiten als Länder ohne. So ist beispielsweise bekannt, dass Regierungen mit mehr fiskalischem Spielraum auch expansiver auf Finanzkrisen reagieren als Länder mit geringem Spielraum.Christina D. Romer und David H. Romer (2018): Phillips Lecture – Why Some Times Are Different: Macroeconomic Policy and the Aftermath of Financial Crises. Economica, No. 337, Vol. 85, 1–40 (online verfügbar).
Für das Verständnis der Ergebnisse sind zudem einige technische Merkmale von Fiskalregeln wichtig. So enthalten Defizitregeln oft die bereits erwähnten Ausnahmeklauseln und/oder werden zyklisch definiert. Beides zielt darauf ab, zur Bewältigung wirtschaftlicher Schocks flexibler reagieren zu können. Formale Ausnahmeklauseln erlauben ausdrücklich vorübergehende Abweichungen von der Regel im Falle von Naturkatastrophen oder anderen Schocks, die sich der Kontrolle der Regierung entziehen. Ein aktuelles Beispiel ist die Covid-19-Pandemie, die eine Ausnahmeklausel im Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU aktivierte, so dass Länder die Defizitgrenze vorübergehend überschreiten können, ohne ein Verfahren wegen eines übermäßigen Defizits fürchten zu müssen. Somit dürften gut definierte Ausnahmeregeln die erhöhten Staatsausgaben im Katastrophenfall zumindest teilweise erklären.
Die Konjunktur in Ländern mit fiskalischen Regeln bricht nach großen negativen Schocks weniger ein als in Ländern ohne diese Regeln. Dies hat sich am Beispiel von vergangenen Naturkatastrophen gezeigt, die durch die exogene Art des Schocks Parallelen zur aktuellen Corona-Pandemie aufweisen. Länder mit Fiskalregeln haben in den vier Jahren nach einem Schock eine signifikant und anhaltend höhere Produktion als andere Länder. Der private Konsum und die Investitionen steigen ebenso.
Fiskalpolitische Regeln bieten vor allem dann genügend finanzpolitische Flexibilität, um auf Schocks zu reagieren, wenn sie mit Notfallklauseln kombiniert oder über mittelfristige Zeithorizonte definiert sind. Gleichzeitig schaffen sie wohl auf lange Sicht erst den fiskalischen Spielraum, den Regierungen kurzfristig benötigen, um die Wirtschaft zu stützen.
Alles in allem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass gut konzipierte fiskalische Regeln den vermuteten grundlegenden Zielkonflikt zwischen der Selbstverpflichtung zu geringer Staatsverschuldung und der Notwendigkeit einer aktiven Fiskalpolitik im Krisenfall nicht verschärfen, sondern mildern. Länder mit fiskalischen Regeln sind wohl besser in der Lage, auf große Schocks mit expansiven Maßnahmen zu reagieren.
In der aktuellen Corona-Krise dürften sich die fiskalpolitischen Regeln bewährt haben. Dies impliziert aber auch, dass in einem überschaubaren Zeitrahmen diese Regeln, die während der Krise ausgesetzt wurden, wieder greifen müssen. Derzeit debattierte Veränderungen der Schuldenbremse, damit unter anderem nachhaltiger investiert werden kann, sind dabei durchaus wünschenswert.Michael Hüther und Jens Südekum (2020): A new paradigm for Germany’s fiscal policy after Corona. New Economy Working Paper, 16. November (online verfügbar); Marcel Fratzscher, Alexander Kriwoluzky und Claus Michelsen (2019): Gut investierte Schulden sind eine Entlastung in der Zukunft. Wirtschaftsdienst Nr. 5, 307–329 (online verfügbar). Wichtig ist nur, dass die Schuldenbremse, in welcher Form auch immer, wieder eingesetzt wird. Nur so kann der positive Effekt fiskalischer Regeln auch für künftige Krisen bewahrt werden.
Themen: Öffentliche Finanzen, Konjunktur, Gesundheit, Geldpolitik
JEL-Classification: E62;C32;E32;H50
Keywords: Fiscal policy, world economy, fiscal regimes, panel data, natural disasters
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-52-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/229916