DIW Wochenbericht 5 / 2021, S. 63-71
Kira Baresel, Heike Eulitz, Uwe Fachinger, Markus M. Grabka, Christoph Halbmeier, Harald Künemund, Alberto Lozano Alcántara, Claudia Vogel
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„Die Erbschaftswelle verschärft die absolute Vermögensungleichheit. Die Politik sollte dem entgegensteuern, indem sie beispielsweise verhindert, dass das Vererben großer Vermögen mit der Zehnjahresfrist zeitlich gesplittet wird.“ Markus M. Grabka
Rund zehn Prozent aller Erwachsenen in Deutschland haben in den vergangenen 15 Jahren mindestens eine Erbschaft oder größere Schenkung erhalten. Die durchschnittliche Höhe dieser Erbschaften beläuft sich dabei real auf etwas mehr als 85000 Euro pro Person, jene der Schenkungen auf 89000 Euro, wie Daten des Sozio-oekonomischen Panels zeigen. Gegenüber dem Jahr 2001 haben sich die Erbschaften und Schenkungen im Durchschnitt real um etwa 20 Prozent erhöht. Intergenerationale Transfers sind ungleich verteilt: So fließt die Hälfte aller Erbschafts- und Schenkungssummen an die reichsten zehn Prozent der Begünstigten. Erbschaften und Schenkungen erhöhen damit die absolute Ungleichheit. Vor diesem Hintergrund sollte die Zehnjahresfrist – Freibeträge können alle zehn Jahre erneut in Anspruch genommen werden – aufgehoben werden, damit Freibeträge nicht mehrmals geltend gemacht werden können. Gleichzeitig aber haben kleine und mittlere Erbschaften und Schenkungen eine dämpfende Wirkung auf die Vermögenskonzentration, also die relative Ungleichheit. Daher sollten die Freibeträge bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer – auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl von Patchworkfamilien – gleichmäßiger über die verschiedenen Personengruppen und Verwandtschaftsgrade verteilt werden.
In den vergangenen 20 Jahren hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland auf 13,8 Billionen Euro mehr als verdoppelt.Zum Sektor der privaten Haushalte zählt das Statistische Bundesamt auch private Organisationen ohne Erwerbszweck, wie Kirchen und Stiftungen. Vgl. Deutsche Bundesbank und Statistisches Bundesamt (2020): Vermögensbilanzen. Sektorale und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanzen. 1999-2019 (online verfügbar, abgerufen am 19.1.2021. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt). Davon könnten nach Schätzungen des DIW Berlin jedes Jahr bis zu 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt werden.Anita Tiefensee und Markus M. Grabka (2017): Das Erbvolumen in Deutschland dürfte um gut ein Viertel größer sein als bisher angenommen. DIW Wochenbericht Nr. 27, 565–570 (online verfügbar). Dieser BeitragWir danken dem Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung Bund für die finanzielle Unterstützung dieses Forschungsvorhabens, Förderkennzeichen 0640-FNA-P-2018-22. aktualisiert die Berichterstattung des DIW Berlin zur Struktur und zum Umfang des Erbschafts- und Schenkungsgeschehens in Deutschland und stellt die Auswirkungen auf die Vermögensungleichheit dar.Vgl. die bisherige Berichterstattung des DIW Berlin zum Thema auf Basis des SOEP: Martin Kohli et al. (2005): Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Erbschaften und Vermögensverteilung. Bonn: Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Claudia Vogel, Harald Künemund und Uwe Fachinger (Hrsg.) (2010): Die Relevanz von Erbschaften für die Alterssicherung. Berlin: Deutsche Rentenversicherung Bund (online verfügbar); auf Grundlage der Angaben der Erbschaft- und Schenkungsteuerstatistik: Stefan Bach und Andreas Thiemann (2016): Hohe Erbschaftswelle, niedriges Erbschaftsteueraufkommen. DIW Wochenbericht Nr. 3, 63–71 (online verfügbar) oder auf Grundlage der Daten des Household Finance and Consumption Survey: Christian Westermeier, Anita Tiefensee und Markus M. Grabka (2016): Erbschaften in Europa: Wer viel verdient, bekommt am meisten. DIW Wochenbericht Nr. 17, 375–386 (online verfügbar). Datengrundlage für den vorliegenden Bericht sind Angaben des am DIW Berlin angesiedelten Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), einer Befragung unter rund 15000 Haushalten in Deutschland, die in Zusammenarbeit mit dem Erhebungsinstitut Kantar durchgeführt wird.Das SOEP ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird; vgl. Jan Goebel et al. (2018): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239(29), 345–360 (online verfügbar). In den Jahren 2001 und 2017 wurde in Schwerpunktbefragungen der Erhalt von Erbschaften oder größeren Schenkungen erfasst. Die folgenden Angaben beziehen sich auf jeweils 15 Jahre, konkret auf die Zeiträume 1986 bis 2001 und 2002 bis 2017, der letztmaligen Erhebung des Erhalts intergenerationaler Transfers im SOEP.In den Analysen wird die Perspektive der Begünstigten von intergenerationalen Transfers eingenommen und keine Beschreibung der ErblasserInnen beziehungsweise der SchenkerInnen vorgenommen.
Bei den Ergebnissen ist zu beachten, dass insbesondere sehr hohe Erbschaften und Schenkungen unterschätzt sein dürften, da in bevölkerungsrepräsentativen Stichproben wie dem SOEP die Spitze der Vermögensverteilung bis zum Jahr 2019 nicht vollständig abgebildet wurde.Mit der Erhebung 2019 wurde eine Zusatzstichprobe von Top-Shareholdern im SOEP aufgenommen, die den Zweck verfolgt, die Datenlücke am obersten Rand der Vermögensverteilung zu schließen, vgl. Carsten Schröder et al. (2020): MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen. DIW Wochenbericht Nr. 29, 512–520 (online verfügbar). Neben der Untererfassung von hohen Erbschaften und Schenkungen dürften auch Erinnerungsfehler dazu führen, dass in den Antworten der Befragten entsprechende Transfers unterschätzt werden.
Für die beiden Untersuchungszeiträume geben gut sieben Prozent aller Erwachsenen an, dass sie in den vergangenen 15 Jahren mindestens eine Erbschaft erhalten haben. Der inflationsbereinigte BetragIn Preisen von 2015 deflationiert mit dem Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes. beläuft sich dabei im ersten Zeitraum (1986 bis 2001) durchschnittlich auf rund 72500 Euro (Tabelle 1). Im zweiten Zeitraum (2002 bis 2017) steigt dieser um 17 Prozent auf 85000 Euro. Die vielfach beschriebene Erbschaftswelle kommt langsam in der Bevölkerung an.Vgl. z.B. Julia Friedrichs (2016): Wir Erben. Warum Deutschland ungerechter wird. Piper. Da der Durchschnittswert von Ausreißern beeinflusst wird, ist zusätzlich der MedianDer Median ist der Wert, der die reichere Hälfte der Bevölkerung – hier die ErbInnen und Beschenkten – von der ärmeren trennt. Vgl. Definition des Begriffs Medianeinkommen im DIW Glossar (online verfügbar). zu betrachten: Dieser fällt gegenüber dem Mittelwert deutlich geringer aus und beläuft sich für den ersten Zeitraum auf etwa 26000 Euro. Im zweiten Zeitraum steigt er um knapp ein Viertel auf 32000 Euro.
Quoten in Prozent und Summen in Euro
1986–2001 | 2002–2017 | |
---|---|---|
Erbquote in Prozent | 7,2 | 7,3 |
Erbsumme in Euro | ||
Mittelwert | 72426 | 85052 |
Median | 26193 | 32148 |
1. Perzentil | 520 | 750 |
99. Perzentil | 648848 | 772400 |
Schenkungsquote in Prozent | 4,3 | 2,9 |
Schenkungssumme in Euro | ||
Mittelwert | 74426 | 88703 |
Median | 25956 | 35952 |
1. Perzentil | 693 | 995 |
99. Perzentil | 654591 | 870511 |
Anteil Erbschaften/Schenkungen ≥ 400000 Euro in Prozent | 3,4 |
Anmerkungen: Ergebnisse mit einem 1-prozentigen Top + Bottom Coding, real in Preisen von 2015, 2017 basierend auf imputierten Angaben.
Quelle: SOEP v34.
Intergenerationale Transfers können in Form von Erbschaften post-mortem oder in Form von Schenkungen, also zu Lebzeiten des Schenkenden, stattfinden. Im ersten Zeitraum berichten etwas mehr als vier Prozent der befragten Erwachsenen, mindestens eine größere Schenkung erhalten zu haben; im zweiten Zeitraum sinkt dieser Anteil leicht auf knapp drei Prozent.Ein Grund für den Rückgang könnte sein, dass aufgrund der steigenden Lebenserwartung zusätzliche Kosten für Krankheit und Pflege entstehen. Dadurch könnten Vermögen bereits aufgebraucht sein und weniger Schenkungen an nachfolgende Generationen vorgenommen werden. Des Weiteren dürfte die Notwendigkeit für eine stärkere private Altersvorsorge auch dazu beitragen, dass Vermögen seltener generationenübergreifend übertragen wird. Zeitgleich steigt aber die durchschnittliche Höhe von Schenkungen: von 74500 Euro auf knapp 89000 Euro – ein Zuwachs um rund ein Viertel. Gemessen am Median fällt der Zuwachs mit etwa 39 Prozent sogar noch größer aus, von knapp 26000 Euro auf zuletzt knapp 36000 Euro.
Das Gesamtvolumen aller Transfers beträgt nach Angaben des SOEP im Zeitraum 2002 bis 2017 pro Jahr durchschnittlich 134 Milliarden Euro (in Preisen von 2015).Wie bereits eingangs erwähnt, dürfte das Gesamtvolumen unterschätzt sein, da zum Zeitpunkt der Erhebung noch keine Zusatzstichprobe von Top-Shareholdern im SOEP vorlag, die auch Erbschaften und Schenkungen am obersten Rand der Vermögensverteilung besser erfassen. Zudem werden in einer Haushaltsbefragung wie dem SOEP nur Erbschaften erfasst, die Privatpersonen zufließen, nicht aber Transfers an Stiftungen und andere Organisationen. Die ungleiche Verteilung der Erbschaften und Schenkungen kann durch den Anteil am Gesamtvolumen intergenerationaler Transfers beschrieben werden (Abbildung 1). Hierzu werden Dezile des Erb- und Schenkungsaggregats gebildet. Dabei werden die Personen, die Erbschaften und Schenkungen erhalten haben, nach der Höhe des gesamten Transfers sortiert und in zehn Gruppen (Dezile) eingeteilt. Das erste (zehnte) Dezil beschreibt die zehn Prozent der Personen mit den geringsten (höchsten) Transfers.
Die unteren fünf Dezile haben im Zeitraum 2002 bis 2017 einen Anteil am Gesamtvolumen der Transfers von etwas mehr als sieben Prozent erhalten. Fast 50 Prozent des Erbschafts- und Schenkungsvolumens fließen an die zehn Prozent der EmpfängerInnen mit den höchsten Beträgen. Dies bedeutet, dass die unteren 90 Prozent der ErbInnen und Beschenkten zusammengenommen etwa so viel erhalten wie die oberen zehn Prozent. Die Ungleichheit der Erbschaften und Schenkungen fällt damit insgesamt in etwa so groß aus wie jene der individuellen Nettovermögen. Die zehn Prozent der vermögendsten Personen halten zwei Drittel des Gesamtvermögens.Carsten Schröder et al. (2020), a.a.O. Die relative Vermögensungleichheit im Jahr 2017, gemessen am Gini-Koeffizienten, liegt auf einer Skala von 0 bis 1 in Deutschland bei 0,81 und damit im internationalen Vergleich sehr hoch.Vgl. auch den Begriff Gini-Koeffizient im DIW Glossar (online verfügbar).
Schenkungen fallen typischerweise im jüngeren, Erbschaften im höheren Alter an: Während die Mehrheit der größeren Schenkungen an Personen bis zu einem Alter von 45 Jahren geht, erhalten Erbschaften vor allem Personen ab einem Alter von 55 Jahren (Abbildung 2). Schenkungen werden oft im Zusammenhang mit familiären Veränderungen von der Elterngeneration gewährt, wenn beispielsweise ein Kind/Enkelkind geboren oder eine Immobilie erworben wird.Vgl. im Falle des Erwerbs von Immobilien Judith Niehues und Maximilian Stockhausen (2020): Die Bedeutung von Wohneigentum und geerbten Wohnimmobilien für die Vermögensbildung in Deutschland. In: Otto Depenheuer, Eckhart Hertzsch und Michael Voigtländer (Hrsg.): Wohneigentum für breite Schichten der Bevölkerung. Bibliothek des Eigentums, 18. Springer, Berlin, Heidelberg, 95–112; bei familiären Veränderungen vgl. Thomas Leopold und Thorsten Schneider (2011): Family Events and the Timing of Intergenerational Transfers. In: Social Forces 90(2) 595–616 (online verfügbar). Während insgesamt rund zehn Prozent aller Erwachsenen in den vergangenen 15 Jahren mindestens eine Erbschaft oder eine größere Schenkung erhalten haben, sind es in der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen 14 Prozent der Personen.
Um der Frage nachzugehen, ob sich diese Transfers nach sozialer Position unterscheiden, werden nun Dezile des bedarfsgewichteten HaushaltsnettoeinkommensAls Bedarfsgewicht wird die modifizierte OECD-Äquivalenzskala herangezogen, die auch im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Anwendung findet. herangezogen (Abbildung 3). Dabei zeigt sich, dass die höheren Einkommensdezile häufiger Erbschaften und Schenkungen erhalten. So liegt der entsprechende Anteil von intergenerationalen Transfers im ersten Dezil bei rund vier Prozent, steigt auf neun Prozent im sechsten Dezil bis hin zu knapp 18 Prozent im obersten Dezil.Der Befund, dass Personen aus einkommensstarken Haushalten häufiger und auch deutlich höhere intergenerationale Transfers erhalten als Personen aus einkommensschwachen Haushalten, wurde mehrfach beschrieben, vgl. Westermeier, Tiefensee und Grabka (2016), a.a.O.
Wird das individuelle Nettovermögen der Personen mit einem Transfererhalt betrachtet, ist dies im Jahr 2017 um 142000 Euro höher als das Vermögen von Personen ohne Transfererhalt. Dieser Betrag ist weitaus höher als der eigentliche Zuwachs durch Erbschaft und Schenkungen, der durchschnittlich bei rund 85000 Euro liegt.
Auch nach Altersgruppen differenziert sind die Nettovermögen derjenigen, die intergenerationale Transfers erhalten haben, stets höher als derjenigen ohne entsprechende Transfers. Am höchsten ist die Differenz in der Gruppe der 45- bis 54-Jährigen mit 176000 Euro. Betrachtet wird hier jeweils nur der zweite Beobachtungzeitraum von 2002 bis 2017.
Unter Berücksichtigung der Dezile des Haushaltsnettoeinkommens wird ersichtlich, dass Personen, die selbst bereits ein überdurchschnittliches Einkommen aufweisen, häufig auch höhere Erbschafts- beziehungsweise Schenkungsbeträge erhalten haben (Abbildung 4). Hier spielt die familiäre Herkunft eine relevante Rolle, da die eigene soziale Stellung neben Bildung, Einkommen und Vermögen auch über intergenerationale Transfers an die nachfolgende Generation übertragen werden kann.
Auch die regionale Herkunft spielt bei einem Vergleich von Erbschaften und Schenkungen eine wichtige Rolle. Systembedingt waren Personen in der DDR weniger in der Lage, private Vermögen aufzubauen und an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, als in Westdeutschland.Zudem haben in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung geringere Löhne und eine höhere Arbeitslosigkeit die Vermögensakkumulation eingeschränkt. Entsprechend sind die individuellen Nettovermögen in Ostdeutschland mehr als 25 Jahre nach der Wiedervereinigung mit im Schnitt 55000 Euro nicht einmal halb so groß wie in Westdeutschland mit 121000 Euro.Vgl. Markus M. Grabka und Christoph Halbmeier (2019): Vermögensungleichheit in Deutschland bleibt trotz deutlich steigender Nettovermögen anhaltend hoch. DIW Wochenbericht Nr. 40, 735–745 (online verfügbar). Diese Unterschiede machen sich auch bei den intergenerationalen Transfers bemerkbar (Abbildung 5). Menschen in den ostdeutschen Bundesländern erhalten nicht nur seltener Erbschaften und Schenkungen als Westdeutsche. Auch die Summen sind in Ostdeutschland deutlich kleiner. So betragen beispielsweise die Erbsummen in Westdeutschland für den Zeitraum 2002 bis 2017 im Schnitt rund 92000 Euro, während es in Ostdeutschland nur 52000 Euro sind. Vergleichbare Ergebnisse finden sich für die Schenkungssummen mit rund 94000 Euro beziehungsweise 58000 Euro.
Soziale Ungleichheit wird auf vielfältige Art und Weise von den Eltern auf ihre Kinder übertragen. Materielle Transfers in Form von Erbschaften und Schenkungen können dabei maßgeblich die soziale Position der nachfolgenden Generation beeinflussen. Die Wirkung von Erbschaften und Schenkungen auf die Vermögensungleichheit ist wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Debatten.Vgl. z.B. Harald Künemund und Claudia Vogel (2008): Erbschaften und ihre Konsequenzen für die soziale Ungleichheit. In: Harald Künemund und Klaus R. Schroeter (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter – Fakten, Prognosen und Visionen. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 221–231 (online verfügbar); Martin Kohli und Harald Künemund (2009): Verschärfen oder verringern Erbschaften die soziale Ungleichheit? In: Sylke Nissen und Georg Vobruba (Hrsg.): Die Ökonomie der Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 95–107; Maximilian Stockhausen (2020): Erbschaften und Schenkungen reduzieren die Vermögenskonzentration. IW-Kurzbericht Nr. 73; Edward N. Wolff and Maury Gittleman (2014): Inheritances and the distribution of wealth or whatever happened to the great inheritance boom? The Journal of Economic Inequality, 12, 439–468. Dabei wird einerseits argumentiert, dass Erbschaften und Schenkungen ungleich verteilt sind und hierbei vor allem einkommensstarke oder bereits vermögende Personen häufiger und auch höhere Summen erben oder geschenkt bekommen. Andererseits wird argumentiert, dass intergenerationale Transfers eine dämpfende Wirkung auf die Vermögensungleichheit haben, etwa wenn hohe Vermögen von wenigen – vorwiegend älteren – Menschen durch Erbschaften und Schenkungen an mehrere junge Menschen mit geringeren Vermögen verteilt werden. Diese unterschiedlichen Befunde erklären sich daraus, dass ihnen unterschiedliche Konzepte von relativer und absoluter Ungleichheit zugrunde liegen.
Um den Einfluss intergenerationaler Transfers auf die Ungleichheit der individuellen Nettovermögen zu analysieren, werden zwei Gruppen gebildet: Die erste Gruppe umfasst diejenigen, die Transfers erhalten haben; die zweite Gruppe geht leer aus. Zudem werden zwei Zeitpunkte betrachtet und zwar die Jahre 2012 und 2017. Es werden nur Transfers berücksichtigt, die zwischen diesen Zeitpunkten geflossen sind, so dass dadurch die Vermögensverteilung vor und nach dem Erhalt von Transfers beschrieben werden kann.
Werden die VermögensquintileQuintile erhält man, indem man die Bevölkerung nach der Höhe des Nettovermögens sortiert und in fünf Gruppen unterteilt. Die Vermögensquintile wurden auf das Jahr 2012 fixiert. des Jahres 2012 betrachtet, ergibt sich folgendes Bild: Nur zwei Prozent des ärmsten Fünftels der Bevölkerung erhalten demnach im Zeitraum 2012 bis 2017 solche Transfers (Abbildung 6). Diese Quote steigt weiter auf rund sechs Prozent im dritten Quintil bis hin zu knapp acht Prozent im obersten Fünftel. Zudem unterscheiden sich die erhaltenen Summen zwischen den Quintilen. Im ersten Quintil fällt die Höhe der erhaltenen Transfers mit 10000 Euro am geringsten aus. In den mittleren Quintilen schwankt der jeweilige Median zwischen 21000 Euro und knapp 40000 Euro.
Im obersten Quintil steigt der Wert um das mehr als Dreifache auf 145000 Euro. Die Durchschnittswerte liegen bis auf das oberste Quintil mit rund 126000 Euro deutlich über den Medianwerten.
Dies bedeutet, dass Personen aus dem obersten Quintil nicht nur häufiger intergenerationale Transfers erhalten, sondern dass auch die geerbten oder geschenkten Beträge deutlich höher als in den anderen Quintilen sind.
Zur Beschreibung der relativen Vermögensungleichheit wird der Gini-Koeffizient herangezogen. Je höher der Wert zwischen 0 und 1, desto höher ist die gemessene Ungleichheit (Tabelle 2). In der Vergleichsgruppe der Personen ohne Transfers liegt der Gini-Koeffizient vor dem Erhalt von Erbschaften bei 0,785. Fünf Jahre später beläuft sich dieser Wert auf 0,764. Die Vermögensungleichheit in dieser Vergleichsgruppe ist also leicht gesunken. Anders verhält es sich mit den TransferempfängerInnen. Bei diesen sinkt die ohnehin geringere Vermögensungleichheit mit knapp sechs Prozent um mehr als das Doppelte. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,607 (nach 0,644) bleibt die Verteilung der individuellen Nettovermögen der ErbInnen nach Erhalt der Transfers damit deutlich homogener als bei den NichterbInnen. Mit Erhalt von Transfers nimmt die relative Ungleichheit also ab.
Gini-Koeffizient auf einer Skala zwischen 0 und 1
Relative Ungleichheit | ||
---|---|---|
Gini | Veränderung in Prozent | |
Personen mit Transfers | ||
2012 (vor Transfer) | 0,644 | |
2017 (nach Transfer) | 0,607 | −5,8 |
Personen ohne Transfers | ||
2012 | 0,785 | |
2017 | 0,764 | −2,6 |
Anmerkungen: Erwachsene Personen in Privathaushalten, Vermögensinformationen mit 0,1-prozentigem Top-Coding, Informationen der Jahre 2012 und 2017.
Quelle: SOEP v35.
Zur Messung der absoluten Vermögensungleichheit werden Vermögensdifferenzen zwischen der Gruppe der TransferempfängerInnen und derjenigen ohne Erhalt von Transfers gebildet. Dabei werden sowohl der Mittelwert als auch verschiedene PerzentilePerzentile erhält man, indem man die Personen nach der Höhe des Nettovermögens sortiert und in 100 Gruppen einteilt. Ein Perzentil gibt somit an, welcher Anteil der Verteilung über oder unter diesem Messwert liegt. der gruppenspezifischen Verteilung herangezogen (Abbildung 7). Hier zeigt sich ein anderes Bild: Die Vermögensdifferenz zwischen Personen mit und ohne Transfererhalt beträgt im Jahr 2012 durchschnittlich rund 41000 Euro. Sie steigt um mehr als das Doppelte auf 110000 Euro nach Erhalt von Erbschaften und Schenkungen.
Bei einer genaueren punktuellen Betrachtung der Verteilung mithilfe von Perzentilen zeigt sich, dass sich die Vermögensdifferenz an verschiedenen Stellen der Vermögensverteilung unterschiedlich stark verändert. Beispielsweise verdreifacht sich beim 90. Perzentil die Vermögensdifferenz zwischen den beiden Vergleichsgruppen von 71000 Euro im Jahr 2012 auf 245000 Euro im Jahr 2017. Durch die Erbschaften und Schenkungen fällt somit der Vermögenszuwachs bei den TransferempfängerInnen erheblich größer aus und deren Position in der Verteilung verbessert sich.
Die absolute Vermögensungleichheit nimmt also zu, auch wenn sich die relative Ungleichheit, wie sie der Gini-Koeffizient widerspiegelt, abschwächt. Eine Erbschaft in Höhe von beispielsweise 5000 Euro bei einem Ausgangsvermögen von 10000 Euro bedeutet eine relative Vermögensveränderung von 50 Prozent. Wird dagegen eine Erbschaft in Höhe von 40000 Euro bei einen Ausgangsvermögen von 200000 Euro bezogen, so macht die relative Bedeutung des Transfers nur 20 Prozent aus. Die relative Bedeutung selbst von kleinen Transfers ist damit am unteren Ende der Vermögensverteilung vergleichsweise groß, was insgesamt die relative Ungleichheit sinken lässt. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die absolute Ungleichheit zwischen den beiden Personen zunimmt, da die Vermögensdifferenz um 35000 Euro steigt. Beide Effekte – Reduktion der Ungleichheit und Verschärfung der Ungleichheit – sind also gleichzeitig möglich, je nach Betrachtung der absoluten oder der relativen Ungleichheit.Siehe hierzu ausführlich Martin Kohli et al. (2006): Erbschaften und ihr Einfluss auf die Vermögensverteilung. Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 1/2006, 58-76; Thomas Lux et al. (2010): Einfluss von Erbschaften auf die Vermögensverteilung. In: Claudia Vogel, Harald Künemund und Uwe Fachinger (Hrsg.), a.a.O. Doch im täglichen Leben ist für den einzelnen die Höhe der Transfers und damit die absolute Ungleichheit aussagekräftiger und entscheidender.
Da sich die beiden Vergleichsgruppen vor allem im Hinblick auf das Alter unterscheiden, wird im Folgenden der Effekt von Erbschaften und Schenkungen auf die Vermögensungleichheit für zwei ausgewählte Geburtskohorten beschrieben. Dies sind zum einen Personen, die sich bereits im Rentenalter befinden (Geburtskohorte der zwischen 1935 und 1950 Geborenen) und zum anderen rentennahe Personen mit den Geburtsjahren 1951 bis 1966 (Tabelle 3).
Gini-Koeffizient auf einer Skala zwischen 0 und 1 und in Euro für ausgewählte Kohorten
Kohorte (1935–1950) | Relative Ungleichheit | Absolute Ungleichheit | ||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Individuelles Nettovermögen in Euro | Vermögensdifferenz zwischen Personen mit und ohne Transfers | |||||||||||
Gini | Veränderung in Prozent | Durchschnitt | 25. Perzentil | 50. Perzentil (Median) | 75. Perzentil | 90. Perzentil | Durchschnitt | 25. Perzentil | 50. Perzentil (Median) | 75. Perzentil | 90. Perzentil | |
Personen mit Transfers | ||||||||||||
2012 (vor Transfer) | 0,555 | 181265 | 43728 | 120906 | 222297 | 478888 | 46289 | 38579 | 54972 | 58891 | 159423 | |
2017 (nach Transfer) | 0,553 | −0,3 | 234180 | 64225 | 154902 | 323823 | 503843 | 99674 | 60303 | 97353 | 153823 | 182798 |
Personen ohne Transfers | ||||||||||||
2012 | 0,689 | 134976 | 5149 | 65934 | 163405 | 319465 | ||||||
2017 | 0,700 | 1,5 | 134506 | 3922 | 57549 | 170000 | 321045 |
Kohorte (1951–1966) | Relative Ungleichheit | Absolute Ungleichheit | ||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Individuelles Nettovermögen in Euro | Vermögensdifferenz zwischen Personen mit und ohne Transfers | |||||||||||
Gini | Veränderung in Prozent | Durchschnitt | 25. Perzentil | 50. Perzentil (Median) | 75. Perzentil | 90. Perzentil | Durchschnitt | 25. Perzentil | 50. Perzentil (Median) | 75. Perzentil | 90. Perzentil | |
Personen mit Transfers | ||||||||||||
2012 (vor Transfer) | 0,572 | 150320 | 31583 | 100308 | 176708 | 340165 | 47741 | 31583 | 63996 | 49750 | 91586 | |
2017 (nach Transfer) | 0,547 | −4,5% | 208693 | 55932 | 139235 | 257255 | 490196 | 91208 | 55932 | 91593 | 111373 | 201741 |
Personen ohne Transfers | ||||||||||||
2012 | 0,744 | 102579 | 0 | 36312 | 126957 | 248578 | ||||||
2017 | 0,718 | −3,5% | 117485 | 0 | 47642 | 145882 | 288455 |
Anmerkungen: Erwachsene Personen in Privathaushalten, Vermögensinformationen mit 0,1-prozentigem Top-Coding, Informationen der Jahre 2012 und 2017.
Quelle: SOEP v35.
Intergenerationelle Transfers reduzieren die relative Ungleichheit gemessen am Gini-Koeffizienten in der älteren Geburtskohorte deutlich weniger als in der jüngeren. Differenzierter ist das Bild für die absolute Vermögensungleichheit. Zunächst beträgt die Vermögensdifferenz zwischen der Gruppe mit und ohne Transfer sowohl in der älteren Kohorte als auch in der jüngeren Kohorte durchschnittlich jeweils rund 47000 Euro.
Bis zum Jahr 2017 wächst die Vermögensdifferenz zwischen denjenigen, die Transfers erhalten haben, und denjenigen ohne Transfers deutlich an – bei der älteren Kohorte allerdings mit 53000 Euro etwas stärker als bei der jüngeren Kohorte mit 43000 Euro (Abbildung 8). Der Zuwachs der absoluten Vermögensungleichheit ist in der älteren Kohorte auch dann stärker als in der jüngeren Kohorte, wenn als robustes Maß zur Bestimmung des Vermögens der Median herangezogen wird.
Zehn Prozent aller Erwachsenen in Deutschland haben in den vergangenen 15 Jahren eine Erbschaft oder größere Schenkung erhalten. Dabei sind intergenerationale Transfers ähnlich ungleich verteilt wie die Nettovermögen. Möchte man die absolute Ungleichheit, die durch Erbschaften und Schenkungen noch mal verstärkt wird, reduzieren, wäre es möglich, das Steuerrecht in Bezug auf Erbschaften und Schenkungen zu reformieren.So hatten im Jahr 2017 die Erbschaft- und Schenkungsteuern am gesamten Steueraufkommen einen Anteil von 0,83 Prozent, vgl. Bundesministerium für Finanzen (2020): Steuereinnahmen nach Steuerarten 2010–2017 (online verfügbar).
Große Erbsummen – da sie häufig von bereits vermögenden Personen empfangen werden – verschärfen die absolute Ungleichheit der Vermögen. Zu hohe Freibeträge begünstigen diese Entwicklung. Insofern könnte die Ausgestaltung dieser Freibeträge überdacht werden. Allerdings bleibt dabei zu berücksichtigen, dass derzeit verschiedene Vermögensbestandteile (wie Immobilien, Unternehmen oder Geldvermögen) unterschiedlich steuerlich bewertet werden.
Würden große und sehr große Erbschaften effektiver besteuert, ergäbe sich Spielraum, Freibeträge für nicht oder entfernt verwandte Personen anzuheben, die derzeit sehr viel niedriger sind als für EhepartnerInnen oder leibliche Kinder (zum Beispiel für nichteheliche Lebenspartnerinnen oder Lebenspartner, für Kinder der Partnerinnen oder Partner, die nicht die eigenen sind, für Nichten und Neffen oder für Wahlverwandte aus dem Freundeskreis und der Nachbarschaft). Dies würde nicht nur der neuen Vielfalt der Familienformen entsprechen, sondern auch zusätzlich die soziale Ungleichheit reduzieren.Zudem ist zu beachten, dass fixe Freibeträge regionale Preisunterschiede – wie dies bei Immobilien der Fall ist – nicht berücksichtigen, so dass je nach Region ErbInnen und Beschenkte davon unterschiedlich stark profitieren.
Auch zu überdenken wäre die Zehnjahresfrist, die es ermöglicht, die Freibeträge im Abstand von zehn Jahren wiederholt in Anspruch zu nehmen. Diese eignet sich vor allem für Personen mit sehr großen Vermögen, um über einen längeren Zeitraum Vermögen weitgehend steuerfrei zu übertragen.Dies wird offensichtlich an einem einfachen Rechenbeispiel: Jedes Elternteil kann bis zu 400000 Euro steuerfrei an ein Kind alle zehn Jahre übertragen. Leben die Großeltern noch, so können diese weitere jeweils 200000 Euro alle zehn Jahren an das Enkelkind verschenken. Bereits bis zum 10. Lebensjahr kann somit ein Kind bis zu 1,6 Millionen Euro steuerfrei erhalten. Werden die Freibeträge im folgenden Lebensjahrzehnt noch einmal genutzt, stehen dem Kind im 21. Lebensjahr 3,2 Millionen steuerfrei an Vermögen zur Verfügung. Sicher werden solche Fälle selten sein, aber die generelle Problematik lässt sich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen: Ein durchschnittlicher vollzeitbeschäftigter männlicher lediger Arbeitnehmer in Westdeutschland hat im Jahr 2019 einen Nettoverdienst von 34416 Euro. Bei einer durchschnittlichen Sparquote von zehn Prozent benötigte er knapp 930 Jahre, um auf ein vergleichbares Nettovermögen von 3,2 Millionen Euro (ohne Zinseszinseffekte und ohne Wertsteigerungen) zu kommen. Würde die Zehnjahresfrist aufgehoben, könnten damit die Freibeträge pro ErblasserIn/SchenkerIn nur einmal im Leben in Anspruch genommen werden und die Transfers würden effektiver besteuert. Dies könnte auch der hohen Staatsverschuldung durch die Hilfsmaßnahmen in der Corona-Pandemie entgegenwirken.
Themen: Verteilung, Ungleichheit
JEL-Classification: D64;D31;I31
Keywords: inheritance, bequest, financial transfers, inequality, SOEP
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-5-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/231712